Neue Zürcher Zeitung - 30.10.2019

(Michael S) #1

Donnerstag, 31. Oktober 2019 INTERNATIONAL 3


Erdogan kann nicht jubeln

DieTürkei hat in Nordsyrien den Rückzug der Kurdenmiliz erzwungen – die Lage ist jedoch unübersichtlich


ULRICHVON SCHWERIN, ISTANBUL


Auffällig zurückhaltend war der türki-
sche PräsidentRecep Tayyip Erdogan,
als er sich nachAblauf derFrist zumAb-
zug der kurdischen Kämpfer aus Nord-
syrien äusserte. Eigentlich wären die
Feiern zum türkischen Nationalfeiertag
am Dienstagabend ein guter Moment
gewesen, den Sieg über die kurdischen
Volksverteidigungseinheiten (YPG) zu
verkünden. Doch obwohlRussland zu-
vor erklärt hatte, dass dieKurdenmiliz
von der türkischen Grenze abgezogen
und damit ein zentrales Ziel derTürkei
erfüllt sei, verzichtete Erdogan auf lau-
tes Triumphgehabe.


Gewalt undDiplomatie


Russland habe dieTürkei informiert,
dass sich die«Terroristengruppen» voll-
ständig zurückgezogen hätten, sagte
Erdogan lediglich in seinerRede zum
Tag derRepublik in Ankara. DieTürkei
habe bewiesen, was sie zum Schutz der
nationalen Sicherheit erreichenkönne,
«aus eigener Kraft und ohne um Er-
laubnis zu fragen». In denkommenden
Tagen werde es weitere Gespräche mit
Russland geben über die Umsetzung der
Vereinbarung von Sotschi, so Erdogan.
In der Schwarzmeerstadt hatte
Erdogan vergangeneWoche mitRuss-
lands Präsident Wladimir Putin verein-
bart,dass die russische Militärpolizei bis
Dienstagabend für den Abzug der YPG
sorgen werde. Die Vertreibung der syri-
schenKurdenmilizvon der Grenze ist
seit langem das Ziel derTürkei. Sie be-
trachtet die YPG als Bedrohung, da
sie eng mit der kurdischen PKK-Gue-
rilla verbunden ist, die seitJahrzehnten
gegen den türkischen Staat kämpft.
In Ankara sorgte es daher seit Anbe-
ginn für Unmut, dass die USA die YPG
im Kampf gegen den Islamischen Staat
mit Waffen, Spezialkräften und Luft-
angriffen unterstützten. Anfang Okto-
ber gab Präsident DonaldTrump dem
Drängen seines Nato-Partners schliess-
lich nach.Und dieTürkei nutzte denAb-
zug der amerikanischenTruppen umge-
hend, um ihre lang geplante Offensivein
Nordsyrien zu starten.
Sollte es Erdogan nun gelungen sein,
mit einer Mischung aus militärischer
Gewalt und diplomatischen Gesprä-
chen den Abzug der YPG zu erzwin-
gen, wäre dies ein klarer Erfolg. Wenn
es auch noch das Ende des kurdischen
Autonomieprojekts in Nordsyrien be-
deutete, hätte Erdogan ein langjähriges


Ziel erreicht. Sollte der syrische Macht-
haberBashar al-Asad dafür wieder die
Kontrolle über dieKurdengebiete erlan-
gen, könnte Erdogan damit wohl leben.

Kämpfe mit AsadsTruppen


Allerdings sind vieleFragen offen, und
die Lage vor Ort ist unübersichtlich.Am
Dienstag gab es südlich der syrischen
GrenzstadtRas al-Ain erstmals direkte
Kämpfe der türkischen Armee mit den
Truppen Asads, bei denen sechs syri-
sche Soldaten getötet wurden. An den
Gefechten waren auch die syrischen
Rebellenmilizen beteiligt, die auf türki-
scher Seite gegen dieYPG kämpfen.Sie
machenkein Hehl daraus,dass für sie
der eigentlicheFeind Asad bleibt.
Nach demAblauf derFrist amAbend
kündigte dieTürkei an, wie in Sotschi
vereinbart gemeinsamePatrouillen mit
Russland zu beginnen, um den Abzug
der YPG zu überprüfen. «Unseren rus-
sischenPartnern müssen wir glauben,
dochTerroristenkönnen wir nicht ver-
trauen», sagteAussenminister Mevlüt

