Neue Zürcher Zeitung - 13.11.2019

(Barry) #1

18 ZÜRICH UND REGION Mittwoch, 13.November 2019


In der Justizvollzugsanstalt Pöschwies erschaffen


die Insassen Kunstwerke und Sehnsuchtsbilder SEITE 19


Zürich will vorwärtsmachen


mit dem Fahrverbot für ältere Dieselfahrzeuge SEITE 20


Dutzende erhielten kein Wahlcouvert


Bei der Zustellung der Unterlagen für den zweiten Ständeratswahlgang hat es eine Panne gegeben – die Ursache ist noch unklar


ANDRÉ MÜLLER


In der Stadt Zürich haben sich seit
Freitag und bis am Montagnachmittag
rund fünfzigPersonen bei der Stadt-
kanzlei oder den Kreisbüros gemel-
det, weil siekeine oder unvollständige
Wahlcouverts erhalten haben.Das sagt
Christina Stücheli, die LeiterinKom-
munikation der Zürcher Stadtkanz-
lei, auf Anfrage der NZZ. Am letzten
Donnerstag lief dieFrist für die Zu-
stellung ab, dann hätten die Couverts
eigentlich alle in den Briefkästen einge-
troffen sein müssen.Weil die Stadt die
letzte Charge am Dienstag, 5. Novem-
ber, mit A-Post abgeschickt habe, müsse
das Problem wohl bei derPostzustel-
lung liegen, sagt Stücheli.
Natürlich melden sich nicht alle Bür-
ger,wenn siekeinen Stimm- beziehungs-
weiseWahlzettel erhalten: Mehr als die
Hälfte stimmt oder wählt sowieso nicht
und dürfte daher auch kaum bei den
Behörden nach Ersatzunterlagen fragen.
Anderewürdenwohl wählen, wenn das
Couvert ins Haus flattert, vergessen es
andernfalls aber. Die Zahl der insge-
samt Betroffenen dürfte also auch bei
einer vorsichtigen Schätzung im drei-
stelligen Bereich liegen.Das entschei-
det nur sehr selten eineWahl, ist aber
doch unschön.


«KleinererVorfall»


Christina Stücheli spricht in Bezug auf
die Zahl vonRückmeldungen vonkei-
ner besonders eklatanten Häufung: «Die
Kreisbüros erstellen bei jedem Urnen-
gangDuplikate in einem mittleren zwei-
stelligen Bereich.» Die Stadt versuche
derzeit zusammen mit derPost zu eru-
ieren, was genau zum Problem geführt
habe. Speziell sei die Situation insofern,
als den Bürgerinnen und Bürgern wegen
der kurzenFrist weniger Zeit als üblich
bleibt, Ersatzunterlagen zu bestellen.
Jede Stimmbürgerin kann beim Kreis-
büro einDuplikat ihrerWahlunterlagen
anfordern, wenn diese nicht oder un-
vollständig zugestellt worden sind.Das
sollte bis amFreitag noch möglich sein.
Das Duplikat ist allerdings so markiert,
dass niemand zweimal wählen oder ab-
stimmen kann.
Stücheli sagt zwar, dass derVersand
der Couverts dieses Mal sehrkomplex


gewesen sei; zwischen erstem und zwei-
temWahlgang der Ständeratswahlen lie-
gen nur dreiWochen, gleichzeitig wird in
der Stadt Zürich noch über vier Sach-
fragen abgestimmt, und bei denRefor-
mierten findenWahlen statt. DieWahl-
zettel für den Ständerat mussten den
Couverts nachträglich hinzugefügt wer-
den. Doch derFehler sollte nicht hier
passiert sein, bis am 5. November gin-
gen ja alle Unterlagen hinaus.
Stephan Ziegler, der LeiterWahlen
und Abstimmungen beim Statistischen
Amt des Kantons, spricht aufBasis die-
ser Informationen von einem «kleineren
undkeinemkomplexenVorfall»; es gebe
keinen Hinweis auf ein systematisches
Problem bei der Zustellung. Im Einzel-
fall sei es natürlich unschön, wenn je-
mandkeine Unterlagen erhalte, das habe
aberkeine weiterenAuswirkungen auf
die Durchführung derWahl.

