Mittwoch, 13.November 2019∙Nr. 264∙240.Jg. AZ 8021Züri ch∙Fr. 4.90 ∙€4.
Ständeratswahlen: Zürich muss mit einer bürgerlich-liberalen Stimme vertreten sein Seite 12
Die SP kämpft gegen
den Niedergang
Auch in Levrats Ära verloren die Genossen Wähler
Christian Levrat hat die SP
als Präsident stark geprägt,
nun tritt er ab. Seine Nachfolgerin
steht vor einer schwierigen
Aufgabe: Sie muss definieren,
wie die Sozialdemokratie
der Zukunft aussehen soll.
SIMON HEHLI
Christian Levratgibtdas SP-Präsidium
zu einem ungünstigen Zeitpunkt ab: So
schlecht wie bei den diesjährigenWah-
len hat diePartei seit Einführung des
Proporzsystems 1919 nie abgeschnitten.
Der langjährige SP-Chef betont, sein
Rücktritt imFrühling 2020 sei schon län-
ger festgestanden und habe nichts mit
demResultat vom 20. Oktober zu tun.
Doch bei der Neubesetzung derPartei-
spitze werden die Genossen nicht um die
Frage herumkommen, was bei denWah-
len schiefgelaufen ist und ob diePartei für
die Zukunft richtig aufgestellt ist.
Dass sich die SP im Links-rechts-
Schema neu positionieren wird, ist dabei
eher nicht zuerwarten. Dies, obwohl der
Zürcher Ständerat DanielJositsch eine
Stärkung desrechtenParteiflügels ver-
langt, etwa durch eine fixeVertretung im
Präsidium.Jositsch begründet dieseFor-
derung mit dem Umstand, dass einTeil
der SP-Wähler zu den Grünliberalen ge-
wechselt habe. Die GLP sei spätestens mit
ihrem proeuropäischen Bekenntnis zur
Alternative für Sozialliberale geworden.
Der Gewerkschaftsflügel, der für
die skeptische Haltung der SP gegen-
über einemRahmenvertrag mit der EU
verantwortlich ist, musste bei denWah-
len zwarFedern lassen.Aber auch die
Reformgruppe istwegenRücktritten
empfindlich geschrumpft.
Die Juso wollennach links
In die andere Richtung ziehen wollen die
Juso, die im NationalratVerstärkung von
Ex-PräsidentinTamaraFuniciello erhal-
ten. Deren NachfolgerinRonjaJansen
findet, die SP sei zu stark in die Mitte ge-
rückt. Mit einer «lauwarmenPolitik der
Kompromisse»könne man die Menschen
nicht begeistern. Und auch der Ex-Juso-
ChefFabian Molina will in seiner Ana-
lyse derWahlpleite nichts von Pragma-
tismus wissen: Die SP müsse weiterhin
gross denken.«Wer der Sozialdemokra-
tie dieRolle der gutenVerwalterin zu-
schreibt, schaufelt ihr Grab.» Molina will
lieber die«Wirtschaftsweise transformie-
ren», um das Klima zuretten.
Co-GeneralsekretärinRebekkaWyler
glaubt jedoch nicht, dass es dieJungsozia-
listen schaffen werden, diePositionierung
der SP– die im europäischenVergleich
schonrelativ weit links steht – zu verän-
dern. «Sie verkaufen sich gut.Aber sie
bleiben eine Minderheit in derPartei.»
Das zeige sich beispielsweise daran, dass
derWiderstand derJuso gegen dieRen-
tenreform 2020 und dieAHV-Steuer-Vor-
lage parteiintern chancenlos geblieben sei.
Doch auch ohne grundsätzlicheKor-
rektur despolitischenKurses sehenSP-
SchwergewichteHandlungsbedarf. Weit-
gehend einig sind sich alle in einem Punkt:
Viele bisherige SP-Wähler seien zu den
Grünen übergelaufen, weil sie zwar die
Positionen derbeidenParteien für weitge-
hend austauschbar hielten, aber dem Öko-
thema besonderes Gewicht geben wollten.
Die ZürcherRegierungsrätinJacqueline
Fehr spricht sich jedoch dagegen aus, die
Grünen alsKonkurrenten zu sehen.
Die SP habe sich auf ihre zweiKern-
aufgaben zu fokussieren: Sie müsse einer-
seits Errungenschaften wie sichereRen-
ten oder Lohnschutz verteidigen, sich
andererseits aber auch für weiterenFort-
schritt einsetzen. Ein solches «progressi-
ves Manifest» nachFehrs Gusto würde
die Einführung des Stimmrechtsalters
16, die Individualbesteuerung,flächen-
deckendeTagesschulen und bezahlbare
Kita-Plätze oderdie Cannabis-Legalisie-
rung umfassen.Damit die Botschaften
beimVolk auch ankämen, müssten sich
die künftigen Kampagnen noch stärker
an den neuen medialen Möglichkeiten
orientieren und mehrTeilhabemöglich-
keiten anbieten.
