Neue Zürcher Zeitung - 13.11.2019

(Barry) #1

Mittwoch, 13.November 2019 INTERNATIONAL


Vom Kokapflanzer zum Staatschef


Evo Morales hat tr otz Linksrhetorik Bolivien eherpragmatisch regiert – aber schliesslich zu vielGefallen an der Macht gefunden


Der zurückgetretene Präsident


hatsich ins Exil nach Mexiko


abgesetzt. Obdamit nun seine


aussergewöhnliche Karriere zu


Ende istoder nicht – Bolivien ist


nach vierzehnJahren seiner


Führung ein in mancherHinsicht


positiv gewandeltesLand.


PETERGAUPP,SAN JOSÉ DE COSTA RICA


Es ist eineLaufbahn, wie sie nur weni-
gen beschieden ist.Aus ärmstenVerhält-
nissen ist Evo Morales zum Präsidenten
seinesLandes aufgestiegen, der erste
indigener Abstammung und der am
längstenRegierende. Mit der simplen
Einordnungauf der linkenSeite des
politischen Spektrums wird man dieser
komplexenPersönlichkeit nicht gerecht.


Kindheit in Armut


In einer bäuerlichen Aymara-Fami-
lie1959 im Altiplano geboren, lernte
Morales früh, was Armutund Hunger
ist.Vier von sechs Geschwistern starben
jung. Dass er von klein auf zurFeldarbeit
und zum Hüten vonLamas und Scha-
fen herangezogen wurde, war selbst-
verständlich.Auch als Präsident billigte
er Kinderarbeit als praktische Lebens-
schule, sofern sie nicht aufKosten von
Gesundheit undAusbildung ging.
1978 liess sich die Familie in der
Region Chapare im niedriger gelegenen
Osten Boliviens nieder, wo dieAussich-
ten auf ein menschenwürdigesAuskom-
men in derLandwirtschaft besser waren.
Zu denProdukten gehört dort dieKoka-
pflanze. Evo machterasch Karriere in
denVereinigungen der Cocaleros.
Hier liegt dieWurzel seiner tiefen
Abneigung gegenWashington. Unter
dessen Druck verschrieben sich die da-
maligen bolivianischen Regierungen
einer Ausmerzungspolitik gegen die
Kokakulturen. Diese liess ausser acht,
dassKokablätter als traditionellesKon-
sumgut der Indigenen nicht mit der aus
ihnen chemisch hergestellten DrogeKo-
kain gleichzusetzen sind. Die Pflanzer
und ihre Organisationen wehrten sich
mit Protesten und Strassensperren; Zu-
sammenstösse mitPolizei und Armee
fordertenTote undVerletzte.
Als Morales, ab 1993 Parlaments-
abgeordneter, imJahr 2002 erstmals für
die Linkspartei Movimiento al Socia-
lismo (MAS) zur Präsidentschaftswahl


antrat, drohte der US-Botschafter inLa
Paz,Washington würde die Entwick-
lungshilfe einstellen und den Markt für
Importe aus Bolivien schliessen, falls
Morales gewählt würde. Dies half freilich

dem MAS,zweitstärkstePartei zu wer-
den. DreiJahre später wurde Morales
erstmals mit 54Prozent der Stimmen
zum Staatschef gewählt.2008 verwies
er den amerikanischen Botschafterund

die Drug EnforcementAdministration
desLandes,2013 auch die Entwick-
lungshelfer der USAID. Den traditio-
nellenKokaanbau förderte undregu-
lierte seineRegierung, die Bekämpfung
der Produktion und des Schmuggels von
Kokain hielt sie nicht für ihreAufgabe.
Von der lateinamerikanischen Lin-
ken unterFührungFidel Castros und
Hugo Chávez’wurde Morales früh ge-
fördert. Berührungsängste mit ihnen
zeigte er nicht, doch ihren Ideologien
schloss er sich in seinenTaten weniger
an als in seiner Rhetorik. Zwar ver-
staatlichte er als Präsident dieErdgas-
und Erdölproduktion und einenTeil
der übrigen Industrie. Darüber hinaus
liess er jedoch die Privatwirtschaft, von
Steuererhöhungen abgesehen, ebenso
unangetastet wie die politischenFrei-
heiten. Bolivien war auf die vonKuba
undVenezuela gewährte Bruderhilfe
kaumangewiesen.
Zunächst kündigte Morales auch den
internationalenWirtschaftsorganisatio-