Cavusoglu in Genf.Würden in der ange-
strebten «Sicherheitszone» entlang der
Grenze noch YPG-Kämpfer entdeckt,
werde dieTürkei sie «eliminieren».
Russland kommt nundie schwie-
rige Aufgabe zu, die türkische Armee
von den kurdischen Kämpfern zu tren-
nen und die syrischenRebellen von
den Truppen Asads fernzuhalten. Dies
werde dem überdehnten russischen
Militär nochKopfzerbrechen bereiten,
schreibt der Militärexperte Metin Gur-
can im Online-Magazin al-Monitor.
Auch sei es einRätsel,wie die YPG und
Asad die Macht übergeben wollten und
wie Asads Kräfte nach dem Abzug der
YPG die Grenze sichern sollten.
Ungeklärt ist zudem, ob dieKurden-
milizunterderKontrolleAsadsalseigen-
ständigeTruppe bestehen bleibt, ent-
waffnet wirdoder in diereguläreArmee
integriertwird.EineweitereFrageist,ob
dieTürkei den Moment nutzt,um die zu
BeginndesBürgerkriegsabgebrochenen
Beziehungen zu Asadwiederaufzuneh-
men. Innenpolitisch wäre der Moment
dafür günstig. Die säkulare Opposition

drängtErdoganschonlange,dasVerhält-
nis zuDamaskus zu normalisieren. Die
Hoffnung dabei ist, dass die syrischen
Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkeh-
ren könnten.
Die 3,6 Millionen syrischen Flücht-
lingeinderTürkeiwerdenangesichtsder
Wirtschaftskrise zunehmend als Belas-
tung empfunden. Erdogan hat daher an-
gekündigt,eine Million von ihnen in der
geplanten «Sicherheitszone» in Nord-
syrien anzusiedeln.Realistisch erscheint
dies nicht–zuhoch sind dieKosten, zu
gross ist die Kritik und zu unwägbar er-
scheint auch die Zukunft derRegion.
So zwiespältig dieLage vor Ort, so
ambivalent ist sie auf internationaler
Ebene. DerKolumnist MehmetYil-
maz vom unabhängigen Magazin«T24»
meint, Erdoganhabeerreicht, was er
wollte, «selbst wenn die Beziehungen
derTürkei zu Europa einer Zerreiss-
probe ausgesetzt worden sind». Metin
Gurcan hingegen schreibt, dieTürkei
habe imagemässig verloren, während
die YPG weltweit an Unterstützung ge-
wonnen habe.

Vertriebene in Nordsyrien: Rund 300000 Personensindlaut Menschenre chtlern infolge der türkischen Invasion geflohen. IMAGO

Schweden plagt sich mit einem «Gefährder-Imam»


Ein muslimischer Kleriker wird ohne Anklage verwahrt – soll er in den Irak ausgeschafft werden?


RUDOLF HERMANN


Seit April befindetsichAbu Raad, der
Imam der Al-Rashid-Moschee in der
mittelschwedischen Stadt Gävle, in Ver-
wahrung.Den Anstoss dazu gab die
schwedische Sicherheitspolizei (Säpo),
die in ihm eine Gefahr für das Gemein-
wesen sieht. Dem irakischen Sunniten
AbuRaad wird ein Einfluss auf extre-
mistisch-islamistische Kreise in Schwe-
den zugeschrieben. InWortmeldungen
auf sozialen Netzwerken soll er dieTer-
rormiliz Islamischer Staat unterstützt
haben.AbuRaad selbst weist dieseVor-
würfe zurück. Eine formelle Anklage
gegen ihn liegt nicht vor.


UnterGeheimhaltung


Festgehalten wird AbuRaad auf der
Grundlage des Sondergesetzes zurAus-
länderkontrolle. Dieses gibt der Migra-
tionsbehörde ein Instrument in die
Hand, umAusländer auszuweisen, die
entweder allgemein als Gefahr für die
Gese llschaft empfunden werden, oder
bei denen «aufgrund ihrer bisherigen
Tätigkeit und übriger Umstände» an-


genommen werden kann, dass sie sich
an derVorbereitung undDurchführung
terroristischer Aktivitätenbeteiligen
oder solcheAktivitäten gutheissen.
Die Säpo kann beim Migrationsamt
mit Bedenken gegenüberPersonen vor-
stellig werden und eine Untersuchung
veranlassen, an deren Ende einAuswei-
sungsentscheidstehenkann.Dieserkann
jedoch angefochten werden, worauf in
letzter Instanz einRegierungsentscheid
fällig wird.ImFall vonAbuRaad ist dies
möglich, weil er lediglich eine perma-
nenteAufenthaltsgenehmigung besitzt.
Er hatte zweimal versucht, das Bürger-
recht zu erlangen,war mit seinenAnträ-
gen aber gescheitert.
Dem schwedischenFernsehen gelang
es vor einigenTagen, mit AbuRaad ein
Telefoninterview zu führen. Dieses fand
unter explizierter Überwachung durch
die Kriminalbehörde statt.Weil die Be-
weise, welche die Säpo gegenAbuRaad
ins Feld führt, der Geheimhaltung unter-
liegen,konnte der Geistliche im Ge-
spräch nicht darlegen, wessen er genau
verdächtigt wird. Er beklagte sich dar-
über, dass er in Haft sitze, bloss einmal
proWoche für eine halbe StundeKon-

