Neue Zürcher Zeitung - 13.11.2019

(Barry) #1

Mittwoch, 13. November 2019 INTERNATIONAL 3


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Sánchez vollzieht


eine Kehrtwende


Spaniens Ministerpräsident will
nun doch mit Podemos koalieren

UTE MÜLLER, MADRID

Was sechs Monate lang nicht ging, war
plötzlich binnen 48 Stunden möglich.
Völlig überraschend haben sich am
Dienstag der spanische Ministerpräsi-
dentPedro Sánchez undPablo Iglesias,
der Chef der Linkspartei UnidasPode-
mos (UP), auf einen vorläufigenKoali-
tionsvertrag geeinigt. Beide Parteien
mussten bei derWahl vom Sonntag Sitz-
verluste hinnehmen,die Sozialisten stel-
len aber die mit Abstand grössteFrak-
tion imParlament.
Vor laufender Kamera umarmten
sich die neuenVerbündeten, die noch
bis vor kurzem ihreFeindschaft offen
zur Schau stellten. Sie versprachen den
Spaniern die Bildung einerprogressiven,
stabilenRegierung für die nächsten vier
Jahre. Der schnelle Sinneswandel ist vor
allem auf denkometenhaftenAufstieg
der rechtsextremenPartei Vox zurück-
zuführen, die zur drittstärkstenFrak-
tion imParlament wurde. In einer sol-
chen Situation sei die Zusammenarbeit
zwischen progressiven Kräften eine his-
torische Notwendigkeit, so Iglesias.

Auf Unterstützung angewiesen


Ministerpräsident Sánchez kündigte an,
dass er in den nächstenTagen für seine
Wiederwahl zum Ministerpräsidenten
Unterstützung bei weiterenParteien su-
chen werde. Die Sozialisten bringen es
mit UP derzeit auf155 der 350Abgeord-
neten im spanischenParlament,doch die
Koalition kann auch auf die neue Links-
partei MásPaís (3Abgeordnete) und die
gemässigten Nationalisten von der PNV
im Baskenland (7Abgeordnete) zählen.
Hierkönnte dierechtsliberalePar-
tei Ciudadanoseine wichtigeRolle ein-
nehmen. Ihr bisheriger Vorsitzender
AlbertRive ra war am Montag zurück-
getreten, nachdem er beim Urnengang
fast 80 Prozent seinerWähler verloren
hatte .Viele von ihnen waren mit seinem
Rechtsruck sowie seiner permanenten
Blockadepolitik nicht einverstanden.
Doch die kleineRestfraktion von10Ab-
geordneten weigert sich bislang, ihr Veto
gegen eine Linksregierung aufzuheben.

Mehrere Ministerien für UP


Der Podemos-Chef Iglesias hatte Sán-
chez noch amWahlabend eineKoali-
tion angeboten,aber klargemacht, dass
er alsGegenleistung erneuteine pro-
portionalgerechte Beteiligungan der
Regierung fordern werde. Dieses Mal
fand er Gehör. Im Koalitionsvertrag
sollen mehrere Ministerien für UP vor-
gesehen sein und für Iglesias das Amt
des Vizepräsidenten.
Bei der Opposition und inWirt-
schaftskreisen wurde derKoalitionsver-
trag zwischen Sánchez und Iglesias kriti-
si ert.Er bedauere, dass sich die Sozialis-
ten für eineradikalePartei entschieden
hätten,sagte der Chef deskonservativen
PartidoPopular, Pablo Casado. Der spa-
nische Arbeitgeberverband CEOE pol-
terte , eine Linksregierung seikontrapro-
duktiv für dieWirtschaft.