nen alsVerkörperung eines «neolibe-
ralen Neokolonialismus» dieFreund-
schaft. Später indessen erhielt er vom
IMF Lob für die gesundeFinanzpolitik
seinerRegierung. Die dank den Natio-
nalisierungen stark gestiegenen Staats-
einnahmen wurden für Infrastruktur-
projekte und sozialeVerbesserungen
ehervorsichtig eingesetzt, die Schulden
gesenkt. Soresultierte baldein anhal-
tendesWirtschaftswachstum, das brei-
ten Schichten, vor allem auch der indi-
genen Bevölkerungsmehrheit, zugute-
kam. DieArmut ging markant zurück.

Erfolgreiche Mischwirtschaft


Die bisher inWirtschaft und Poli-
tik dominierenden Kreise, vorwie-
gendWeisse und Mestizen, fanden sich,
wenn auch widerwillig, mit der Misch-
wirtschaft à la Evo ab.Auch eine von
Morales propagierteLandreform, die
sich auf dieVerteilung von ungenutz-
tem Grossgrundbesitzkonzentrierte,

hattekeine einschneidenden und poli-
tisch brisanten Folgen. Eine2009 in
einem Volksreferendum gutgeheis-
sene neueVerfassung erklärte Bolivien
zum «plurinationalen» Staat,gewährte
Regionen und Eingeborenengruppen
Teilautonomie, trennte Staat und Kir-
che, führte sozialeRechte ein, zemen-
tierte die Wirtschaftsreformen und
unterstellte alle Bodenschätze staat-
licherKontrolle.
Um sich seine politischeBasis zu er-
halten,gab Morales auch als Präsident
die leitende Stellung imVerband der
Kokabauern nicht ab. Seine Herkunft
unterstrich er, indem er indigene Klei-
dung trug und an traditionellen Zere-
monien teilnahm. Die zunächst hohe
Quote indigenerRegierungsmitglieder
sank jedoch stetig, während dieSym-
ptomeeinesPersonenkults umden Prä-
sidentensich häuften.

Abnutzung und Hybris


MitTeilen der indigenen Bevölkerung
überwarf Morales sich, als sein auch auf
internationaler Bühne propagierter Ein-
satz für diePachamama (Mutter Erde)
zunehmend rhetorischen Charakter an-
nahm, da die forcierteAusbeutung der
Bodenschätze und die Erschliessung
des östlichenTieflands für denFern-
verkehr wenigRücksicht auf Stammes-
gebiete und Naturreservate nahmen.
DiesesJahr gab es auch Proteste, weil
dieRegierung zu wenig gegen illegale
Brandrodungen tat.
Morales’ von Beginn an polarisie-
render Regierungsstil wurde zuneh-
mend autoritär. Gewerkschaften, die
Morales lange unterstützt hatten, wand-
ten sichvon ihmab.AusWirtschafts-
kreisen wurde immer heftiger kriti-
siert, dass in der Phase starkenWachs-
tums die Diversifizierung nicht ge-
fördert wurde. Gegen die in Bolivien
traditionellenFormen desWiderstands


  • Märsche derLandbevölkerung auf
    die Städte, Streiksder Minenarbeiter,
    handfeste Proteste und Strassensper-
    ren – war auch der indigene Staats-
    chef nicht gefeit. Und auch er geneh-
    migte harte Einsätze der Sicherheits-
    kräfte gegen dieRebellierenden.Voll-
    ends verlor er die Bodenhaftung, als er
    sich an der Macht perpetuieren wollte
    und dafür dasRecht zu beugen und zu-
    letzt einWahlergebnis zu verfälschen
    bereit war, weil ihm dieWähler die zu-
    vor dreimal gewährte klare Mehrheit
    verweigert hatten.


