Neue Zürcher Zeitung - 13.11.2019

(Barry) #1

Mittwoch, 13. November 2019 SPORT43


Der tiefe Fall des alten Mannes


Die Eishockey-ReporterikoneDon Cherry wird wegen xenophober Auslassungen entlassen –dem Kanadiergelangdie Transition in die Moderne nicht


NICOLA BERGER


Es gab eine Zeit, da war Donald Stewart
Cherry eine Art kanadisches National-
heiligtum. Er gehörte zum Inventar des
Gassenhauers «Hockey Night In Ca-
nada», er erklärte der Nation ein biss-
chen dieWelt,eishockeytechnisch ge-
sehen.Cherry hatte eine hohe Glaub-
würdigkeit, schliesslich hatte er in den
1970erJahren erst die Boston Bruins
und dann die ColoradoRockies trai-
niert.1981 war er kanadischer Natio-
naltrainer.
Als Medienvertreter war er einer
jener Menschen, die Eishockey früh
nicht nur als Sport, sondern auch als
Entertainment begriffen. Schon in
den1980erJahren gab erVideokasset-
ten heraus, die «Rock’em, Sock’em»-
Reihe, in denen der Unterhaltungs-
wert der NHL in seiner ganzen Pracht
zu bestaunen war; Checks,Tore,Faust-
kämpfe. Die Medienträger waren auch
in der Schweiz beliebt, sie begeisterten
in den1990erJahren eine ganze Gene-


ration vonJugendlichen für Eishockey
nach nordamerikanischem Schlag.
Die1980erJahre, VHS, das ist alles
wahnsinnig lange her.Aber Don Cherry
war noch immer da, irgendwie, auch mit
85 Jahren. Die Canadian Broadcasting
Corporation (CBC)bot ihm eine Platt-
form, den «Coach’sCorner», auf der
Cherry ungefiltert seineWeisheiten in
dieWelt hinaustrug.

Ein öffentlicher Zerfall...


Mankonnte seinem Zerfall zuschauen,
er geschahsehr öffentlich, es gab un-
zähligeKontroversen. Als Alpo Suho-
nen, der ehemalige Coach des SC Bern
und des EHC Kloten,1989 als Assistenz-
trainer für dieWinnipegJets arbeitete,
bezeichnete Cherry ihn als «eine Art
Hundefutter». Einmal behauptete er,
Hirnerschütterungen beiFaustkämpfen
auf dem Eis seienkein Problem, wenn
nur die richtigen Spieler kämpfen wür-
den. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits
mehrere ehemalige «Enforcer», die noch

in diesemJahrhundert so gut wie exklu-
siv für Boxeinlagen beschäftigten Pro-
fis, an den Spätfolgen von Hirnschäden
gestorben. 20 18 verleugnete er die Exis-
tenz des menschengemachten Klima-
wandels.Wer daran glaube, sagteCherry,
sei ein «Cuckaloo», ein Begriff, den er
ebenso frei erfunden hatte wieseinege-
rade gemachte Behauptung.
Vor langer Zeit war Cherry mit sei-
nem losen Mundwerk, seinem Ego und
seinen Showman-Qualitäten eine Berei-
cherung für dieTV-Landschaft; er ver-
stand es, aus jeder noch so trivialenPar-
tie ein Erlebnis zu machen. Doch zuletzt
war sein Unterhaltungswert meist unfrei-

