Neue Zürcher Zeitung - 13.11.2019

(Barry) #1

10 MEINUNG & DEBATTE Mittwoch, 13. November 2019


ELENA ANOSOVA / MAPS

FOTO-TABLEAU

Leben am Rand


der Gegenwart 3/


Vor bald dreihundertJahren zogen Elena Anosovas
russischeVorfahren gen Norden ins mittelsibirische
Gebirge. Seit Generationen hatten sie von derJagd
gelebt und waren gewohnt, sich auf unwirtlichem
Terrain zu bewegen; in dieser Gegend, nahe dem
Flusslauf der UnterenTunguska, liessen sie sich
nieder. «Sie lebten als Grossfamilie in einem Haus,
mit mehr als fünfzehn Kindern», schreibt die
Fotografin.«Sie assimiliertensich an das indigene
Volk der Ewenken. Heute leben in dem Dorf, das
sie gründeten, etwa hundert Erwachsene, und alle
sind entfernt miteinander verwandt.Das Leben hier
hat sich durch dieJahrhunderte kaum verändert;
die moderne Zivilisation dringt nur langsam und
bruchstückhaft in diese abgelegene, von unberührter
Wildnis umgebene Gegend vor.» Die nächstgelegene
Stadt ist 300 Kilometer entfernt, undAutos verkehren
hier praktisch nicht. Eine mit Schneemobilen
befahrbare Strasse gibt es lediglich für knapp
drei Monate imWinter; im Sommer sind Boote
ein wichtigesVerkehrsmittel, während man für
weitere Strecken auf dieraren Helikopterflüge
angewiesenist.

Ambivalenzen des Populismus


Die offene Gesellschaft tut sich schwer

mit moralisch aufgeladenen Wertekonflikten

Gastkommentar
von FRANK DECKER


Was unterPopulismus im Allgemeinen undRechts-
populismus im Besonderen zu verstehen sein soll,
darüber scheiden sich sowohl im politischen und
im Alltagssprachgebrauch als auch in derWissen-
schaft die Geister. In derWissenschaft werden in
der Regel die folgenden drei Merkmale genannt:
Als erstes Merkmalkennzeichnet denPopulismus
die radikale Kritik an den gesellschaftlichen und
politischen Eliten, denen derVorwurf gemacht
wird, dass sie die Interessen und Meinungen des
Volkes systematisch missachteten und hintergin-
gen. Damit verbunden ist als zweites Merkmal die
Behauptung derPopulisten,sie und nur sie selbst
wüssten, was der wahre, eigentlicheVolkswille sei,
und nur sie verträten diesen.Daraus wiederum
wird als drittes Merkmal insbesondere desrechten
Populismus einVerständnis vonVolk abgeleitet,
das dieses als kulturell oder sogar ethnisch homo-
gene Einheit begreift. DerPopulismus negiere da-
mit die tatsächliche Meinungs- und Interessenviel-
falt der Gesellschaft, sei mithin seinemWesen nach
«antipluralistisch».


HeterogenesPhänomen


Gegen alle drei Zuschreibungen lassen sich Ein-
wände vorbringen, die deutlich machen, dass es
sich beimPopulismus umein heterogenes und zum
Teil widersprüchliches Phänomen handelt. So darf
zum Beispiel die Anti-Establishment-Orientie-
rung nicht so verstanden werden, als ob derPopu-
lismus Eliten und dieRealität der Elitenherrschaft
als solche ablehnt. Einerseits stammen populisti-
sche Akteure häufig selbst aus den Eliten, oder
sie waren beziehungsweise sind einTeil der poli-
tischen Klasse,andererseits geht es ihnen ja ge-
rade darum, die herrschenden Eliten zu verdrän-
gen und sich selbst an deren Stelle zu setzen.Wo
ihnendieses gelingt, sind sie dann zwangsläufig ge-
nötigt,Teile ihrer Herrschafts- oderSystemkritik
abzustreifen, was ihnen bei den eigenen Anhän-
gernSympathienkosten könnte.
In Bezug auf das zweite Merkmal muss bedacht
werden, dass es sich bei der – zugegebenermassen
anmassenden – Berufung auf den wahrenVolks-
willen auch um eine rhetorische Übertreibung han-
deln könnte.Dass Parteien für sichreklamieren,sie
verträten die «richtige» und ihre politischenKon-
trahenten eine «falsche»Konzeption des Gemein-
wohls, gehört in einer Demokratie zu den normalen
Begleiterscheinungen des politischenWettbewerbs,
der ja auch dem Ziel dienen soll,klare Alternativen


