Neue Zürcher Zeitung - 13.11.2019

(Barry) #1

12 MEINUNG & DEBATTE Mittwoch, 13. November 2019


Die Minischweiz


braucht


einen liberalen


Botschafter


Stadt, Agglomeration, Land – statistisch ist der Kanton Zürich


die Schweiz im Kleinmassstab.Gerade wegen seiner Viel falt


und seines Gewichts muss er auch mit einer bürgerlich-liberalen


Stimme im Ständerat vertreten sein.Von Reto Flury


Die Zürcherinnen und Zürcher stehen am17.Novem-
ber vor einer Richtungswahl. Es geht nicht nur um
zweiPersönlichkeiten, nicht nur um den umwelt-
bewusstenFreisinnigenRuedi Noser und die Grüne
Marionna Schlatter, die von allen Zürcher Kandida-
ten am weitesten links steht. Es geht bei diesem zwei-
ten Ständeratswahlgang um mehr:Hält Zürich am ein-
gesp ielten Konzept einer breit abgestützten Standes-
vertretung fest? Oderentscheidet sich der bürgerliche
Kanton für einkomplett linkslastigesTandem? Eine
Delegation,die ebensoeinseitig wie untypisch wäre?
Wie sehr einDuo aus dem wiedergewählten
SozialdemokratenDanielJositsch und Marionna
Schlatter denRahmen sprengen würde, zeigt ein
Blick zurück. So unterschiedlich ihre Werdegänge
waren,einiges hatten die Ständerätinnen und Stände-
räte der vergangenen 30Jahre doch gemeinsam.
Unter ihnen fand sich zum Beispielkein Vertreter
desTyps Bulldozer – im Gegenteil.Sie hatten in ihrer
Karriere schon viel Erfahrung gesammelt und takti-
schesFingerspitzengefühl bewiesen, um überpartei-
liche Allianzen zu schmieden. Die einen gaben sich
den letzten Schliff im Nationalrat, andere im Zür-
cher Regierungsrat, zum Beispiel Hans Hofmann
oderVerena Diener.
Viel wichtiger aber ist: Stets stammte immer min-
destens ein Zürcher Ständerat aus einerPartei, wel-
che die politische Mitte abdeckte.Seit 1983 hat die
FDPkonstant einen der beiden Sitze inne. Daneben
gab es mit MonikaWeber vomLandesring und mit
der GrünliberalenVerena Diener aber auch zwei
Frauen, die bloss über eine kleine Heimbasis verfüg-
ten, jedoch ein breitesWählerspektrum ansprachen.


Nicht immer aufLinie


Mitglieder vonPolparteien hatten dagegen kaum
je eine Chance–und wenn, waren es nicht gerade
typische Repräsentanten des jeweiligen Partei-
kurses. Weder verkörperte Hans Hofmann damals
die aggressive Propaganda der aufstrebendenSVP,
noch folgt heuteJositsch stets derParteilinie der SP,
was ihmvon manchen Genossen angekreidet wird.
Allerdings ist diese Kritik ziemlich wohlfeil. Denn
es war nicht zuletztJositschs sozialliberale Haltung,
die der Zürcher SP 2015 nach 32Jahren wieder einen
Ständeratssitz eintrug und dem Strafrechtsprofessor
im Oktober eine glanzvolleWiederwahl ermöglichte.
Die Wahl dieserPersönlichkeiten geht zurück auf
die Gesetzmässigkeiten von Ständeratswahlen, die
gemäss einer Binsenwahrheit in der Mitte entschie-
den werden. Entsprechend lesen ambitioniertePar-
teien ihre Kandidaturen jeweils aus. Mit ihrem per-
sönlichen und politischen Profil sollen sie ein mög-
lichst breites Publikum abholen.Dass dieSVP mit
Roger Köppel einenprovokativen Zampano por-
tierte, zeig te, dass seinWahlkampf primär der Mobi-
lisierung der eigenenBasis diente.
Die Profile entsprechen aber nicht nur dem Kal-
kül derParteien. Sie ergeben auch Sinn, wenn man