Ähnlich sieht das NataschaWey, die
Präsidentin der SP-Frauen.Sie kritisiert,
dass LevratsHauptbotschaft imWahl-
kampf – «Dierechte Mehrheitmuss ge-
brochen werden!» – der SP nicht geholfen
habe, sich von den Grünen abzugrenzen.
Ausserdem haben es die Sozialdemokra-
tenaus ihrer Sicht verpasst, den Dialog
mit den beiden grossen sozialen Bewe-
gungen Klima- undFrauenstreik vertieft
zu führen.Wey hofft deshalb,dass die
Gleichstellung für die künftigePartei-
spitze zum zentralenThema wird.
NationalrätinJacquelineBadran setzt
die Prioritäten anders: Sie kritisiert im
«Sonntags-Blick» dieFokussierung der
Partei auf Sexismus undPolitical Cor-
rectness. Stattdessen brauche esden Um-
bau desWirtschaftssystems «hin zu einer
postkapitalistischen Gesellschaft, die
nicht mehr demWachstumszwang unter-
worfen ist».
Frauensind an der Reihe
Die neueSP-Rennleitung steht vor der
Herausforderung,die unterschiedlichen
Ansprüche zu vereinen und einen noch
heftigeren Niedergang zu verhindern, wie
ihn die Schwesterparteien inFrankreich
oder Deutschland erleben. Ziemlich klar
ist, dass die Delegierten nachJahren der
Dominanz durch männlicheRomands
dieseAufgabe einer Deutschschweizer
Frau übergeben werden. Infragekommen
die NationalrätinnenBarbara Gysi, Min
Li Marti, Mattea Meyer oder FlaviaWas-
serfallen, die Bernerin Nadine Masshardt
hat bereits abgesagt. Doch auch ein Co-
Präsidium ist einerealistische Option.Das
könnte die Chance sein für CédricWer-
muth oderJon Pult, die beide schon länger
als Anwärter auf den Spitzenjob gelten.
Evo Morales’ Flucht endet in Mexiko
In Bolivien besteht nach dem Rücktritt des Präsidenten weiterhin ein po litisches Vakuum
smi.·Der zurückgetretene bolivianische
Präsident Evo Morales ist in Mexikoein-
getroffen. Ein Flugzeug der mexikani-
schen Luftwaffe mit Morales an Bord
landeteam Dienstag am Flughafen von
Mexiko-Stadt.Das Flugzeug hatte ihn am
Montagabend in Bolivien abgeholt.Weil
es Probleme gab,Überflug- undLande-
erlaubnisse verschiedener Staaten zu be-
kommen, machte das Flugzeug laut dem
mexikanischenAussenminister Marcelo
Ebrard eine «Odysseedurch diePoli-
tikLateinamerikas». Die mexikanische
Regierunghatte Morales nach seinem
RücktrittAsyl angeboten, weil sein Leben
in Bolivien in Gefahr sei. Morales sagte
nach derLandung, er sei durch Einschüch-
terung zumRücktritt gezwungen worden.
In Bolivien demonstrierten Anhän-
ger von Morales zunächst friedlich. Nach
demRücktritt des Präsidenten war es zu
schwerenAusschreitungenund zu Zu-
sammenstössen vonRegierungsanhän-
gern und Oppositionellen gekommen.
Allein imRegierungssitzLaPaz und in
der Schwesterstadt El Alto wurden min-
destens zwanzigPersonen verletzt. An-
hänger derRegierungspartei Movimiento
al Socialismo (MAS) setzten unter ande-
rem mehrerePolizeiposten und Busse in
Brand. DiePolizei und die Armee bekun-
deten Mühe, die Gewalt einzudämmen.
Wie es in Bolivien nach demRücktritt
von Morales politisch weitergehen würde,
war am Dienstag noch immer unklar.
Laut derVizepräsidentin des Senats, Jea-
nine Áñez, sollten beideParlamentskam-
mern zu einer ausserordentlichen Session
eintreffen, um eine Übergangspräsiden-
tin zu ernennen. Áñez hatte sich bereit
erklärt, das Amt zu übernehmen. Es war
aber zunächst unklar, ob dieRegierungs-
partei MAS, diebeide Kammernkontrol-
liert, an der Session teilnehmen würde.
International, Seite 5
Levrat tritt zurück
Misslungene Reform:Levrat formte
die SP zur Blockadepartei. Seite 11
Nachfolge:Wersind dieFavoriten
fürs SP-Präsidium? Seite 13
JOËL HUNN / NZZ
Der Berg
bröckelt
Der Klimawandel bringt denPermafrost in den Schweizer Alpen zum Schmelzen.
Wodas vermeintlich ewige Eis schwindet, wird das Gestein instabil.Das Risiko von
Bergstürzen und Schlammlawinen steigt.EngadinerGemeindenbegegnen der zu-
nehmenden Bedrohung auf unterschiedlicheArten. Zu Besuch im Schweizerischen
NationalparkinZernez und inPontresina. Schweiz, Seite14,
Redaktion und Verlag: Neue Zürcher Zeitung, Falkenstrass e 11, Po stfach, 8021 Zürich , Telefon: +4144 2581111,
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