Evo Morales unterstrichseineHerkunft alsKokabauerauchdadurch, dasseri ndigene Kleidung trug. JUAN KARITA / AP

Warum sich die Armee so rasch von Morales abgewendet hat


Anders als in Venezuela ist in Bolivien die Verbandelung vonMilitär und Regierung begrenzt


WERNERJ. MARTI


Die bolivianische Armee hat zusam-
men mit der Organisation Amerika-
nischer Staaten (OAS)eine Schlüssel-
rolle beimRücktritt von Evo Morales
gespielt. NachderWahl vom 20. Okto-
ber kamen immer mehr Anzeichen
fürWahlbetrug zumVorschein – allen
voran die unerklärte 24-stündige
Unterbrechung derBekanntgabe von
Zwischenresultaten, nach der sich der
Tr end für eine Stichwahl plötzlich um-
kehrte.Tausende von Bolivianern pro-
testierten in den letzten drei Wochen
auf den Strassen gegen die von ihnen
wahrgenommene Manipulation des
Wahlresultates. Morales selbst willigte
in eine Überprüfung derAuszählung
durch dieOAS-Beobachter ein.
Der am Sonntag von derOAS ver-
öffentlichte Bericht war verheerend für
den Präsidenten. Er sprach von schwe-
ren Unregelmässigkeiten und davon,
dass das Computersystem derWahl-
behörde zu einem solchen Grad mani-
puliert worden sei, dass eine tiefgrün-
dige staatliche Untersuchung notwendig
sei. Die statistischeWahrscheinlichkeit,
dass dies denWahlausgang verändert
habe (sprich: dass eine nötige Stichwahl


verhindert wurde) sei sehr hoch. Die
OASempfahl als Schlussfolgerung,die
(Morales hörige)Wahlbehörde aufzu-
lösen und dieWahl zu wiederholen.
Kurz darauf legte der Armeechef
Williams Kaliman dem Präsidenten
nahe zurückzutreten.Er tat dies nach
eigenem Bekunden, um dieRuhe im
Land sicherzustellen und dieVerfassung
durchzusetzen.Laut Artikel 245 des
bolivianischen Grundgesetzes ist Letz-
teres auchAufgabe der Armee, wenndie
übrigen Instanzen wie hier derWahlrat
und dieJustiz dies nichtkönnen. Beide
waren von Moraleskontrolliert und da-
mit nicht in derLage, im Sinne derVer-
fassung zu handeln und denWahlbetrug
zu unterbinden.Tr otzdemstellt sich die
Frage, weshalb sich die Militärs sorasch
gegen den Präsidenten stellten,während
inVenezuela die Armee trotz unhaltba-
ren Zuständen für die Bevölkerung seit
Jahren zu Maduro hält.Dafür gibt es
mindestens vier Gründe.

„In der Regierungsitzenkeine Offi-
ziere:Evo Morales hatte enge Bezie-
hungen zur Armee. In 14 JahrenRegie-
rung hatte er grossen Einfluss auf die
Auswahl der obersten Kader.Er traf
sich jeden Montag mit der Militär-

führung und setzte auch Soldaten für
Sozialprogramme ein.Auch unterstützte
er die armeeeigenen Betriebe. Doch
dies ist trotzdem nicht vergleichbar
mit der wesentlich stärkeren Bindung
derMilitärs an dieregierenden Cha-
visten imFalle vonVenezuela. Bereits
dieAusgangslage war hier unterschied-
lich. Als hoher Offizier hatteHugo Chá-
vez von Anfang an enge Beziehungen
zur Armee,ganz im Gegensatz zu Evo
Morales, für den die Armee, alser noch
Vorsitzender derKokabauern war, bis
zu seiner Präsidentschaft eher ein
Unterdrückungsinstrument war. Chávez
understrechtMadurogabenden Mili-
tärs eine zunehmend wichtigereRolle
als Minister in derRegierung.

