Neue Zürcher Zeitung - 13.11.2019

(Barry) #1

Mittwoch, 13. November 2019 SCHWEIZ


In Pontresina versucht man dagegen, künftige Schlamm- und Gerölllawinen in vorgegebeneBahnen zu lenken.


nik und derBaukunst gegen die dro-
hende Gefahr wehren, ist die Natur
im Nationalpark sich selbst überlas-
sen. Massnahmen zur Prävention gibt
es nicht. «Der Nationalpark ist eines der
letzten SchweizerWildnisgebiete–dies
gilt es zu bewahren», betont Geologe
Hans Lozza.Trotzdem hat die Sicher-
heit der Besucher einen hohen Stellen-
wert. Lozza greift zumFeldstecher und
lässt seinen Blick überdie Murteras da
Stabelchod gleiten.Dabei sucht er Stel-
len, die dunkler sind als dierestliche
Bergflanke – ein Indiz für neue Ab-
bruchstellen. Zu LozzasAufgaben als
Kommunikationsleiter gehört es auch,
regelmässig Risiken abzuschätzen und
wo nötigWege sperren zu lassen. Täg-
lich sind mehrereParkwächter undFor-
scher auf dem hundert Kilometer lan-
genWegnetz unterwegs.
Mit kleinen Schritten sucht sich
Lozza einenWeg oberhalb desBach-
bett s. Die wachsamenAugen im son-
nengebräunten Gesicht scheinen da-
bei stets nach etwasAusschau zu halten.
Auf demRückweg wird er vonGem-
sen erzählen, die nur ihm dieAufwar-
tung gemacht haben. Neben demRau-
schen desBachs sind vereinzeltVö-
gel – Lozza identifiziert eine Hauben-
meise und einen Buntspecht – zu hören.
Der Murgang, der grösste im National-
park seit siebzigJahren, hat dieBach-
rinne tief eingekerbt,amRand gibt der


Boden nach, und Lozza muss denFuss
zuweilen neu aufsetzen.
Der Bergkönnte jederzeit wieder-
kommen.Rund ein Drittel des Schwei-
zerischen Nationalparks ist vonPerma-
frost und Blockgletschern geprägt. Doch
die Durchschnittstemperatur an der
Klimastation Buffalora istin den letz-
ten hundert Jahren um fast zwei Grad
Celsius gestiegen. DieAuftauschicht im
Boden wird immer grösser. Erschwe-
rend kommt hinzu, dass die Berge, wie
in grossenTeilen des Unterengadins, aus
sprödemDolomitgestein bestehen, das
leicht zerbricht.

Seilbahnen sackenplötzlich ab


Nicht nur im Nationalpark haben sich in
den letztenJahren mehr Muren gelöst.
Im Kanton Graubünden gab es gleich
mehrere Ereignisse, bei denen auch be-
wohnte Gebiete betroffen waren. Nicht
überall war auftauenderPermafrost die
Ursache,überall gab es jedoch starke
und lokal beschränkteRegenfälle, be-
vor sich die Schlammlawinen lösten.
2013 ging imVal Parghera eine erste
grosse Mure ab, in den folgendenJahren
kamen etliche weitere. Die Gemeinde
Domat/Ems musste innert kürzester
Zeit einen Schutzbau in die Höhezie-
hen. 2015 kam Scuol, wo sich auf einen
Schlag dreizehnRüfen lösten und hun-
der t Personen mehrereTage lang ein-

geschlossen waren. Und dann folgte
der grösste Schlag, die Katastrophe in
Bondo imJahr 2017, wo bei einem Berg-
sturz acht Menschen starben und das
Dorf von einem Murgang stark beschä-
digt wurde.
Die letzte Schlammlawine mit Sach-
schaden, die das Schweizer Institut für
Lawinenforschung (SLF) dem auftauen-
den Permafrost zuordnenkonnte, ging
letztesJahr im Rittigraben im Kanton
Wallis herunter. Sie verschüttete eine
Kantonsstrasse, verletzt wurde niemand.
Murgänge sind jedoch nicht das einzige
Problem, das der auftauendePerma-
frost mit sich bringt. Zwar steht in der
Schweizkein Dorf direkt auf perma-
nent gefrorenem Boden. Doch es gibt
Bergrestaurants und Seilbahnen, deren
Untergrund einsackt, weil er auftaut.
Anfang Oktober musste diePendelbahn
Fiescheralp–Eggishorn imWallis ihren
Betrieb einstellen.DasTerrain wird der-
zeit gesichert.

