Neue Zürcher Zeitung - 13.11.2019

(Barry) #1

Mittwoch, 13. November 2019 SCHWEIZ 13


Die auftauenden Böden in den Alpen bringen


neue Bedrohungen für dieTalsiedlungen mit sich SEITE 14, 15


Fürsorgerische Massnahmen nach dem Strafvollzug –


das Bundesgericht schiebteinen Riegel SEITE 17


Der Doppelspieler tritt ab


SP-Präsident Christian Levrat brachte zwei Rollen unter einen Hut: Parteisoldat und Ständerat


FABIAN SCHÄFER


Christian Levrat geht auf demTief-
punkt.Als er 2008 das Präsidium der SP
übernommen hat, lag ihrWähleranteil
bei 19,5 Prozent. Nun, bei seinem Ab-
gang, sind es noch16,8 Prozent.Dass
im Gegenzug die politischen Zwillinge
der Sozialdemokraten, die Grünen, zu-
gelegt haben, ist ein kleinerTrost. So
schwach wie heute war die SP noch nie.
Trotzdem verlässt Levrat seinenPosten
gutgelaunt.Von Gram oder Selbstzwei-
feln ist nichts zu spüren. Es würde auch
nicht zu ihm passen. So gross dieVer-
luste sein mögen – Levrats Selbstver-
trauen ist grösser. Davon zeugen viele
seinerAuftritte. Lautstark und mit Sen-
dungsbewusstsein brachte derFreibur-
ger seine Mission untersVolk. Gern gab
er auch den Bulldozer, der jeden Ein-
wand aus demWeg räumt.
Am Dienstagmorgen hat Levrat offi-
ziell den Abgang für April 2020 ange-
kündigt.ZweiTage nach derWiederwahl
in d en Ständerat liess er die Neuigkeit
gleichzeitig via mehrere Medien ver-
kündigen–perfekt orchestriert, wie fast
alles bei ihm.Dass der 49-Jährige abtritt,
ist keine Überraschung, zumal nach die-
ser langen Amtszeit. Gerne hätte er sich
aber etwas länger Zeit gelassen mit der
Ankündigung. Doch das ging nicht mehr,
nachdem seit denWahlen parteiintern
di e Ungeduld und die kritischen Zwi-
schenrufe zugenommen hatten.


GoldeneZeit von 2011bis 2015


Was zeichnet Levrat aus? Eine natür-
liche Autorität, Fleiss bis hin zur
Arbeitswut, strategisches Geschick.
Diese Eigenschaften werden im Ge-
spräch mitPolitikern aus verschiedenen
Parteien am häufigsten genannt. Er war
auch ein raff inierterKommunikator.
Geradezu penetrantrepetiert er seine
Botschaften, zum Beispiel die Rede
vom «Rechtsblock», der bei denWahlen
2015 angeblich die Macht übernommen
habe. Er schafft es auch, im Brustton der
Überzeugung offenkundigeWidersprü-
che unter denTeppich zukehren.
Auf dem Höhepunkt seiner Bundes-
berner Macht war Levrat in der Zeit
nach denWahlen 2011. Die SP hatte
ihren Einfluss auf den Bundesrat schon


vier Jahre zuvor stark erhöht, mit derAb-
wahl von Christoph Blocher. Und nun
wurde auch noch LevratsFreund Alain
Berset in dieLandesregierung gewählt,
womit die ohnehin enge Zusammen-
arbeit derPartei mit ihren Bundesräten
noch besser gelang. Die goldenenJahre
endeten 2015, nach demWahlsieg der
SVP, den Levrat schlecht ertragen hat.