herauszuarbeiten und demWähler eineWahl zwi-
schen diesen Alternativen zu ermöglichen.
Wenn man sich daran erinnert, mit welcher
Schärfe und ausgrenzenden Rhetorik die deut-
schen Christ- und Sozialdemokraten einander in
den siebzigerJahren bekämpft haben(«Ih re Repu-
blik ist nicht unsereRepublik»), kommt einem der
Unterschied zu der Agitation der heutigenRechts-
populisten nicht sonderlich gross vor. Dennoch
würde niemand bezweifeln, dass es sich bei Hel-
mut Schmidt,Franz Josef Strauss und HelmutKohl
um überzeugte Demokraten gehandelt hat.

Vorletzte oder letzte «Wahrheitsfragen»


Auch dieThese, der Populismus sei per se antiplu-
ralistisch und antiliberal (und damit antidemokra-
tisch), greift zu kurz.Populismusstelltkeine mil-
dereForm oderVorstufe des Extremismus dar,
auch wenn er – wie das deutsche Beispiel zeigt –
mit einer extremistischenAusrichtung zusammen-
gehen kann. Die AfD vertritt zum Beispiel in der

Wirtschafts- und Sozialpolitiküberwiegend markt-
liberalePositionen, was sie von den meisten ihrer
Schwesterparteien in den anderen europäischen
Ländern unterscheidet.Auch in wertebezoge-
nen und gesellschaftspolitischenFragen treten die
Rechtspopulisten nicht durchweg antiliberal auf.
GeertWilders hat mit der Gleichste llung der
Frau und denRechten sexueller Minderheiten
ebenso wenig ein Problem wie Marine LePen.
Dass sie diese liberalenWerte gegen die vermeint-
liche kulturelleRückständigkeit der muslimischen
Zuwandererbevölkerung instrumentalisieren, mag
man als doppelbödig oder sogar heuchlerisch kriti-
sieren, ändert aber nichts an dem Sachverhalt.Was
den Linkspopulismus angeht, trifft die Charakteri-
sierung als antipluralistisch noch viel weniger zu,
steht dieser doch auch in der Zuwanderungs- und
Migrationspolitik mehrheitlich für offene, liberale
Positionen.
Die Entstehung und der wachsendeWählerzu-
spruch derRechtspopulisten werden von derWis-
sen schaftvor allem darauf zurückgeführt,dass wer-
tebezogene, gesellschafts- und identitätspolitische
Fragen in der heutigen Gesellschaft gegenüber den
klassischen verteilungsbezogenenAuseinander-
setzungen an Bedeutung gewonnen hätten.
HierliegteinewichtigeErklärungfürdiegewach-
senePolarisierung.Wertekonflikte sind im Unter-
schied zuVerteilungskonflikten moralisch hoch auf-
geladen und als vorletzte oder letzte«Wahrheits-
fragen» nur bedingtkompromissfähig. In den USA
lässt sich dieser Rigorismus etwa bei den militanten
Abtreibungsgegnern beobachten,in Europa bei den
«Skeptikern» der Zuwanderung (und–neuerdings


