Neue Zürcher Zeitung - 30.10.2019

(Michael S) #1

Donnerstag, 31. Oktober 2019 MEINUNG &DEBATTE


Verhandlungen über eine Fusion


Die Nothilfe für Fiat nützt auch Peugeot

Noch wird erst verhandelt, das haben sowohl der
KonzernFiat ChryslerAutomobiles(FCA) als auch
Peugeot Citroën (PSA) bestätigt. Dass damit noch
keine Fusion vollzogen ist, dürfte spätestens nach
den gescheitertenVerhandlungen zwischen FCA
und der AllianzRenault-Nissan-Mitsubishiklar
sein.UnddochgibtesAnzeichendafür,dassdieEhe
zwischen dem italienisch-amerikanischen und dem
französischenAuto-Magnatenfunktionie renkönnte.
Bei Fiat Chrysler besteht ein latentes Problem zu
hoher Emissionen in der gesamtenFahrzeugflotte.
Darunter sind schwere SUV und grossePick-up-
Modelle, vor allem für den nordamerikanischen
Markt, die mit hohemVerbrauch die Umweltbilanz
desKonzernsbelasten.FCA hatdenSchrittzurkon-
sequenten und weitreichenden Elektrifizierung der
Modellpaletteschlichtverschlafen.Da bringtesauch
nichts, wenn nun in ItalienJeep-Modelle mit Plug-
in-Hybridantrieb gefertigt werden.
PSA kann hier die nötige Linderung bieten,
denn bei der Entwicklung von Hybrid- undBat-


terie-Elektro-Fahrzeugen sind dieFranzosen deut-
lich weiter. Der für den Massenmarktkonzipierte
Peugeot e-208und seinPendant Opel e-Corsa ste-
hen vor ihrerLancierung. Hinzukommt die gegen-
über FCAdeutlich weiter entwickelte Plattform-
Modularität, wie sie etwa auch VW erfolgreich be-
treibt.Auf der anderen Seite ist FCA fürPeu-
geot Citroën attraktiv, da der französischeKonzern
bereits fortgeschrittene Pläne zurLancierung der
MarkePeugeot in Nordamerika vorzuweisen hat.
Mit den FCA-Werken auf dem amerikanischen
Kontinent und dem funktionierenden Händler-
netz wäre die perfekteBasis für einenraschen
Neustart der französischen Marke in den USA und
Kanada vorhanden.
Skaleneffekte dürfte es in derKooperation so-
wohl beim Einkauf als auch bei derFertigung
von Komponenten fürgemeinsameFahrzeugplatt-
formen geben.Volkswagen hat dies erfolgreich
vorgemacht, und Einkaufsgemeinschaftenkennt
PSA bereits aus derVergangenheit, als man dies-
bezüglich 2012/13 mit General Motors zusammen-
spannte.
Dass in der Ehe – noch gibt es ja nicht einmal
eine Verlobung – PSA der stärkerePartner wäre,
scheint jedoch eindeutig. Die imKonzern vereinten
MarkenPeugeot, Citroën, DS und Opel/Vauxhall
verfügen über eine gut ausgebaute Modellpalette,

effiziente Antriebsvarianten und in Europa ein-
schliesslichRusslandvalable Marktanteile.
An derKonzernspitze des neu entstehenden
Autogiganten, mit 50 Milliarden Euro weltweit
immerhin an vierter Stelle, stünde mit CarlosTava-
res jemand, welcher derAufgabe gewachsen zu
sein scheint. Derrasche Turnaround der deutschen
Marke Opel unter seiner Ägide zeugt davon, sein
Image als harter Sanierer ist zementiert.Tavare s
wird nicht davor zurückschrecken, dieFührungs-
etagen der italienischen und amerikanischen Mar-
ken neu aufzustellen. Einzig beiJeep läuft derzeit
das Geschäft gut,weshalb dort weniger Handlungs-
bedarf zu bestehen scheint als etwa bei den ange-
schlagenen MarkenFiat, AlfaRomeo,Chrysler,
Dodge, Maserati und vor allemLancia. Die dahin-
siechende ehemalige Luxusmarke ist heute auf ein
einziges Kleinwagenmodellreduziert und dürfte im
neuen Superkonzernrasch ganz untergehen.
Eines scheint sicher: EineFusion von FCA und
PSA wird zuRationalisierungen führen,zuArbeits-
platzabbau und vielleicht gar zuWerkschliessun-
gen.Der drohende Brexit macht denBau vonVaux-
hall-Modellen in England wenig attraktiv, Kapazi-
täten liessen sich etwa in italienischenWerken fin-
den.Für PSA wäre auch das, wie schon der gesamte
Zus ammenschluss, eine Opportunität, für FCA ein
Rettungsanker.