Zwei Kunststücke


Was bleibt? Levratkonnte zwar nicht
die Verluste der SP verhindern, dafür
ha t er zweiandereKunststücke voll-
bracht. Er hat die Strömungen innerhalb
der traditionell streitlustigenPartei rela-
tiv erfolgreich vereint. DieJungsozialis-
ten hat er stärker eingebunden, mit Er-
folg: Sie haben diesesJahr darauf ver-
zichtet, den Steuer-AHV-Deal – einen

der grössten Erfolge Levrats – anzu-
greifen.Auch die pragmatischen Kräfte
konnte er lange bei der Stange halten,
bis er sich 2018 im Streit um denRah-
menvertrag auf die Seite der Gewerk-
schaften schlug.
Das zweiteKunststück: Levrat be-
herrschte das Doppelspiel zwischen
Parteisoldat und Ständerat. Als Präsi-
dent pflegte er gegen aussen oft einen
rauen, aggressivenTon. Trotzdem ge-
lang es ihm alsParlamentarier, im ge-
diegenen Ständerat nicht nur akzeptiert
zu werden, sondern auch Allianzen über
die Parteigrenzen hinweg einzufädeln.
Dabei haben ihm die speziellen
Spielregeln des Ständerats geholfen, die
er meistens eingehalten hat. Die wich-
tigste:Parteipolitik ist tabu,Rabau-
kentum ebenso. Solange Levrat nurin
den Medien oder anParteianlässen den

Zweihänder auspackte, haben ihm dies
die Ratskollegen verziehen. Zudem rüh-
men ihn mehrere bürgerliche Stände-
räte für die Arbeit in denKommissio-
nen. Der abtretende CVP-PolitikerKon-
rad Graber, eines der Schwergewichte
im Rat, bezeichnet Levrats Stil als «hart,
aberkonstruktiv». Er vertrete klare
Positionen, erkenne aber auch sehr ge-
nau, wo Mehrheiten zu suchen seien. «In
den Kommissionen betreibt er nichtPar-
teipolitik, sondern ist an Lösungen inter-
essiert.» Und ja, Levratkönne gut ver-
handeln und sein Gegenüber genau ein-
schätzen.«Er istein cleverer Stratege.»

Gleichstellung keinKernthema


Clever war auch sein Umgang miteinem
Thema, mit dem sich Männer in der SP
gelegentlich schwertun: die Gleichstel-

lungsfrage,deren Gewicht in derPartei
stark zugenommen hat. Es ist ein offe-
nes Geheimnis, dass sich Levrat dafür
nicht wirklich interessiert hat – oder nur
dann, wenn es ihm taktisch in denKram
passte, weil zum Beispiel dieSVP aus-
schliesslich männliche Bundesratskandi-
daten nominiert hat.
NataschaWey, Co-Präsidentin der
SP-Frauen, sagt es so: «Die Impulse
kamen von aussen, Gleichstellung war
sicherkein Kernthema von Christian
Levrat.»Das hänge auch mitdemeige-
nen Lebensentwurf zusammen. Levrat
und seineFrau haben sich für ein tradi-
tionelles Modell entschieden – sie blieb
lange zu Hause und kümmerte sich um
die drei Kinder, während er Karriere
machte. Gleichwohl ist Levrat das explo-
sive Thema nie um die Ohren geflogen.

«Andere lehnen sichzurück»


Ein engerWeggefährte in den letzten
Jahren war NationalratRoger Nord-
mann, der seit 2015 die SP-Fraktion
führ t. Der Anfang war nicht gerade
ideal: Levrat kannte Nordmann kaum
und sprach sich gegen dessenWahl
zumFraktionschef aus, weil er einen
Deutschschweizer wollte. Doch er kam
damit nicht durch. «Er ging professio-
nell mit der Niederlage um», erinnert
sich Nordmann. Er nimmt Levrat auch
gegen interne Kritiker in Schutz, die ihn
hinter vorgehaltener Hand als Macht-
menschen darstellen, der andere zurück-
binde. «Wer gute Ideen hatte, konnte sie
umsetzen», sagt Nordmann.So s ei es
Levrat gewesen, der ihn dazu ermun-
tert habe, aus seinenTexten zur Ener-
giepolitik ein Buch zu machen und die-
ses imWahljahr mit derPartei zu propa-
gieren.Das Problem, sagt Nordmann, sei
eher ein anderes: «Christian Levrat ist
so fleissig und verantwortungsbewusst,
dass andere sich zu stark zurücklehnen.»
Fortan will Levrat seinen Fleiss mehr
in sportlicheBahnen lenken, wie er dem
«Blick» sagte. Er will die Kilos abarbei-
ten, die er sich im Stress der letztenJahre
zugelegt hat.Politisch kann er sich ganz
auf dieRolle als Ständerat fokussieren.
SeineFreude an der Machtmechanik
kann er weiterhin voll ausleben. Dem-
nächst übernimmt er das Präsidiumder
einflussreichenWirtschaftskommission.