willig, er sorgte oft für Ärger.Aber die
Menschen verziehen Cherry immer wie-
der, weil man ihm nicht richtig böse sein
konnte in seinen albernen Anzügen. Ein
bisschen erinnerte er an jenen schrulli-
gen, leicht senilen Urgrossvater, der an
derFamilienweihnachtsfeierrassistisch
gefärbten Unsinn vonsichgibt, bei dem
man aber versucht, nicht hinzuhören und
sich miteinem SchussResignation sei-
nenTeil einfach nur zu denken.
AufTwitter gibt es einen Don-Cherry-
Account, der in Grossbuchstaben aber-
witzigeThesen herausschreit. Es ist ein
gefälschtesKonto, aber das gezeichnete
Bild des grundlos wütenden, unkontrol-
liert herumschreienden alten weissen
Mannes ist so falsch nicht.
Doch nun hat Cherry sich die eine
Entgleisung zu viel geleistet. In Kanada
pflegt man mit einer metallenen Mohn-
blume als Anstecker der im ErstenWelt-
krieg Gefallenen zu gedenken. Diese
Tr adition sterbe aus, zürnte Cherry,
und zwar der Immigranten wegen: «Ihr
Leute liebt es, hierherzukommen, ihr

liebt unsere Milch und unseren Honig.
Dannkönntet ihr wenigstens ein paar
Dollar für eine Mohnblume ausgeben.
DieseJungs bezahlten für den Lebens-
stil, den ihr in Kanada geniesst.»
DerAufschrei war gross, Kolumnis-
ten forderten die Entlassung – und auf
der offiziellenWebsite der CBC taten
es ihnen so viele Leute gleich, dass das
Netzwerk das offizielle Beschwerdefor-
mular kurzzeitig deaktivierte.

... und öffentlicher Druck


Der öffentliche Druck wirkte: Am Mon-
tagabend wurde Cherry entlassen, nach
fast vierzigJahren. Sein Ende alsTV-
Analyst hat etwasTr agisches; Cherry
war ein irgendwie in derGegenwart ge-
fangenesRelikt derVergangenheit.
Es istkeine einfache Herausforde-
rung, inWürde zu altern, gerade alsPer-
son des öffentlichen Interesses.Don
Cherry, so viel lässt sich nicht erst seit
seinem jüngstenFehltritt sagen, hat das
nicht geschafft.

Ein Schimmer Hoffnung

Roger Federers Ausgangslage anden ATP-Finals bleibt trotz dem Sieg gegen Matteo Berrettini schwierig


DANIEL GERMANN, LONDON


Der Schlüssel zum Erfolg steht auf der
Seite 5 desTurnierprogramms. Unter
demTitel «FastFacts» ist bis ins letzte
Detail aufgelistet, was nun exakt passie-
ren muss, damitRogerFederer an den
ATP-Finals in London im17.Anlauf
doch noch seinen16.Halbfinal erreicht.
Wobei «FastFacts» im Prinzip ein
irreführenderTitel ist. Eine schnelle
Antwort auf dieFrage gab es auch nach
dem 7:6-6:3-SiegFederers gegen den
Italiener Matteo Berrettini nicht. Seine
Ausgangslage hing vom Abendmatch
zwischen Novak Djokovic und Dominic
Thiem ab (nachRedaktionsschluss). Si-
cher ist einzig: Federer hat sein Schicksal
wieder in den eigenen Händen.
So weit, so verwirrend.
Tennis ist im Prinzip eine einfache
Sportart.Wer gewinnt,kommt eine
Runde weiter. Für denVerlierer ist das
Turnier zu Ende. Doch amATP-Final-
turnier werden die vier Halbfinalisten in
zwei Gruppen mit je sechsPartienermit-
telt.Das führt immer wieder zuKonfu-
sion. Ihren Höhepunkt hatte sie vor ge-
nau zehnJahren erreicht, als sichFede-
rer trotzeiner Niederlage imletzten
Gruppenspiel gegenJuan Martín Del


Potro aufKosten von Andy Murrayfür
di eHalbfinals qualifizierte.Die ATPer-
höhte damalsdas Chaos zusätzlich mit
widersprüchlichenAussagen, die sie erst
korrigierte,alsFederer bereits gegen
den Argentinier auf dem Platz stand.