Störfeuer aus dem Gazastreif en


Der Schlagabtausch zwischen Israel und dem Islamischen Jihad durchkreuzt Gantz’ Pläne zur Regierungsbildung


INGAROGG, JERUSALEM


Palästinensische Extremisten im Gaza-
st reifen haben am DienstagDutzende
von Raketen und Mörsergranaten auf
zivileZieleinIsraelabgefeuert,nachdem
die israelischeArmee im Morgengrauen
einenKommandanten des Islamischen
Jihadgetötethatte .Inzahlreichen Orten
im Süden und im Zentrum desLandes,
einschliesslich Gebieten im Umland von
TelAviv, blieben Schulen,Behörden und
viele Geschäfte geschlossen, der öffent-
licheTransport wurde eingestellt.
Nach Angaben der israelischen
Streitkräfte feuerten die Extremis-
ten mehr als170 Raketen und Mör-
sergranaten ab.Während einTeil da-
von durch denRaketenabwehrschirm
«Iron Dome» abgefangen wurde, schlu-
gen etliche im freienFeld, aber auch auf
Strassen und in Gebäuden ein. Mehrere
Personen wurden leicht verletzt, unter
ihnen ein achtjähriges Mädchen.


Israel hielt sich zunächst zurück.
Nachdem die Angriffe aber immer hef-
tiger geworden waren, bombardierte
die Luftwaffe mehrere Ziele im Gaza-
streifen.Laut derArmee zielten die
Luftangriffe auf einTrainingscamp und
unterirdischeWaffenlager des Islami-
schenJihad.NachAngabenderGesund-
heitsbehörden in Gaza forderten diese
mindestens fünfTote und dreissigVer-
letzte, unter ihnenmehrereZivilisten.

Luftangriff auch inDamaskus


Mit einem gezieltenRaketenangriff auf
ein Wohnhaus in Ost-Gaza hatte die
israelische Luftwaffe am frühen Diens-
tagmorgenBaha Abu al-Atta getötet,
dernachAngabendesIslamischenJihad
dessen «nördliche Division»komman-
dierte.LautdenExtremistenwurdeauch
AttasEhefraugetötet.Etwazurgleichen
Zeit wurde in der syrischen Hauptstadt
Damaskus einWohnhaus bombardiert,

in demAkram al-Ajuri lebte, der als der
zweite Mann innerhalb des Islamischen
Jihad gilt.Laut syrischen Staatsmedien
wurden Ajuris Sohn und eine weitere
Person getötet sowie zehnPersonenver-
le tzt. Damaskus machte Israel für den
Luftangriffverantwortlich.
Der Islamische Jihad undauchdie
Hamas, die den Gazastreifenkontrol-
liert, drohten nach derTötung von Atta
mit Vergeltung. Die Autonomiebehörde
in Ramallah, die der Hamas spinne-
feind ist,verurteilte die Operation eben-
falls scharf. Viel hä ngt jedoch davon ab,
wie die Hamasreagiert. Die israelische
RegierungunddieArmeebemühtensich,
siemitVorwürfenzuverschonenundden
minuziös geplanten Charakter der Ope-
ration hervorzustreichen. Der Schlag sei
erst erfolgt, nachdem man das Schlaf-
zimmer von Atta genau lokalisiert habe,
sagte NadavArgaman, der Chef des In-
landsgeheimdienstes Shin Bet.Laut dem
amtierendenMinisterpräsidentenBenja-

min Netanyahu hatteAtta,den Israel für
Hunderte von Attacken verantwortlich
macht, unmittelbar bevorstehende An-
griffe geplant.Er sei eine tickendeZeit-
bombe gewesen,sagte Netanyahu.
In derVergangenheit hatten gezielte
Tötungen wie die von Atta mehrfach zu
Kriegen im Gazastreifen geführt. Seit
de m letztenWaffengang 2014 hielten
sich aber sowohl Israel wie die Hamas
weitgehend an denWaffenstillstand.
Der eng mit Iran verbündete Islami-
sche Jihad setzte indes auf Eskalation.
Laut den Israeli versorgten die Iraner
die Extremisten in jüngster Zeit auch
mit Raketen, die Ziele tief im Inneren
des Landes treffenkönnen.