Abgang nachzwölf Jahren:ImApril 2020 wirdChristianLevrat das Präsidium der SP abgeben. THOMAS HODEL/REUTERS

Vier Frauen und ein Mann – die möglichen Anwärter auf das SP-Präsidium


FlaviaWasserfallen

FlaviaWasserfallenrückte
im Mai 2018 für Evi Alle-
mann in den National-
rat nach. Die 40-Jährige
kennt das Innere derPar-
teizentrale gut: Bis Ende
März 2018 war sie Co-Leiterin desGene-
ralsekretariats der SP Schweiz, zuvor rund
zehn Jahre lang Mitglied des bernischen
GrossenRats. Wasserfallen istPolitologin
und Ökonomin.
Die Bernerin gilt als erfahrenePolitikerin,
die gutvernetzt ist und nicht in derextre-
men Ecke politisiert. «Soziale Errungen-
schaftenverteidigen und Zukunft gestal-
ten», steht aufihre r Website.Wasserfal-
len wohnt in der StadtBern und steht für
die urbane SP. Neben ihrem Nationalrats-
mandat ist siePräsidentin eines Liefer-
diensts für biologischeLebensmittel.
Der «Tages-Anzeiger» hatWasserfallen zur
Kronfavoritin auserkoren.Vor allem Chris-
tian Levrat soll grosse Stücke auf dieBer-
nerin halten. Die Nähe zuLevrat könnte
aber auch zu ihrem grössten Handicap
werden.Will die SP einen Neuanfang,
könnte diePartei einen Kandidaten bevor-
zugen, der sich dezidiertervon der bisheri-
gen Parteileitung abgrenzt.


Barbara Gysi

Die in St. Gallenwohn-
hafte 55-Jährige sitzt seit
2011 im Nationalrat, seit
2012 ist si e Vizepräsiden-
tin der SP Schweiz. 2004
wurdeBarbara Gysi ins
St. Galler Kantonsparlament gewählt, 2009
zur Präsidentin der sozialdemokratischen
Fraktion gekürt.Von 1997 bis 2004 amtete
sie als politische Sekretärin der SP des Kan-
tonsSt. Gallen.Bis 1997 arbeitete sie als
Sozialarbeiterin und -pädagogin.
Gysi ist in Bundeshaus undVerwaltung gut
vernetzt. Sie präsidiert den St. Galler Ge-
werkschaftsbund und macht seit langem
Gewerkschaftspolitik. ImParlament hat sie
rasch in begehrtenKommissionen Einsitz
nehmenkönnen, etwa in jener für Soziales
und Gesundheit. Gysi gilt alsverlässlich,
ehrgeizig und dossierfest. Sie gehört der
Neuen EuropäischenBewegung Schweiz
(Nebs) an, die den raschen EU-Beitritt will.
Gysi werdenAmbitionen nachgesagt. 20 15
kandidierte sie fürsFraktionspräsidium,
2018 fürs Präsidium des Gewerkschafts-
bundes, unterlag aber beide Male. DerFra-
ge nach ihrem Interesse am Amt wich sie
jüngst aus. Mit ihren 55Jahren steht sie
nicht für einen Generationenwechsel.