«Wichtig ist, dass man schnellreagiert
und Ersatz zustellt.»Aus anderen Ge-
meinden lägen ihmkeine Informatio-
nen über verspätete Zustellungen oder
Pannen beimVersand vor.
Es gilt nun abzuwarten, was die
Untersuchung von Stadt Zürich und
Post zeigt – wie vielePersonen insge-
samt von derPanne betroffen sind. Bei
über 900000Wahlberechtigten im Kan-
ton Zürich fallen einigeDutzend feh-
lende Stimmen allerVoraussicht nach
nicht ins Gewicht. Doch ab wann wird
aus einem Missgeschickein demokratie-
politisches Problem – braucht es dafür
500, 5000 oder doch eher 20 000 feh-
lende Couverts?
Grundsätzlich sei jedes nicht zuge-
stellteWahlcouvert eineVerletzung des
verfassungsmässigenRechts, an einer
Wahl teilnehmen zu dürfen, sagt Mar-
kus Schefer, Staatsrechtsprofessor an

der Universität Basel. Die Bürgerin
oder der Bürger muss es also auf jeden
Fall unaufgefordert erhalten. Andern-
falls würde Betrugsversuchen – gewisse
St rassen werden systematisch «verges-
sen»–Tür undTorgeöffnet.

Beschwerdefrist von fünfTagen


Bis aufgrund einer solchen Verlet-
zung des verfassungsmässigenRechts
einResultat annulliert werden kann,
braucht es aber sehr viel. Bei bundes-
rechtlichen Abstimmungen müsse der
Stimmbürger, sagt Schefer, beispiels-
weise innert dreiTagen, nachdem er
denFehler bemerkt hat, bei der für
die Wahl zuständigen Behörde Be-
schwerde erheben. Der Bürger habe so
gesehen die Pflicht, die Behörden mög-
lichstrasch zu informieren, damit sie die
Sache richtigstellenkönnten. Man kann

also nicht dasResultat abwarten und
erst dann Beschwerde einlegen, wenn
es einem nicht passt. (Ständeratswahlen
sind kantonal organisiert, doch auch der
Kanton Zürich lässt eine Beschwerde
bloss innert einer fünftägigenFrist zu.)
In einemzweiten Schrittmüssen die
Gerichte laut Schefer schliesslich prü-
fen,ob die Verfassungsverletzung mit
einigerWahrscheinlichkeit zurVerfäl-
schung des Ergebnisses führte. «Das

ist praktisch nur dann möglich, wennes
einen kleinen Unterschied in der Stim-
menzahl gab.»
Bei den letzten Ständeratswahlen in
Zürich wiesen die Sieger beispielsweise
meist einenVorsprung von mehreren
zehntausend Stimmen auf ihre nächs-
ten Verfolger auf. In diesenFällen wären
also viele tausend nicht zugesandte Cou-
verts nötig gewesen, um dasResultat in
Zweifel zu ziehen.
Ohne jeglichenFehler lasse sich
eineWahl sowieso kaum je durchfüh-
ren, gibt Markus Schefer zu bedenken.
«Es müsste angesichts dieserVorausset-
zungen schon etwas gewaltigFalsches
passieren, bis eine Annullation denk-
bar ist. Ein solcherFehler würde dann
auchrasch erkannt.»
Bis am Dienstag haben in der Stadt
Zürich 23,1 Prozent der Stimmbürge-
rinnen und -bürger schon brieflich ge-
wählt.Vor vierJahren, vor dem zwei-
ten Ständeratswahlgang, hatten sich zum
selben Zeitpunkt bereits 25,1 Prozent
beteiligt. Eins zu eins lassen sich diese
Zahlen indes nicht vergleichen, weil
2015 mehr Zeit zwischen den beiden
Wahlgängen lag und die Unterlagen frü-
her zugestellt wurden.

Bis nicht zugestellteWahlcouverts zur Annullierung einesResultat sführen, braucht es sehr viel. KARIN HOFER/NZZ

Ab wann wird aus
einem Missgeschick
ein demokratie­
politisches Problem –
braucht es 500, 5000
oder doch eher 20 000
fehlende Couverts?

BEZIRKSGERICHTDIETIKON


Üble Vergewaltigung oder im gegenseitigen Einverständnis?


Zwei junge Männer verwirkliche n ihren Traum vomSex zu dritt und locken dazu eine Jugendliche in einen Partykeller – das Urteil steh t noch aus


ALOIS FEUSI


Fest steht: Zwei junge Männer haben
sich ineinemPartyzimmer imKeller
eines Mehrfamilienhauses im Limmattal
die Phantasie eines «Dreiers» mit einer
jungenFrau erfüllt. Ganz und gar nicht
klar ist aber, wie die17-jährige Lehrtoch-
ter den Sex zu dritt empfunden hat. Am
frühen Morgen nach jener Oktobernacht
2016 jedenfalls erstattete sie Anzeige
wegenVergewaltigunggegen die damals
18- und19-jährigen Männer. Bei derFrau
wurden an Brust, Hüfte und Gesäss Spu-
ren festgestellt, die von Schlägen stam-
menkönnen.Ausserdem wies sie eine blu-
tendeVerletzung an derVagina auf.


