14 SCHWEIZ Mittwoch, 13. November 2019
DerMurgang hat am Piz Stabelchod im Schweizerischen Nationalparkungehindert seine Spuren hinterlassen.
Die Gefahr
lauert im Berg
Der Klimawandel brin gt den Permafrost in den
Schweizer Bergen zum Schmelzen. Dadurch steigt
das Risiko von Schlammlawinen. Im Engadin geht
man unterschiedlich mit der Bedrohung um.
LINDAKOPONEN, LARISSA RHYN (TEXT),
JOËL HUNN (BILDER)
23.August 2018: Kurz nach15 Uhr er-
tönt mitten im Schweizerischen Natio-
nalpark ein dumpfes Grollen.Durch das
Val da Stabelchod wälzt sich ein riesi-
ger Murgang.Mit einer Geschwindigkeit
von fünfzig Kilometern pro Stundereisst
er alles mit sich.VierzehnTouristen sind
in unmittelbarer Nähe unterwegs. Sie
werden von Geröll und Schlammfluten
eingekesselt. Stundenlang müssensie
ausharren.Dann die Erlösung: DerRe-
gen lässt nach, und Parkwächterkönnen
zu ihnen vordringen.
31.Oktober 2019: Behende klettert
der Geologe Hans Lozza über die da-
mals entwurzelten Bergföhren, die den
ehemaligenWanderweg durch dasVal
da Stabelchod versperren.Der Murgang
im Sommer des vergangenenJahres hat
dasTal in ein Geröllfeld verwandelt.Seit-
her ist der Pfad für Besucher gesperrt.
Am Südhang hat die Schlammlawine
trichterförmigeSpuren hinterlassen,am
Westhang klaffen tiefe, graueKerben.
Die Überreste einer Brücke, verkeilt
zwischen zweiBaumstämmen und einem
massivenFelsblock,lassen dieWucht er-
ahnen,mit der sich die Massen ihrenWeg
nach unten gebahnt haben.
Die Festung von Pontresina
Im dreissig Kilometer entferntenPont-
resina lässt Gemeindepräsident Mar-
tin Aebli seinen Blick gelassen über die
Häuser schweifen,obwohl auch hier eine
Zeitbombe tickt. Dort, am Grat ober-
halb des Schafbergs, etwa 3000 Meter
über dem Meer, taut derFels langsam
auf.Ab und zu bröckelt ein Stück ab und
nährt damit einzähes Gebilde aus Eis
und Gestein, das wächst und wächst. Es
ist ein Blockgletscher, der sich langsam,
aber unaufhaltsam seinenWeghin zur
steilen Bergkante bahnt. Irgendwann,
sagt Aebli, werde «die ganze Sauce ins
Tal rasen».
Er klingt unbekümmert, wenn er
über die Gefahr spricht, denn seine Ge-
meinde hat vorgesorgt. Die Bergseite
von Pontresina ist eineFestung. Über
den letzten Häusern türmt sich ein bis
zu 13,5Meter hoher Steinwall auf. Er
schützt die Anwohner nicht nur vor
dem drohenden Murgang,sondern auch
vor Lawinen.
Der Klimawandel wird auch in der
Schweiz immer stärker spürbar.Wenn
Aktivisten den Morteratschgletscher in
weisseTücherverpacken, um die Eis-
schmelze ein wenig zu bremsen, rüt-
telt das auf.Was vielen nicht bewusst
ist : Rund fünf Prozent der Schweizer
Landesfläche sind im Inneren seitJahr-
tausenden gefroren. Sie liegen alle im
Alpenraum.Auf rund drei MeternTiefe
beginnt das vermeintlich ewige Eis –
vermeintlich, weil seit Mitte der1990er
Jahre immer grössereTeile auftauen.
Permafrost funktioniert wie Leim:Wenn
er sich auflöst, bröckelt das sonst so sta-
bile Gestein.Das ist an der Oberfläche
zunächst nicht sichtbar. Nur Geologen
und erfahreneWanderer entdecken die
Risse, die sich dann imFels bilden. Erst
wenn ein Stück des Berges insTal don-
nert, gerät das Problem ins öffentliche
Bewusstsein.
Das Risiko für Murgänge aus Block-
gletschern ist im Sommer, wenn es die
meisten Gewitter gibt, besonders gross.
Bei starkemRegen kann dasWasser
nicht versickern undreissteinemLava-
strom gleich alles lose Material mit
sich. In den letztenJahren haben sol-
che Starkregen, bei denen in kürzester
Zeit grosse MengenWasser auf kleins-
ten Raum prasseln, zugenommen – und
mit ihnen dieregistrierten Murgänge.
Anders als inPontresina, wo sich die
20 Kilometer 1Kilometer NZZ Visuals/cke. Bewohner mit allen Mitteln derTech-
Piz Stabelchod
Schutzwall
Zernez
Pontresina
Pontresina
Tirano
SCHWEIZ
ITALIEN
ÖSTERREICH S
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Val
daStabelchod
Auch im
Nationalpark kosten
die zunehmenden
Naturereignisse viel
Geld.Wege zu sperren,
reicht nicht aus.
Wo Routen geschlossen
werden, muss eine
neueWegführung her.