sich dieAufgaben eines Zürcher Ständerats vor
Augen führt. Er muss zwar nicht den politischen
Willen der Bevölkerung abbilden, dazu gibt es den
Nationalrat. Er sollteaber doch in möglichst viele
Winkel der Gesellschaft blicken und Interessen und
Anliegenkennen, um Mehrheiten zu schmieden.
Banal ist das nicht.Denn statistisch gesehen ist kaum
ein anderer Kanton so vielfältig wie Zürich.
Auf einerrelativ kleinen Flächehat er nichtnur
zwei Grossstädte und dichtbevölkerteAgglomeratio-
nen,sondern auch sehr ländliche Gebiete. Es befinden
sich darinWohlstandszonen wie die Goldküste, aber
auch soziale Brennpunkte. Die Zürcher Bevölkerung
wohnt inWohntürmen,Genossenschaftsbauten oder
Reihenhausquartieren, die Bildungsstättenreichen
vom Kindergarten bis zur international dekorierten
Hochschule. Die Wirtschaft besteht aus global täti-
gen Dienstleistern, einer hochspezialisierten Indus-
trie, traditionellem Gewerbe und jungen Startups –
und der Kanton ist das grössteAnbaugebiet von Bio-
gemüse desLandes. Eine ähnliche «Suisse en minia-
ture» hat sonst nur noch dieWaadt zu bieten.
Man muss sich nicht in allen Milieus bewegen,
als wären sie das eigene.Aber möglichst vielfältige
Kontakte sind vonVorteil für jemanden, der den
Kanton vertreten will und in Subkommissionen

mitunter in äusserst kleinen Grüppchen Gesetze
vorspurt. Und was sich für den einzelnen Stände-
rat sagen lässt, gilt umso mehr für dasDuo. Es muss
nicht die Gesamtbreite des Kantons widerspiegeln.
Doch wenn es einen guten Draht in die grossenLa-
ger und zu den heimischen Behörden hat, kann es
sich effizient und wirkungsvoll für Zürich einset-
zen, obwohl man sonst in vielenFragen uneins ist.
Das haben die vergangenen vierJahre gezeigt.
Wohl stammenDaniel Jositsch undRuedi Noser aus
ganz verschiedenen politischenLagern,und die Dif-
ferenzen sind grösser, als sie manchmal dargestellt
werden.Da sie sich aber in grösseren oder kleineren
Zürcher Fragen einig sind,konnten sie viel beeinflus-
sen und bewirken. So zum Beispiel beim verbesser-
ten Schutz jüdischer Einrichtungen,der einigen Insti-
tutionen in Zürich zugutekommt, oder beimBau des
vierten Gleises imBahnhof Stadelhofen.
Geholfen haben dem Zürcher Ständeratsduo
neben einer gemeinsamenWellenlänge auch die
Kräfteverhältnisse im Ständerat. SP und FDP ver-
fügten über eine knappe Mehrheit.Das reicht zwar
nicht für grosse, tragfähigeKompromisse, und zudem
dürfte es mit dieserKonstellation vorbei sein.Wahr-
scheinlich werden sie nach denrestlichen zweiten
Wahlgängen nicht mehr auf gleich viele Sitzekom-
men, vor allem wegen der SP-Verluste.Doch weiter-
hin dürfte gelten, dass es schon fast die halbe Miete
ist, wenn mandiese beidenParteien überzeugt.
Wie Noser undJositsch ihr Gewicht zugunsten
von Zürich in dieWaagschale legten, zeigte sich bei-
spielhaft bei der AHV-Steuer-Vorlage. Dank Noser
gelang das schwierige Unterfangen, den wichtigen,
aber verpönten Zinsabzug auf Eigenkapital wieder
im Gesetz unterzubringen, und zwar in einerForm,
die speziell auf Zürich zugeschnitten ist. Dies mit
dem Ziel, die Stellung des Kantons im Steuerwett-
bewerb zu festigen und Arbeitsplätze zu sichern.

SchweizerWirtschaftsmotor


Der Fall zeigt allerdings auch die Brüchigkeit der bis-
herigen Konstellation. Es geht in dennächstenvier
Jahren nichtnur um einen wirksamen Klimaschutz
und das EU-Rahmenabkommen. Es gibt auch eine
MengeFragen,die Zürich alsWirtschaftsstandort be-
treffen. DieBanken- undVersicherungsbranche be-
findet sich im Umbruch, die OECD macht Druck
auf die Besteuerung globaler Unternehmen, und die
Rolle des Flughafens als Bindeglied zu anderenWirt-
scha ftszentren ist nicht auf ewig garantiert.
Der ZürcherWerk- und Denkplatz gilt als
schweizweiterWirtschaftsmotor. Angesichts sei-
ner Bedeutung braucht es in der kleinen Kammer
jemanden, der dieses Biotop aus dem Effeffkennt
und sich sowohl mi t de m Regierungs rat als auch mit
den Bürgerlichen versteht, welchedie Unternehmen
hauptsächlichrepräsentieren.Im erstenWahlgang ist
aber erst diejenige Hälfte desDuos wiedergewählt
worden, die dieseRolle nicht übernehmen kann.