FCA ist für Peugeot attraktiv,


da der französische Konzern


Pläne zur Lancierung


der Marke


in Nordamerika hat.


Überbrückungsrentefür ältere Arbeitslose


Der Sozialausbau im Eiltempo ist fragwürdig

Das SchweizerPolitsystem gilt als langsam.Für
BernerVerhältnisse schlägt der Bundesrat nun
aber ein forschesTempo an. Am Mittwochhat er
die Überbrückungsrente für ältereArbeitslose ans
Parlament verabschiedet – nur vier Monate nach-
dem er seine Pläne vorgestellt hatte. Personen, die
mit 58Jahren oder später ihre Stelle verlieren, will
der Staat künftig grosszügiger absichern.
Formal ist dieVorlage zwar nicht mit der Be-
grenzungsinitiative der SVP verknüpft.Diese
würde zurKündigung derPersonenfreizügigkeit
mit der EU führen und die bilateralenVerträge in-
frage stellen. Dennoch nimmt der Bundesrat kein
Blatt vor den Mund: Der Sozialausbau soll hel-
fen, der Initiative denWind aus den Segeln zu neh-
men. Der Ständerat wird die Überbrückungsrente
woh l bereits im Dezember beraten. Ziel ist, dass
das Parlament dieVorlage verabschiedet,bevor das
Stimmvolk voraussichtlich im Mai 2020 über die
Begrenzungsinitiative entscheidet.


Mit dieser steht der Schweiz ein Abstimmungs-
kampf bevor, der nicht auf die leichte Schulter zu
nehmenist. BeimUrnengang über die Massenein-
wanderungsinitiative 2014 oder beim Brexit sties-
sen wirtschaftliche Argumente auf weniger Gehör
als erwartet. Dennoch wirken die Ängste vor der
Begrenzungsinitiative übertrieben. Die Einfüh-
rung derPersonenfreizügigkeit mit den flankieren-
den Massnahmen war für die Gewerkschaften eine
kopernikanischeWende. Sie werdendiese Errun-
genschaft auch ohne Überbrückungsrente mit aller
Kraft verteidigen.Gegen dieSVP-Initiative hat sich
früh eine schlagkräftige Allianz formiert. Eine An-
nahme derVorlage würde auf eine Art Schweizer
Brexit hinauslaufen, was abschreckend wirkt. Zu-
dem war die Zuwanderung aus der EU in den letz-
ten Jahren rückläufig und ist weit von den Spitzen-
werten entfernt.
Auch mit Blick auf die europapolitische Ge-
samtstrategie ist dasTempo, das der Bundesrat an-
schlägt, fragwürdig. Die Überbrückungsrente galt
als Zugeständnis an die Gewerkschaften, um die
alte Allianz für die Bilateralen wiederzubeleben.
Ohne Lösung beimRahmenvertrag mit der EU
bröc kelt diese aberrasch erneut. Obwohl die
Sozialpartner wieder zusammen amTisch sitzen,
um über strittigeFragen wie den Lohnschutz zu

sprechen, gab es bis anhinkeine Bewegung.Viel-
mehr zeichnet sich ab, dass bis zur Abstimmung
über die Begrenzungsinitiative 2020 kaum etwas
passieren wird.
Materiell spricht ebenfalls wenigfür einen
Sozialausbau. Über 55-Jährige haben ein geringe-
res Risiko, arbeitslos zu werden.Die Erwerbsquote
in dieser Altersgruppe ist in den letztenJahren
überdurchschnittlich gestiegen. Zwar haben ältere
Arbeitnehmer grössere Mühe, wiedereine Stelle zu
finden,wennsieihrenJobverlorenhaben.Dochdas
Zielsollteehersein,dasssieindenArbeitsmarktzu-
rückkehren.Im Lärm um die Überbrückungsrente
gehen die übrigen Massnahmen unter, auf die sich
der Bund und die Sozialpartner geeinigt haben, um
das inländischePotenzial besser zu nutzen. Das ge-
plante Coaching oder die unentgeltliche Standort-
bestimmung für ältere Erwerbstätige sind sinnvoll.
Eine Überbrückungsrente könnte in einer
Rezession dagegen sogar falsche Anreize setzen,
ältereArbeitnehmer an den Sozialstaatabzuschie-
ben. Gewiss, vorderhand wäre derKreis derBe-
rechtigten eng begrenzt. Doch man darf sichkeine
Illusionen machen. Ist die neue Leistung eingeführt,
würden dieVoraussetzungenfrüher oder später ge-
lockert.Dabei wäre angesichts desReformstaus bei
den Sozialwerken Zurückhaltung angebracht.

Auch materiell spricht wenig


für einen Sozialausbau.


Über 55-Jährige haben


ein geringeres Risiko,


arbeitslos zu werden.


