Neue Zürcher Zeitung - 13.11.2019

(Barry) #1

FEUILLETON Mittwoch, 13. November 2019 Mittwoch, 13. November 2019 FEUILLETON


Wo wir sind,


ist vorne.


Die neue


globale Elite


Einst waren die Eliten konservativ, doch das hat sich


mit der Globalisi erung grundlegend geändert: Heute


kommen sie jung daher, kumulieren viel kulturelles


Kapital und arbeiten inZukunftsbranchen. Mit ihrer


Moral stossen sie aber auf Widerstand.


Von Alex ander Grau


DasWoher spielt keineRolle mehr für die globalen Eliten, vonBedeutung ist nurmehr dasWohin. ANUSHREEFADNAVIS / REUTERS

«Die herrschenden Ideen einer Zeit
waren stets nur die Ideen der herrschen-
den Klasse», heisst es im «Kommunis-
tischenManifest». Und in der «Deut-
schen Ideologie» schreibt Karl Marx er-
gänzend:Jede herrschende Klasse «ist
genötigt, (...) ihr Interesse als das ge-
meinschaftliche Interesse aller Mitglie-
der der Gesellschaft darzustellen, d.h.
ideell ausgedrückt: ihren Gedanken die
Form der Allgemeinheit zu geben, sie als
die einzig vernünftigen, allgemein gülti-
gen darzustellen».
Machenwireskurz:Marx hatterecht.
Die herrschenden Ideen einer Zeit, ihre
herrschende Ideologie undWeltsicht
sind nichts anderes als die Idee der
herrschenden Klasse. Und selbstver-
ständlich besteht derTr ick zur Legiti-
mation dieser Ideologie der herrschen-
den Klasse darin,sieeben nicht alsAus-
druck irgendwelcher Teilinteressen
erscheinen zu lassen, sondern alsAus -
druck der Interessen der Gesamtgesell-
schaft–oder nochbesser: der gesamten
Menschheit und allgemeingültiger, ver-
nünftiger, universaler Prinzipien.
Das war vor170 Jahrenso, das hat sich
bis heute nichtgeändert.Mehr noch: Nie
zuvor gab es eine herrschende Klasse,
die ihreWeltsicht, ihren Lebensstil und
ihreWerte so eindeutig als die allein
«vernünftigen, allgemein gültigen» pro-
pagiert hat wie in unserer Gegenwart.
Das lohnt die Analyse.


Die moderneAvantgarde


Aber, wird vielleicht der eine oderan-
dere einwenden, ist Marx’Theorie, also
eineTheorie des19.Jahrhunderts und der
damaligen Klassengesellschaft, auf spät-
moderneWohlfahrtsstaaten anwendbar?
Verfügen solche Gesellschaften über-
haupt noch überFormationen, die als
herrschende Klasse bzw. Elite beschrieben
werdenkönnen? Ist dieVorstellung einer
Elite in einer vonWerten wie Gleichheit


undGleichberechtigung geprägten Ge-
sellschaft nicht ohnehin obsolet?
Nein, ist sie nicht. Denn jede Zeit hat
ihre eigenen Eliten. Und ein wesent-
lichesSignum von Eliten in modernen
Massengesellschaften ist es, dass sie
keine elitären Zirkel sind, sondern eine
gegenüber Eliten vergangenerJahrhun-
derte vergleichsweise grosse Gruppe.
Der amerikanische Ökonom Richard
Florida schätzt in seinem Buch«T he
Rise of the Creative Class» besagte
Elite auf etwa dreissigProzent der Be-
völkerung. Dieses Drittel definiert sich
naturgemäss nicht über seine Minder-
zahl, sondern über sein kulturelles Ka-
pital, dessenWertschöpfung sichvonder
Wertschöpfung traditionellen kulturel-
len Kapitals grundlegend unterscheidet.
Denn erstmals in der europäischen
Kulturgeschichte definiert sich eine
Elite über ihre Modernität, ihreFort-
schrittlichkeit. Die neue Elite, sie ist
dezidiert progressiv. Mehr noch:Wahr-
scheinlich überwiegendunbewusst und
mehr oder minder unreflektiert sind
diese Eliten gefangen in einem teleolo-
gischen Geschichtsbild.
Dieses Bild basiert fest darauf,dass
die Geschichte auf den Sieg des west-
lichen, universalistischen Linksliberalis-
mus hinausläuft und dass dieWelt – von
Islamabad überTeheran bis Pjongjang


  • sich in nicht allzu ferner Zukunft in
    eine Art grosses NewYork verwandelt
    haben wird, multikulturell, kreativ, tole-
    rant und offen. Dies ist ein Ort, an dem
    Menschen nicht mehr bestimmt sind von
    Herkunft, Sozialisation,Religion,Tradi-
    tion oder Geschlecht, sondern sich voll-
    ständig selbst entwerfenkönnen.
    DieEliten der Spätmoderne sehen
    sich,anders als die traditionellen Eliten
    von der Antikebis in die Neuzeit hin-
    ein,nichtals Hüter des Ewigen, sondern
    als Speerspitze desFortschritts. Das ist
    eineKulturrevolution ungeahntenAus-
    masses.