Jüngstselt en überzeugt


Vielleicht sagteFederer auch deshalb am
Dienstag nach seinem Match gegen Ber-
rettini, er werde jetzt nicht anfangen zu
rechnen. «Irgendwann werde ich ohne-
hin hören, was es braucht. Ich gehe da-
von aus, dass ich gegen Djokovic gewin-
nenmuss, um eine Chance zu haben, wei-
terzukommen. In diese Situation habe
ich mich selber gebracht. Ich bin nur
schon froh, dass ich meine Saison nicht
mit drei Niederlagen inFolge beende.»
Das waren erstaunlicheWorte von
einem, der dasATP-Finalturnier be-
reits sechsmal und öfter als alle ande-
ren gewonnen hat.Wahr ist aber eben
auch, dassFederers letzter Sieg am Sai-
sonschlussturnier acht Jahre zurück-
liegt. Und wahr ist, dass er in der zwei-
ten Hälfte der laufenden Saison nur
noch selten überzeugt hat. Der zehnte
Titel vor zweiWochen an denSwiss In-
doors inBasel schönt seine Bilanz. Sonst

aber hatte er mit Niederlagen in Cincin-
nati gegen AndreiRublew, am US Open
gegen Grigor Dimitrow und in Schang-
hai gegen Alexander Zverev einen we-
nig überzeugenden Eindruck hinterlas-
sen. Am Sonntag unterlagFederer im
erstenTurnierspiel in London zum drit-
ten Mal in dieser Saison DominicThiem.
Vor allem, dass er gegen den Österrei-
cher zweimal gegen Ende des Satzes
gebreakt wurde, wenn dieRoutine den
Vorteil eigentlich auf seine Seite hätte
schieben sollen, hat ihn verunsichert.
Entsprechend fahrig und uninspiriert
begann er den Match gegen Berrettini.
DieFehlerquote war bei beiden Spie-
lern hoch, der Unterhaltungswert ent-
sprechend tief. Der Match zog sich mit
der Zähigkeit eines bunten Nachmittags
ineinem Seniorenheim dahin.Federer
fand immerhin imTie-Break des ers-
ten Satzesetwas besser ins Spiel und
schöpfte aus diesem danach die Sicher-
heit, um den Match ohne grösseres Zit-
tern zu einem guten Ende zu bringen.
Tr otzdem trittFederer bis jetzt in
London ganz und gar nichtwie ein künf-
tigerTurniersieger auf. Die Leichtigkeit,
die ihn inBasel inRekordzeit zu seinem
103.Titel getragen und seine eigenen
Hoffnungen geschürt hatte, die Saison

amATP-Finalturnier mit einem grossen
Titel zu beenden, geht ihm völlig ab.
Basel ist nicht London. An denSwiss
Indoors war sein bestklassierterWider-
sacher derWeltranglisten-Siebente Ste-
fanos Tsitsipas gewesen, der sich in der
Woche davor erstmals für denATP-Fi-
nal qualifiziert hatte und deswegen mög-
licherweise nicht mit letzterKonzentra-
tion auf dem Platz stand. Nun, in Lon-
don, bestehtFederersKonkurrenz aus-
schliesslich ausTop-Ten-Spielern. Und
der nächste Gegner ist mit Novak Djo-
kovic der wohl schwierigste, auf den er
im Moment treffen kann. Der 32-jährige
Serbe führt dieWeltrangliste zwar im
Moment nicht mehr an, doch in der Halle
ist er seit einem halbenJahrzehnt die un-
umstrittene Nummer1. Bei den letzten
sechsTeilnahmen in London hat Djoko-
vic denFinal immer erreicht und diesen
auch viermal gewonnen – zweimal nach
einem Sieg gegenFederer; ein drittes Mal
konnte der Schweizer wegen eines blo-
ckiertenRückens gar nicht antreten.