ImmerschnellerRichtungTal


Auf halber Höhe führt ein Spazierweg
über den mächtigenDamm vonPont-
resina. Gian ClaFeuerstein erklimmt
die Steinwand mit wenigen Sprün-
gen. DerRegionalleiter des Bündner
Amts für Naturgefahren trägtWander-
schuhe und eine leichteWindjacke. In
der einen Hand hält er eine Mappe
mit Plänen, mit der anderen gestiku-
liert er. MartinAebli – Bundfaltenhose
und Hemd – folgtihm ingemächliche-
rem Tempo, setzt die schwarzenWinter-
stiefel bedächtig auf die aufgetürmten
Steinklötze. Die beiden Männerken-
nen einander gut, telefonierenregel-
mässig, immer geht es dabei um das-
selbe: die Sicherheit vonPontresina.
Und damit zwingendermassen um den
Schafberg.
Kurz vor derJahrtausendwende liess
die Gemeinde den Berg zum ersten Mal
aufPermafrost untersuchen. Schnell
wurde klar:Da oben liegt eine Bedro-
hung, die bisherkeinem bewusst war.
Der Blockgletscher, dieser eisige Schutt-
haufen, bewegt sich wegen der Klima-
erwärmung immer schneller Richtung
Tal. Wird das Gelände steil und ist ein
Teil des Gebildes aufgetaut, kann ein
Regenschauer ausreichen, um eine Ka-
tastrophe auszulösen.
Es gab zwar bereits seit dem19.Jahr-
hundertLawinenschutzbauten am Berg,
doch die Mauern würden einem Mur-
gang niemals standhalten. Eine andere
Lösung musste her. Pontresina ging aufs
Ganze, setzte auf ein Pilotprojekt, eine
«Flucht vorwärts», erklärtFeuerstein.
Anstatt ein Auffangbecken für Mur-
gänge zu bauen und gleichzeitig den
Berg mitLawinenverbauungen einzu-
decken, sollte einDamm die Bewoh-
ner vor beiden Naturgefahren schüt-
zen. 100000 Kubikmeter Geröll und
Schlammkönnte er aufhalten, das ent-
spricht etwa der Masse von hundert Ein-
familienhäusern – so viel, wie beim letz-
ten grossen Murgang im Nationalpark
heruntergedonnert sind.

«Sinder waansinnigworde?»


DerDamm, der den Berg heute vom
mondänen Bergort trennt, hatte er-
bitterte Gegner.Einen groben Ein-
griff in die Natur beklagten die einen,
die anderen sahen in dem Monsterbau-
werk einSymbol der Angst, das Touris-
ten abschrecken und damitdas Dorf in
denRuin befördern würde.Anonyme
Briefeschreiber forderten gar den
Rücktritt des gesamten Gemeinderates.
An Gemeindeversammlungen hiess es:
«Sind er waansinnig worde?»
Dennoch wurden die Kritiker
schliesslich überstimmt.Dabei half es,
dass derDamm nicht nur für Anwoh-
ner undTouristen Schutz bot, sondern
auch für Immobilien. Er steigerte den
Wert vieler Häuser im Dorfzentrumauf
einen Schlag,weil sie fortan nicht mehr
in derroten, sondern in der blauen Ge-
fahrenzone standen.Das bedeutete, dass
auf den Grundstücken sogar wieder ge-
baut werden durfte.
2001 schoben sich die erstenBagger
den Hang hoch, rissen eine «klaffende
Wunde in die Natur», wieAebli einräumt.
Zwei Jahre später stand «Giandains», der
«Fuss der Geröllhalde». Rund acht Mil-
lionenFranken hat er gekostet. Insge-
samt hatPontresina in den letzten 120
Jahren schon hundert MillionenFranken
ausgegeben (teuerungsbereinigt), um

sich gegen Naturgefahren zu schützen.
Gemeinde,Kanton und Bund haben sich
die Kosten aufgeteilt,Pontresina musste
rund 25 Prozent beisteuern.
Das hat die Gemeindekasse stark be-
lastet. Abhilfekönnte in solchenFällen
künftig ein Klimafonds leisten, der im
neuenCO 2 -Gesetz vorgesehen ist.Da-
mit sollen auch Massnahmen unter-
stützt werden, die Schäden verhindern,
die durch den Klimawandel verursacht
werden.Finanziert werden soll er unter
anderem aus der CO 2 -Abgabe und der
geplanten Flugticketabgabe. Noch ist
das Gesetz jedoch nicht verabschiedet,
als Nächstes entscheidet der National-
rat. Zudem ist gemäss dem Bundesamt
für Umwelt noch offen, ob Gemeinden
überhaupt von den Geldern aus dem
Klimafonds profitieren würden.