Waren noch bisin das20.Jahrhun-
dert hinein die Eliten Europas weitge-
hendkonservativ, um die herrschende
Ordnung gegen das notgedrungen pro-
gressive Proletariat zu verteidigen, so
hat sichdieseFrontstellung in den west-
lichenWohlfahrtsgesellschaften umge-
kehrt. Denn unter den Gegebenheiten
einer globalisiertenWeltwirtschaft sind
es vor allem die vom Sozialstaat Ab-
hängigen, die dazu neigen,amAlther-
gebrachten festzuhalten, während die
Etablierten und Erfolgreichen jedem
kulturellen und technischenTr end hin-
terherhecheln.
Indem sich die neuen Eliten vor
allem über ihre Progressivität definie-
ren, entfremden sie sich von den kul-
turellenWurzeln ihrer jeweiligen Her-
kunft. Die neuen kulturellenTr ennlinien
zwischen den Lebenswelten verlaufen
nicht länger vertikal zwischen denregio-
nalenKulturen, sondern horizontal.
Etwas vereinfacht und klischee-
haft: Dem IT-Spezialisten eines gros-
sen Softwareunternehmens sind seine
Kollegen aus Spanien, Indien und Uru-
guay gegebenenfalls näher als das klein-
bürgerlicheVorstadtmilieu, dem er ent-
stammt. Der Identifikationsraum kippt
vomRäumlichen und Diachronen ins
Synchrone der jeweiligen Gewohnhei-
ten und Präferenzen. Der Habitus die-
ser Elite wird nicht bestimmt durch die
Tr aditionen ihrer Heimat und Herkunft,
sondern durch dieRegeln, die Moden,
die Denkungsart und den Lifestyle ihrer
global präsenten Klasse.

Der Konflikt: einKulturkampf


Das führt zwangsläufig zuKonflikten
mit jenen Menschen, die in der dia-
chron undräumlich verortetenWelt le-
ben.Denn hier werden nicht einfach nur
andereWerte gelebt. Der Dissensbe-
steht schon hinsichtlich der Grundlage
der jeweiligenWerte, Ideale und Ziele.

Der Soziologe AndreasReckwitz hat
in diesem Sinne vollkommen zuRecht
darauf hingewiesen,dass derKonflikt
zwischen moderner Elite und traditio-
nellem Kleinbürgertum in zweikonkur-
rierendenKulturalisierungsmodellen be-
steht und damit letztlich in zwei grund-
legend anderenAuffassungen vonKul-
tur. Nach demKulturalisierungsmodell
der Elite –Reckwitz nennt es «Hyper-
kultur» – sind die Güter der kulturellen
MärkteRessourcen zur Entfaltung indi-
vidueller Besonderheit und Expressivi-
tät, kurz:Mittel zur Selbstverwirklichung.
Das globale Angebot anFolklore,
Design, Musik und Sinnnarrativen
wird zu einemPatchwork individueller
Selbstgestaltunggenutzt. Entsprechend
werden Diversität, Pluralismus undKos-
mopolitismus zu Meta-Werten dieser
Hyperkultur.
Ihr gegenüber steht das, wasReck-
witz «Kulturessenzialismus» nennt, also
das Pochen auf grundlegendeTr adi-
tionen, die nicht oder zumindest nicht
grundlegend infrage gestellt werden und
sich aus lokalenRessourcen speisen.
Eine friedlicheKoexistenz beiderKul-
turentwürfe ist nur möglich, wenn die
beidenFraktionen sich in ihrem jeweili-
gen Sinne missverstehen. Das bedeutet:
wenn die globalen, progressivenSelbst-
verwirklicher denKulturessenzialismus
ihrer Gegenüber lediglich als eine wei-
tere Spielart,einenweiteren Lifestyle,
eine weitere Mode individueller Identität
begreifen und umgekehrt dieKultures-
senzialisten die Hyperkultur der Selbst-
verwirklicher als spezifischeForm west-
licherKultur und Identität. Sobaldaber,
soReckwitz, «die beidenKulturalisie-
rungsregimes einander (...) tatsächlich
alsein je spezifischesKulturalisierungs-
regime wahrzunehmen beginnen, sehen
sie sichinihrer Grundlage bedroht und
behandeln die andere Seite feindlich».
DieFolge dieser ungleichen, sich
widersprechendenKulturalisierung ist

Die modernen Eliten
wollen nicht mehr elitär
sein, sondern geben
sich allein schon
äusserlich lässig,
jugendlich, casual
und sportlich.

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