Unterstützung für den Ständeratskandidaten Ruedi Noser


Die SVP senkt die Gefahr eines bürgerlichen Debakels

Die Zürcher SVP machtkehrt. ZehnTage nach dem
erstenWahlgangfürdieZürcherStänderatssitzeneh-
men die Delegierten nicht nur ihren KandidatenRo-
ger Köppel aus demRennen.Sie sprechen sich über-
dies und überraschend deutlich für eine Unterstüt-
zung vonRuedi Noser aus – demFreisinnigen, den
KöppelwährendseinerKampagneals«Euro-Turbo»
oder gar als «Pöstchenjäger» verspottet oder verun-
glimpft hat. Nebender Grünen Marionna Schlatter
gilt Noser jetzt als das «kleinere Übel», und selbst
Köppel und Christoph Blocher haben sich an der
Versammlung für die Schützenhilfe ausgesprochen.
Mit dem Beschluss wird es ein Stück unwahrschein-
licher, dass ein aus bürgerlicher Sicht betrübliches
Wahljahr noch mit einem Desaster endet.
Zunächst aber verhindert das «Parteivolk», dass
dieSVPsichabkapselt.DerUnternehmerNoserge-
niesst nichtnur Support von Mittepolitikern.Auch
eine breiteFront vonVerbänden, die im Interesse
des Wirtschaftskantons Zürich agieren, spricht sich


für ihn aus. Darunter auch solche, die personell
und ideell eng mit derSVP verbandelt sind, wie
der Hauseigentümer- oder der Gewerbeverband.
IndieseReihenstelltsichjetztauchdieVolkspartei.
Überdies ist die EmpfehlungAusdruck davon,
dass es bei der Ständeratswahl nicht nur um die
grossen,weltbewegendenThemen geht, nicht nur
um den Klimawandel oder das Rahmenabkommen.
Ständeräten fällt auch dieRolle zu,in Bundesbern
für ihre Kantone zu weibeln und ihre Interessen zu
vertreten. Noser hat dieseRolle unzweifelhaft und
mit grossem Erfolg wahrgenommen, zum Beispiel
bei der Steuervorlage17. Für den bürgerlich domi-
nierten ZürcherRegierungsrat ist es dabei vonVor-
teil, wenn er auf mindestens einen Standesvertre-
ter zählen kann,der seine politischen Grundhaltun-
gen teilt.Auch darumsprechen sich fünf von sie-
ben Regierungsräten für Noser aus, unter ihnen die
SVP-Mitglieder Ernst Stocker und Natalie Rickli.
Zu guter Letzt entgeht dieSVP auch dem Stigma
der möglichen Steigbügelhalterin. Selbst wenn es in
zweieinhalbWochen zumÄusserstenkommt und die
Zürcher Stimmbevölkerung neben dem Sozialdemo-
kratenDaniel Jositsch auch die Grüne Marionna
SchlatterindiekleineKammerschickt,wirdniemand
der SVP vorwerfenkönnen,sie habe Noser mit einer
chancenlosen KandidaturKöppels oder durch offi-

zielleAbstinenz wertvolle Stimmen gekostet und so-
mit der links-grünenKonkurrentin zum Sieg verhol-
fen.Siewirdsagenkönnen,siehabemitdemRückzug
unddemdeutlichenVotumfürNoser«allesgemacht»,
wie Blocher es auf seinemTele-Kanal formuliert hat.
Nur: Nützt dieWahlempfehlung derSVP Noser
überhaupt? Zwar ist denkbar, dassKöppel-Fans
nichteinsehen, warum sie den Schwenk ihrerPar-
tei mitmachen sollen, und scharenweise zu Hause
bleiben.WenngleichzeitigMitte-links-Wählerabge-
schreckt werden, ist es möglich, dass der Stimmen-
saldo für Noser negativ ausfällt. Gegen den ersten
Teil des Szenarios spricht jedoch,dass die Delegier-
ten ihreParole mit überwältigendem Mehr gefasst
haben und dass die pragmatischeAder der Zürcher
SVP-Basis nicht unterschätzt werden sollte.Das
Wahljahr 2019 war für die Zürcher Bürgerlichen
bisher ein annus horribilis. Die FDP musste einen
Sitz in derRegierung hergeben, dieSVP war die
grosseWahlverliererinimKantonsrat.Wennjetztim
Zug der Klimawelle auch noch Noser sein Amt ab-
geben müsste, wäre dies der desaströse Höhepunkt.
Doch der Entscheid derSVP dürfte Noser unter
dem Strich helfenund das Risiko, dass er nicht wie-
dergewähltwird,senken.ErwahrtauchdieMöglich-
keit,dass sich die beidenParteien nach denWahlen
gemeinsamderbürgerlichenSachewidmenkönnen.

Die pragmatische Ader


der Zürcher SVP-Basis


sollte nicht


unterschätzt werden.


TOBIASGAFAFER
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