Gantzstützt Netanyahu


Die Eskalationkommtzu einer Zeit,
in der Israel um eine neueRegierung
ringt. Kritik erntete Netanyahu freilich
nur vom linkenLager und derVerei-
nigten Liste der arabischen Israeli. Sie
warfen demRegierungschef vor, mit der
Ope ration politisch punkten zu wollen.
Ayman Odeh von derVereinigten Liste
nannte Netanyahu einen Zyniker, der
in einem «verzweifeltenVersuch ver-
brannte Erde hinterlasse», um sich eine
weitere Amtszeit zu sichern. Der ehe-
maligeArmeechef Benny Gantz,dessen
Bündnis Blau-Weiss in denWahlen im
September die meisten Stimmen holte,
stellte sich dagegen voll und ganz hinter
Ne tanyahu. Der Schlag gegen Atta sei
für die Sicherheit der Israeli und die Be-
wohner im Süden des Landes die rich-
tige Entscheidung gewesen,sagte Gantz.
Damit dürfte sich Gantz dieAussich-
ten, eine mögliche Minderheitsregierung
zu bilden, verspielt haben.Dass der ara-
bische Block ihm dafür die Handreicht,
ist unwahrscheinlich. Nachdem Netan-
ya hu gescheitert war, hat der Präsident
Gantz vor knapp dreiWochen denAuf-
trag zurRegierungsbildung erteilt. Doch
ihm läuft die Zeit davon, er hat nur
noch eineWoche, um Koalitionspart-
ner zu finden. DerrechteBlock rund
um Netanyahustehtjetzt erstrecht ge-
schlossen hinter dem Amtsinhaber.
Gantz hat immer erklärt, er wolle eine
Regierung der nationalen Einheit. Nun
bleibt ihm kaum noch eine andere Wahl,
als in den sauren Apfel zu beissen und –
zumindest für begrenzte Zeit – Netan-
yahu in einer grossenKoalition denVor-
tritt alsRegierungschef zu lassen.

Ausdem Gazastreifen wurden am Dienstag zahlreiche RaketenRichtung Israel abgefeuert. MOHAMMED SABER / EPA


Im Weissen Haus steht ein konfliktreic her Besuch an


US-Präsident Donald Trumpempfängt heute Mittwoch seinen türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan


ULRICHVON SCHWERIN


Nur wenige Staatsführer würden lange
zögern, eine Einladung insWeisse Haus
anzunehmen. Der türkische Staatschef
Recep Tayyip Erdogan hat jedoch einen
ganzen Monat bis vergangeneWoche ge-
wartet, bevorerdie Einladung von Prä-
sident DonaldTrump annahm. Zu gross
waren die Zweifel, ob ihm einTreffen
unterdengegenwärtigenUmständenvon
Nutzen sein würde. Letztlich hat Erdo-
gan aber wohl erkannt, dass ein direktes
Gespräch mitTrump derzeit seine beste
Chance ist, eine weitere Verschlechte-
rung der Beziehungenzuverhindern.


Lange Liste offener Fragen


Schon früher gab es Krisen zwischen
Washington und Ankara, doch so an-
gespannt wie jetzt war dasVerhältnis
noch nie. Das Misstrauen derTürken
gegenüber den USA wird derzeit wohl
nur übertroffen von der Ablehnung, die
der Türkei im US-Kongress entgegen-
schlägt. Nirgendwo wardies deutlicher
als im Beschluss desRepräsentanten-
hauses Ende Oktober, die Massaker an
den Armeniern im OsmanischenReich
als Völkermord anzuerkennen. In den
vergangenenJahrzehnten waren immer