Jositsch ist Sozialdemokrat und vertritt als Präsident
des KaufmännischenVerbands primär Angestellte
und nicht die Unternehmen. Die Chancen, dass der
IT-Unternehmer Noser dieseRolle wiederum über-
nehmen kann, sindindes intakt. Er hat in der ersten
Runde 141700 Stimmen erhalten.Das waren etwas
weniger als vor vierJahren. Doch angesichts der ge-
ringerenWahlbeteiligung war dasResultatimmer
noch sehr gut, und vor allemlag er mehrerezehntau-
send Stimmen vorKonkurrentin Marionna Schlatter.
Für den zweitenWahlgang wird nun wichtig sein,
wie sich dieSympathisanten von SP, Grünliberalen
und SVPverhalten,nachdem dieseParteien ihreKan-
didatinnen undKandidaten insTrockene gebracht
oder zurückgezogen haben.Das Gewicht derPar-
teiparolen darf zwar nicht überschätzt werden. Die
Stimmbevölkerung wählt oft eigenständiger, als man-
chen Politikern lieb ist. Doch handelt es sich auch
bei dieserFinalissima umkeine reine Persönlichkeits-
wahl.Das Parteibüchlein spielt durchaus eineRolle.
So kann vermutet werden, dass die SP-Wähler,
die Noser im erstenWahlgang aus einem Anti-Köp-
pel-Reflex die Stimme gaben, zu Schlatter wandern.
Schwierigerist es bei den erstarkten Grünliberalen.
DerenVorstand brachte den Mut nicht auf, Noser zu
favorisieren, obwohl er derPartei politisch viel nä-
her steht als Schlatter. Immerhinhaben sich wich-
tige Exponenten für denFreisinnigen ausgesprochen.
Die grosseFrage ist jedoch,wie sich dieSVP-Wäh-
lerschaft verhält.Wohl haben sich dieParteidelegier-
ten für Noser ausgesprochen – auch aus Angst, bei
einerWahl Schlatters als Steigbügelhalterin zu gelten.
Ob die Gefolgschaft mitmacht, ist aber eine andere
Frage. Denn erstens hat sich diePartei zuvor wäh-
rend Monaten heftigst auf Noser eingeschossen.Die-
ser gilt jetzt einfach als «kleineres Übel», und Roger
Köppel empfahl den Delegierten in einer letzten gifti-
genAttacke gar, zu duschen,wenn sie Nosers Namen
auf denWahlzettel geschrieben hätten – «denn man
hat sich damit schmutzig gemacht». Zweitens neigt
die SVP-Basisdazu, bloss eigeneLeutezuberück-
sichtigen.Das deutlicheVotum der Delegierten und
Christoph Blochers eindringlicherAppell sprechen
hingegen dafür, dass die Botschaft ankommt.
Ausserdem scheinen vieleWählerinnen und
Wähler ausserhalbder SVP wenig ideologisch zu
entscheiden.Laut einerAuswertung vonPeter Mo-
ser,dem Chefanalytiker des Statistischen Amts, gab
bei derRegierungsratswahl nur einViertel aus-
schli esslich Kandidaten des eigenenLagers die
Stimme. Oder anders gesagt:Viele Bürger nahmen
die Idee eines freiwilligen Proporzes – dieVertre-
tung aller wichtigen Kräfte in derRegierung – indi-
viduell vorweg.Diese Wählerschaft bevorzugt auch
die Bisherigen, wie Moser feststellte. Dies erklärt
deren Bonus. Ein ähnlichesVerhalten dürfte auch
bei der Ständeratswahl eineRolle spielen.
Somit spricht viel dafür, dass Zürich am bisheri-
gen Konzept einer breit abgestützten Ständevertre-
tung festhält und dass Noser wiedergewählt wird.
Im Gesamtinteresse des Kantons wäre es.

Ein Zürcher Ständerat


sollte in möglichst viele


Winkel der Gesellschaft


blicken und Interessen


und Anliegen kennen, um


Mehrheiten zu schmieden.

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