Der SchattenWimbledons


DieBilanz spricht für Djokovic: Er führt
in den Direktbegegnungen mit 26:22
Siegen. Und vor allem hat er seit sei-
nem erstenAufstieg an dieWeltrang-
listenspitze imFrühjahr 2011 20 von 29
Partien gegenFederer gewonnen.Fede-
rers jüngste Niederlage vor fünf Mona-
ten im dramatischenFinal vonWimble-
don sorgt für zusätzliche Brisanz. Der
Schweizer hatte damals beim Standvon
8:7 im Entscheidungssatz zwei Match-
bälle vergeben, ehe er den Match beim
Stand von 12:12 im neu eingeführten
Tie-Break verlor.
Die Niederlage inWimbledon war
fürFedererTr auma und Tr aum zu-
gleich. Sie zerstörteauf denkbar bru-
talsteWeise die Hoffnung auf den neun-
tenTitel an der Church Road. Gleich-
zeitig zeigte sie ihm auch, wie nahe er
noch mit 38Jahren an denWeltbesten
ist. Am Mittwoch sagte er: «Letztlich
spielte ich dort einen hervorragenden
Match, ja ein hervorragendesTurnier.
Ich habe in derRunde zuvor Nadal ge-
schlagen. Nun freue ich mich, wieder
gegen Djokovic anzutreten.Wichtig ist
einzig,dass ich mich auf daskonzen-
triere, was ich am besten kann.»
Das beginnt beiFederer mit dem
Aufschlag,und der war gegen Berret-
tini besser als noch zweiTage zuvor
gegenThiem. Alles Grosse beginnt mit
einem Hoffnungsschimmer. Federer hat
in London noch alles andere als über-
zeugt. Die eigeneVerunsicherung be-
gleitete ihn bis an die Medienkonferenz.
Doch der Modus hilft ihm, dasser das
Turnier doch noch gewinnen kann.

Aufder Suche nachder Leichtigkeit:Roger Federer in London. TONY O’BRIEN / REUTERS


APROPOS


Trikot für den


grossen Coup


Samuel Burgener· Der Schweizerische
Fussballverband und dessen deutscher
Ausrüster Puma haben am Dienstag
das neueAuswärts-Trikot des Natio-
nalteams vorgestellt. Es siehtkeck aus,
frisch und froh. Es ist in der fadenWelt
der unifarbenen Nationalteam-Leib-
chen: ein Coup.
Zum ersten Mal in der Geschichte
werden die StammfarbenRot undWeiss
bunt bereichert.Auf der Brust desTr i-
kots prangen farbige Streifen auf weis-
sem Grund; sie formen sich zu einer
Bergkette, sollenTr adition symbolisie-
ren. DieFarben der Streifen – Pink, Lila,
Türkisgrün undRostbraun – stehen für
die vierLandessprachen, für Offenheit
undVielfalt – und im weiteren Sinn für
Diversität im ethnischen, geschlecht-
lichen, sexuellen, kulturellen undreli-
giösen Bereich. Die wichtigstenFuss-
ballteams der Schweiz erhalten nach
Jahren der stilistischen Entbehrungend-
lich ein Leibchen, das denWerten des
Landes entspricht. Es sindWerte, welche
die Spielerinnen und Spieler desVer-
bandes in ihrerVerschiedenheit längst
auf dem Platz verkörpern und aus denen
sie Kraft ziehen.
DerVerband und Puma hätten für
die Europameisterschaft 2020 ein wei-
teres belangloses, biederes Shirt kreie-
ren können. Doch sie haben Mut bewie-

sen. Mut für einen grossenWurf. Mut,
der den SchweizerFussballern etwa im
Achtelfinal an der WM 20 18 inRussland
gegen Schweden gefehlt hat.
Das Schweizer Nationalteam hat
fünfmal in einemAchtelfinal eines gros-
senTurniers gespielt und ist immer ge-
scheitert. Im Sommer will es endlich
weiter nach vorne preschen. Um Gros-
seszuschaffen,muss man manchmal
weiter denken, etwas wagen,etwas an-
stossen.Dasneue Leibchen des Natio-
nalteams muss als Anfang einer Kam-
pagne verstanden werden.Jetzt sind die
Fussballer gefordert.

Don Cherry
REUTERS Ehemaliger TV-Analyst

Keck:das Schweizer EM-Trikot. SFV
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