Zerstörung als Chance


Auch im Nationalparkkosten die zu-
nehmenden Naturereignisse viel Geld.
Wege zu sperren,reicht nicht aus. Denn
der Park soll die Natur für seine Besu-
cher zugänglich machen.Wo Routen ge-
schlossen werden, muss eine neueWeg-
führung her.Nach einer Geländeana-
lyse haben Lozza und seineKollegen
den neuen Pfad weiter oben amrechten
Talhang desVal da Stabelchod angelegt.
Allein dieser 1,2Kilome ter lange neue
Streckenabschnitt hat Zehntausende
Franken gekostet. Trotzdem spricht
Lozzastets von Naturereignissen, nie
von Schäden. «Es handelt sich um natür-
liche Prozesse, die dieLandschaft for-
men.» Zerstörung bedeute immer auch
eine Chance:«Wo Lebensräume ver-
schwinden, kann Platz für neue Arten
entstehen.»
Mittlerweile hat sich die Natur
auch oberhalb vonPontresina erholt.
DerDamm ist gut getarnt unter Grä-
sern undBergföhren, vom Dorf aus
sieht man ihn kaum noch.Feuerstein,
der auf einer Brücke in der Mitte des
Bauwerks steht, sagt:«Viele Leute sind
überrascht, wenn sie hier zum ersten
Mal vorbeiwandern und plötzlichden
Damm entdecken.»
Feuerstein undAebli steigen in einen
geländegängigen Subaru. Sie fahren
hinauf zum Berninapass und disku-
tieren über Alarmierungssysteme. Der
Damm kann mit seinen 500 Metern nur
das Dorf schützen.Auf demPass aber
fehlen Schutzbauten,obwohl die Strasse
eine wichtigeVerkehrsader Richtung
Italien ist. Deshalb halten im Sommer
Naturschützer wie Verwaltungsange-
stellte alleAugen offen, wenn ein Ge-
witter angesagt ist. Sie müssen auf ihr
Bauchgefühl hören, denn oft sind die
Regenschauer so lokal, dass dieWet-
terprognosen wenig nützen. «Erinnerst
du dich noch, wie am Dorffest imAu-
gust alle trocken blieben, während es
auf dem Bernina wie ausKübeln ge-
schüttet hat?»,fragt Aebli.
Feuerstein nickt. An demTag tele-
fonierte Aebli mit dem kantonalen
Tiefbauamt, das die Strasse schliess-
lich sperren liess. Zum Glück, denn
der Murgang, der folgte, bedeckte die
St rasse mit Schutt und Schlamm.Auf
der Strecke gehen jedesJahr mehrere
Muren runter,es wird immer gefähr-
licher. Daher suchen Gemeinde und
Kanton nun nach einem verlässliche-
renAlarmierungssystem.

Ignorant gegenüber der Gefahr


Selbst die besten Alarmierungssysteme
oder Schutzbauten sind jedoch nie zu
hundert Prozent sicher. Darum habe
jeder, der sich in den Bergen bewege,
auch eine Eigenveran twortung.Aebli
undFeuerstein beobachten, dassTou-
risten undTagesausflügler zunehmend
ignorant sind gegenüber der Gefahr.
«Das beschäftigt uns», sagtAebli, und
Feuerstein ergänzt: «Die Leute gehen
kopflos wandern oder machen Bergsport
und ignorieren alle Sicherheitshinweise.»
Lozza wirft durch denFeldstecher
einen letzten Blick auf den Piz Stabel-
chod.Wie dieVorboten einer Apoka-
lypse ziehen imWesten graueWolken
auf, der Wind imTal wird stärker. Seit
seinem letzten Besuch hat sich am Berg-
hang nichts verändert.Anders als in den
letztenJahren ist dieser Sommer ruhig
verlaufen.Das willjedoch nichts heissen.
Lozza weiss, er und seineKollegenkön-
nen noch so viel beobachten, einschät-
zen, analysieren.Am Ende ist die Natur
unberechenbar. «Das Risiko bleibt.»

Einen groben Eingriff
in die Natur beklagten
die einen, die anderen
sahen in dem
Monsterbauwerk ein
Symbol der Angst, das
Touristen abschrecken
und das Dorf in den
Ruin befördern würde.
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