wiederentsprechendeResolutionen ein-
gebracht worden, doch hattendieAbge-
ordneten ihnen stets die Mehrheit ver-
weigert ausRücksichtauf ihren Nato-
Partner. Offenbar sind sie dazu nicht
länger bereit.Vielmehr bereitet derKon-
gress schmerzhafte Sanktionen vor, um
die Türkei für den Kauf der russischen
Luftabwehrrake ten S-400 und für ihre
Offensive in Nordsyrien zu bestrafen.
Vor einem Gericht in NewYork be-
gann zudem im Oktober nach jahre-
langerVorbereitung ein Prozess gegen
die türkische Halkbank wegen mög-
licherVerstösse gegen Iran-Sanktio-
nen. In demFall geht es um umstrit-
tene Goldgeschäfte des iranischen Ge-
schäftsmannsReza Zarrab, in die auch
ErdogansFamilie verwickelt gewesen
sein soll. Eine Bestrafung des staat-
lichen Geldinstitutskönnte die ohne-
hin angeschlagene türkischeWirtschaft
weiter destabilisieren.
Zu Erdogans schlechtem Image in
Washington hat auch beigetragen, dass
seine Leibwächter beim letzten Besuch
in der US-Hauptstadt auf Demonstran-
ten losgegangen waren. Im US-Kon-
gress kanner daher immer weniger auf
Unterstützung hoffen. Um Sanktionen
zu vermeiden, ist Erdogan umso mehr
auf Trumpangewiesen.

Die beiden Männer pflegen trotz den
vielfältigenKonflikten einrecht gutes
Verhältnis. Erdogan ist es im direkten
Gespräch mitTrump schon mehrfach
gelungen, wichtige Zugeständnisse zu
erreichen.So ordneteTrump nach einem
Telefonat mit ErdoganAnfang Oktober
den Abzug aller amerikanischen Solda-
ten aus Nordsyrien an und machte damit
den Weg für die lange angedrohte Mili-
täroffensive derTürkei gegen die kur-
dischen Volksverteidigungseinheiten
(YPG) frei. DieTürkei hatte seitJahren
auf den Stopp der amerikanischen Mili-
tärhilfe für die syrischeKurdenmilizge-
drängt.Sie bet rachtet die Gr uppe als Be-
drohung, da sie eng mit den kurdischen
PKK-Rebellen in derTürkei verbunden
ist. Dass die USA die YPG alsPartner
im Kampfgegen den Islamischen Staat
(IS) gewählt haben, hat in Ankara für
dauerhafteVerstimmung gesorgtund
das ohnehin tief verwurzelte Misstrauen
gegenüber den USA verstärkt.
Angesichts all dieserKonflikte geht
es bei Erdogans Besuch inWashington
in erster Linie um Schadensbegren-
zung. Der türkische Präsident wird vor
allem darum bemüht sein,Trump da-
von zu überzeugen, die Sanktionen zu
blockieren, die im US-Kongress inVor-
bereitung sind. Allzu grosse Hoffnung

sollte er nicht aufTrump setzen. Denn
der amerikanische Präsident hat schon
wiederholtVereinbarungen mit der
Türkei gebrochen und abrupt denKurs
gewechselt.

PopulärerAntiamerikanismus


Schon Ende letztenJahres hatteTrump
auf Drängen Erdogans den Abzug der
US-Truppen aus Syrien angeordnet,
doch den Beschluss kurz daraufrevi-
diert.Auch seine Entscheidung zumAb-
zug im Oktober kassierteTrump wieder,
nachdem er dafür in seinerPartei unter
heftigen Beschuss geraten war. Nun sol-
len docheinige hundert amerikanische
Soldaten inSyrien bleiben, um die Öl-
felder derKurden zu schützen.Auch an
der türkischen Grenze sind sie weiter
präsent.In dieser Situation wird Erdo-
gan kaum zu grossen Zugeständnissen
bereit sein. Erreitet in derTürkei seit
Beginn der Offensive auf einerWelle
des Nationalismus. Die grosse Mehrheit
der Türken steht hinter seinemKurs in
Nordsyrien. Die Spannungen mit den
USA nützen ihm,da sie den tief verwur-
zeltenAntiamerikanismus vielerTürken
bestätigen. Gelingt es ihm inWashing-
ton, weitere Sanktionen zu verhindern,
dürfte er bereits zufrieden sein.

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