Verräterische Aufnahmen


Am Dienstag haben die Männer vor dem
Bezirksgericht Dietikon gestanden. Der
Staatsanwalt klagt sie der sexuellen Nöti-
gung und derVergewaltigung an und for-


dert für beide eineFreiheitsstrafe von
4Jahren und2Monaten.
Leugnen können sie dieVorwürfe
nicht, schliesslich haben sie das Gesche-
hen mit einem Smartphone gefilmt. Die
Bilder sprechen eine eindeutige Spra-
che. Die beiden Beschuldigten behaupten
aber steif und fest,dass der orale undvagi-
nal e Sex im gegenseitigen Einverständnis
stattgefunden habe.
DieAufnahmen zeigen gemäss den
Untersuchungsunterlagen tatsächlich
keine Gewalt. Die17-Jährige soll eine
aktiveRolle gespielt und dabei gelacht
und vor Lust gestöhnt haben. DieVertei-
digerin des einen Beschuldigten spricht
von einer «wildenRammelei», die da zu
sehensei. Und die Männer ergehen sich
bei der Befragung in unflätigen und ab-
wertendenVerunglimpfungen desTeen-
agers und auch seinerFamilie.
Die17-Jährige sei in ihrem Umfeld
als Schlampe bekannt gewesen, die mit
jedemKerl ins Bett hüpfe, behaupten

beide. Sie sei zuvor zweimal mit demJün-
geren der beiden ausgegangen und habe
Oralverkehr und beim zweitenTreffen
Geschlechtsverkehr mit ihm gehabt.Nach
einem halbenJahr habe sich dieFrau
überraschend wieder bei ihm gemeldet.
Die Lehrtochter sei halt schwer ver-
liebt gewesen,betonen die Beschuldigten
und unterstellen ihr gewisse Stalker-An-
flüge. Sie habe den Mann um jeden Preis
zurückgewinnen wollen und deshalb auch
eingewilligt, als dieser von der Möglich-
keit eines «Dreiers» gemeinsam mit sei-
nem älteren,derFrau nicht persönlich be-
kanntenKollegen gesprochen habe. Man
habe beschlossen, zu dritt einenVideo-
und Shisha-Abend zu veranstalten und
zu schauen, wie sich die Sache entwickle.
Die Männer behaupten,dass die junge
Frau unter dem Druck desVaters zurPoli-
zei gegangen sei,nachdem sie ihm eine
Vergewaltigungvorgeschwindelt habe.
Zudem habe sie befürchtet, dass ihrRuf
als Flittchen weiter zementiert würde,

wenn die Smartphone-Aufnahmen ver-
breitetwürden. Die Schlagspuren auf dem
Po rechtfertigt derJüngere damit,dass ein
«Klaps auf den Arsch» halt zumSex ge-
höre und ganz normal sei.

Opfer wirkt «wie tot»


Das Bild, das der Staatsanwalt und die
Vertreterin des Opfers zeichnen, ist ein
völlig anderes. Sie zitieren die Arbeit-
geberin, welche die Lehrtochter als zu-
verlässig, freundlich und fröhlich schil-
dert, und im psychologischen Gutachten
ist von einer offenen und ehrlichen jun-
genFrau dieRede. DieFreundin, an die
sie sich nach jenem Erlebnis als Erste ge-
wandt hatte, sagte aus, dass sie apathisch
und «wie tot» gewirkt habe.
DerAnkläger und dieAnwältin wider-
legen die Aussage vom freiwilligen Sex.
Die Männer hätten die17-Jährige gebro-
chen. Schliesslich habe sie im Zustand
einer Dissoziation gewissermassen «aus-

ser sich» bei dem Sex mitgemacht. Die
Smartphone-Daten belegten klar,dass sie
Nein gesagthabe zu diesemVorschlag,
und sie habe auch explizit darum gebe-
ten, das Handy auszuschalten.
Davon will der jüngere Beschuldigte
allerdings nichts wissen.Erstals der Rich-
ter die betreffenden Protokollpassagen
im Wortlaut vorliest, lenkt er ein. Es sei
halt schon mehr als dreiJahre her. «Ich
gehe davon aus, dass ich es nicht gehört
habe. Denn wenn eineFrau Nein sagt,
dann akzeptiere ich das», sagt der Mann
im Brustton der Überzeugung.
Angesichts des überaus bedenklichen,
testosteronvergiftetenFrauenbilds, das er
und seinKumpan im Prozess an denTag
legen, mag man ihm nicht sorecht glau-
ben.Allerdings haben dieVerteidiger der
beiden durchaus aucheini ge Argumente,
die nicht zugunsten der Privatklägerin
sprechen.Was die Richter von demFall
halten,wird man am 22. November sehen.
Dann wird das Urteil eröffnet.
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