„Den Militärs drohenkeine Gefäng-
nisstrafen:Chávez und Maduro betei-
ligten die Militärs auch systematisch an
gewinnbringenden illegalen Tätigkeiten
vonKorruption bis hin zum Drogenhan-
del.Damit wird es für diekorrumpierten
Armeeführer überlebenswichtig, dass
dasRegime von Nicolás Maduro wei-
terexistiert. Denn nur so ist garantiert,
dass sie sich der Strafverfolgung entzie-
henkönnen. InFalle eines Sturzes des
Regimes müssten sie sich auf langjäh-

rige Gefängnisstrafen gefasst machen
oder aber ins Exil gehen.Fälle von Dro-
genkriminalität gibt es natürlich unter
den Sicherheitskräften auch in Bolivien,
derPolizeigeneralRené Sanabria etwa
ging den Amerikanern in Miami ins
Netz. Doch nach allem, was bekanntist,
war dieses Phänomen bei weitem nicht
so verbreitet wie inVenezuela. Die Mili-
tärführungmuss nachdemRücktritt von
Morales kaum befürchten,kollektiv ins
Gefängnisgestecktzu werden.

„Der Repressionsapparat istwenig
ausgebaut:Die Chavisten inVenezuela
haben ausserdem eine engeKontrolle
über die venezolanische Armee durch
kubanische Spione installiert.Damit
besitzt Maduro neben der engeren An-
bindung auch eine unabhängige Instanz
zur Überwachung undKontrolle über
seine Offizierskader, die direkt ihm
rapportiert.Wer in Ungnade fällt, ver-
schwindet im Gefängnis. Es ist des-
halb mit grossen Risiken verbunden,
sich innerhalb der militärischenKom-
mandos gegen dieRegierung zu stel-
len oder gar einenAufstand zu pla-
nen. EtwasVergleichbares gab es nicht
in Bolivien. Mit anderenWorten: Chá-
vez hat inVenezuela einen viel profes-

sionelleren Repressionsapparat aufge-
stellt, währendMorales sich mehr auf
die Unterstützung der Indigenen und
des bolivianischenVolkes generell für
seine Bewegung verlassen hat. Knapp
zwei Drittel der Wähler haben ihn
2009 und 20 14 jeweils bereits im ers-
tenWahlgang für die Präsidentschaft
unterstützt.

„Die Armee hat schlechte Erfahrun-
gen mit Einsätzen gegen die eigene
Bevölkerunggemacht:Bei der Unter-
drückung einesVolksaufstandes in Boli-
vien imJahre 2003 durch die Sicherheits-
kräfte wurden 68Personen getötet und
über 400 verletzt. Bei der späterenAuf-
arbeitung des Geschehens durch dieJus-
tiz wurden nur die beteiligten Militärs
zu hohenHaftstrafen verurteilt, wäh-
rend zwei Minister mit vergleichsweise
leichten Strafen davonkamen. Dies hat
Unzufriedenheit bei den Militärs ausge-
löst und Zurückhaltung bewirkt, wenn
es darum geht, in Zukunft für die zivile
Regierung die Kastanien aus demFeuer
zu holen. DieArmee wehrt sich deshalb
dagegen, sich leichtfertig gegen dasVolk
einsetzen zu lassen. InVenezuela haben
die Streitkräftekeine vergleichbaren Er-
fahrungen gemacht.

Vollends verlor er
die Bodenhaftung, als
er sich an der Macht
perpetuieren wollte
und dafür das Recht
zu beugen bereit war.
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