  • bei denVerfechtern einesstrengenKlimaschut-
    zes) .Wer in der Abtreibung einenVerstoss gegen
    das göttlicheRecht sieht oder wer glaubt, dass ein
    Land sich durch die Zuwanderung aus fremdenKul-
    turkreisen selbst «abschafft», wird denen, die Ab-
    treibungen zulassen und die Zuwanderung ermög-
    lichen, wenigToleranz entgegenbringen.
    Der politische Gegner gerät so leicht zumFeind,
    dem man die moralische Integrität und damit zu-
    gleich die demokratische Legitimität grundsätzlich
    abspricht. Ein solcherFeind gehört nicht nur be-
    kämpft, sondern muss ausgeschaltet werden.Da-
    für si nd dann auch undemokratische oder ungesetz-
    liche Mittelrecht.
    Solange die Herausforderer in der Oppositions-
    rolle verharren und ihre Unterstützung eine be-
    stimmte Schwelle nicht erreicht, mögen die demo-
    kratiefeindlichen Gesinnungenkeine ernsthafte
    Bedrohung darstellen. Gelangen diePopulisten
    jedoch selber an die Macht,könnten sie versucht
    sein,ihren autoritären Neigungen nachzugeben und


die Ausserkraftsetzung der demokratischen Spiel-
regeln tatsächlich zu betreiben.
Dass solche Befürchtungenkeineswegs aus der
Luft gegriffen sind, zeigen die Entwicklungen in
Ungarn undPolen – im merhin beide Mitglieder der
Europäischen Union. Um der Gefahr einer demo-
kratischenRegressionvorzubeugen,ist es deshalb
wichtig, zum einen die Ursachen des populisti-
schenWählerprotests zu verstehen und durch ent-
sprechende Gegenmassnahmen anzugehen. Zum
anderen gilt es inder Auseinandersetzu ng mit
den potenziellen Demokratiefeinden die richtigen
Rezepte zu finden.
Gerade Letzteres birgt freilich einschwieri-
ges Dilemma. Denn grenzt man dieParteien oder
Akteure, die auf dem Kriegsfuss mit demokrati-
schen Prinzipien oderVerhaltensweisen stehen,
allein deshalb aus dem politischen Diskurs aus,
grenzt man ja nicht nur derenWähler gleichzeitig
aus, sondern auch diejenigen kritischen bis fun-
damentaloppositionellenPositionen, die bei aller
Übertreibungund Zuspitzung auf möglicherweise
bedenkenswerten Argumenten beruhen.

Was alles soll politischerlaubt sein?


Der an dieAdresse des linksliberalen Mainstreams
gerichteteVorwurf,dass dieser seinerseits Denk-
verbote errichte und bestimmteThemen, Positio-
nen oder Sprechweisen aus dem Meinungsstreit
verbannt sehen möchte, hat durchaus Berechti-
gung. Das betrifft die Minderheitenpolitiken im
Allgemeinen und die Migrationspolitik im Beson-
deren. Der deutsche AltbundespräsidentJoachim
Gauck dürfte mitseiner Forderung nach einer «Er-
weiterung derToleranz in Richtungrechts» genau
das gemeint haben – und nicht eineVerschiebung
der Grenzlinien zwischeneinem noch demokra-
tie konformenPopulismus und einem systemfeind-
lichen Extremismus, die manche Kritiker in seinen
Äusserungen anschliessend erblicken wollten.
In derAuseinandersetzung mit demRechts-
populismus wird es vor allem darauf ankommen,
dieseTrennlinie zwischen legitimem politischem
Meinungsstreit und Missachtung des demokrati-
schenWerte- undVerfahrenskonsenses so zu zie-
hen,dass die Herausforderer es sich nicht ohne Not
in einer Opferrolle bequem machen. Nur sokönnen
die von denPopulistenauf gegriffenen Probleme in
ihrer tatsächlichen Substanz erkanntund politisch
bearbeitet werden.

FrankDeckerist Professor für Politologie an der rheini-
schen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. 2017 ist bei
Kohlhammer ersc hienen: «Rechtspopulismus».

Populismus stellt keine


mildere Form oderVorstufe


des Extremismus dar,


auch wenn er mit einer


extremistischen Ausrichtung


zusammengehen kann.

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