Mattea Meyer

Die 31-jährige Geografin
ist seit 2015 Mitglied des
Nationalrats. Sie amtet
seit 2017 als Präsiden-
tin der Immunitätskom-
mission und ist Mitglied
der Finanzkommission.Vor ihrerWahl in
den Nationalrat sass Meyer vierJahre im
Zürcher Kantonsrat.Von 2009 bis 20 13
amtete sie zudem als Vizepräsidentin
der Jungsozialistinnen undJungsozialis-
ten Schweiz (Juso).
Die Winterthurerin wird in den Medien
im merwieder als mögliche Nachfolge-
rin von ChristianLevrat gehandelt. Inner-
halb der SP zähltsie zu den aufstreben-
den Kräften und hat sich in ihrer ersten
Legislatur inBern über dieParteigrenzen
hinausRespektverschafft. Sie selber be-
zeichnete dieParteileitung jüngst als inter-
essanteAufgabe.
Meyer vertritt den linken Flügel und setzt
sich für Gleichstellung, Steuergerechtig-
keit und soziale Sicherheit ein. Grosskon-
zerne und deren «verantwortungsloses
Gebaren» kritisiert sie. Meyer zählt zu
den eifrigeren Nationalratsmitgliedern –
davon zeugen ihre über vierzig persön-
lichenVorstösse.

Min Li Marti

Min Li Marti sitzt zwar
erst seit 2015 im National-
rat, hat jedoch schon viel
politische Erfahrung: Die
45-Jährige amtiertevon
2002 bis 2015 als Zürcher
Gemeinderätin, ab 2009 führte die gebür-
tige Oltnerin dieSP-Fraktion an. 2011 lei-
tete sie die Kampagne für die nationalen
Wahlen.
Marti gehört imParlament zum SP-Main-
stream, wie das NZZ-Parlamentarier-
Rating zeigt. Ihre Steckenpferde sind Digi-
talisierung, Medienpolitik und Gleichstel-
lung. Innerhalb derFraktion hat sie sich
bisher nicht alsWortführerin hervorgetan.
Doch alsVerlegerin und Chefredaktorin
der linkenWochenzeitung «P.S.» prägt die
Soziologin seit 2015 den Diskurs innerhalb
der Sozialdemokratie mit.
Die breite politische Erfahrung, auch in
Führungsfunktionen, sowie die guteVer-
netzung innerhalb der starken Zürcher SP
sprechen für Marti. Ihr Handicap ist jedoch,
dass ihr MannBalthasar Glättli guteAus-
sichten hat,Präsident der Grünen zuwer-
den. So nah sich die beidenParteien in-
haltlich auch stehen – ein Ehepaar an der
Spitzevon Rot-Grün ist doch unvorstellbar.

CédricWermuth

Der 33-jährige Aargauer
si tzt seit 2011 im Natio-
nalrat.Bei denWahlen
2019 kan didierte er zu-
dem für den Ständerat,
zog seine Kandidatur je-
dochvor dem zweitenWahlgang zurück.
Zwischen 2014 und 2018 amteteWer-
muth als Co-Präsident der SP Aargau, zu-
vor war er von 2008 bis 2011 Vizepräsident
de r SP Schweiz. Der breiten Öffentlichkeit
bekannt wurde der Aargauer alsPräsident
der Jungsozialistinnen undJungsozialis-
ten Schweiz (Juso), alswelcher ervon
2008 bis 2011 amtete. Er studiertePolitik-
wissenschaften,Wirtschafts- und Sozial-
geschichte und Philosophie.
Wermuth wird dem linken SP-Flügel zuge-
ordnet und ist Mitglied mehrerer Gewerk-
schaften und links-grüner Organisationen.
Er versteht sich alsFeminist und setzt sich
für die Gleichstellungvon Mann undFrau
ein. Er tritt heute zwar gemässigter auf,
dennoch dürfte er seinen linksideologi-
schenKurs fortsetzen.
WermuthzähltnichtzudenHauptfavoriten
für dieLevrat-Nachfolge,zumalimmerwie-
de r dieForderung nach einerFrau an der
Parteispitze laut wird. cb./eru./wej./hhs.
Free download pdf