takt zurFamilie habe und sich wegen
der Geheimhaltung auch nicht verteidi-
gen könne,ohne eine Strafe zu riskieren.
Wenn er in den Irak ausgeschafft
werde,drohe ihm Misshandlung,sagte
AbuRaad. Er habe sich in den 23Jah-
ren, die er in Schweden wohne, nichts
zuschuldenkommen lassen,und er habe
nichtszu verbergen. SeineInhaftierung
bezeichnete er alsResultat einer Hetze
und der Diskriminierung von Muslimen.
Der prominente schwedischeTerro-
rismusexperte MagnusRanstorp sieht
das anders. Gegenüber dem schwedi-
schenFernsehen sagteer,Abu Raad
sei eine tonangebendeFigur im salafis-
tisch-jihadistischen Milieu in Schweden.
In seinem Umkreis gebe es IS-Sympa-
thisanten undPersonen, die nachSyrien
gereist seien.AbuRaads Netzwerk trage
zur Radikalisierung, Rekrutierung und
Extremismus-Finanzierung bei.

Heikle juristischeFragen


Das Sondergesetz fürAusländerkon-
trolle ist laut dem schwedischenRund-
funk seit der Einführung in den neunzi-
ger Jahren rund dreiDutzend Mal zur

Anwendung gekommen –in z wölf Fäl-
len allein in diesemJahr. Ein Anwalt
einesAdvokaturbüros,das aufTerroris-
musfragenspezialisiertistundAbuRaad
vertritt, erklärte in derFernsehrepor-
tage zu dessenFall: In derVergangen-
heit habe sich gezeigt, dass die Säpo vor
ordentlichen GerichtenTerror-Anschul-
digungen oft nicht ausreichend belegen
könne.DasSondergesetzbieteeinenein-
facherenWeg,dakeinekonkreteStraftat
vorliegen müsse – ein schwammigerVer-
dachtreiche für eineAusweisung.
Allerdings handelt es sich bei der
Aberkennung derAufenthaltsgenehmi-
gung um einen administrativenVorgang
und nicht um einen Strafprozess. Sogar
wenn dieRegierung einenAusweisungs-
beschlussfällensollte,bedeutetdiesnoch
nicht,dasservollzogenwird.Dieszeigen
auch frühereFälle. Bei AbuRaads Fall
bestünde zweifellos die Gefahr, dass er
im Irak nach einerAusschaffung Verfol-
gung undFolter ausgesetzt wäre. Schwe-
densRegierung muss nun entscheiden,
wie wichtig es ihr ist,mitAusschaffungs-
entscheiden ein Zeichen zu setzen, auch
wenn es sich dabei vielleicht bloss um
Symbolpolitik handelt.

Whatsapp klagt


wegenSpionage


Israelische Firma sollhinter
Spähattacken stehen

JUDITHKORMANN

Whatsapp geht wegen Spähattacken
auf seine Nutzer gegen eine israeli-
sche Sicherheitsfirma vor. DasTochter-
unternehmen vonFacebookreichte am
Dienstag bei einem Gericht im ameri-
kanischen Gliedstaat Kalifornien Klage
ein. DerKonzern wirft der israelischen
NSO Group vor, sich durch einen An-
griff auf seinen Messaging-Dienst Zu-
griff auf die Smartphones von rund 1400
Personen verschafft zu haben.
In weniger als zweiWochen,imApril
und Mai diesenJahres , soll die auf Über-
wachungstechnologie spezialisierte
NSO Group soDaten vonPersonen in
rund 20Ländern abgegriffen und anihre
Kunden weitergegeben haben. Drei der
betroffenenLänder – Mexiko, die Ver-
einigten Arabischen Emirate undBah-
rain – sind bekannt. Nun willWhatsapp
der NSO Group den Zugriff auf seinen
Messaging-Dienst verbieten und fordert
Schadenersatz in unbekannter Höhe.

PerVideoanruf gehackt


Unter den Opfern des Spionageangriffs
befinden sich mindestens hundertJour-
nalisten, Menschenrechtsaktivisten und
andere Mitglieder der Zivilgesellschaft,
wie der Chefvon Whatsapp,Will Cath-
cart, in einem Beitrag in der«Washing-
ton Post» schrieb. Die kanadische NGO
CitizenLab, die den Angriffen gemein-
sam mitWhatsapp nachging, berichtete
der NachrichtenagenturReuters , dass
zu den Zielpersonen aus demFernse-
hen bekanntePersönlichkeiten gezählt
hä tten sowieFrauen, die zuvor bereits
Hasskampagnen im Internet ausgesetzt
gewesen seien. Einige derPersonen
seien vor dem Angriff auch Opfer von
Gewalt und Einschüchterung geworden.
Die NSO Group, die laut eigenen
Angaben nur mitRegierungen und Ge-
heimdiensten zusammenarbeitet, hat
stets erklärt, Spionagesoftware lediglich
zu verkaufen.Whatsapp wirft derFirma
nun aber vor, sie habe dieseselbst ver-
wendet und eine Sicherheitslücke der
Messaging-App ausgenutzt. Die An-
greifer hätten dieVideoanruf-Funktion
derApp genutzt,um eine Schadsoftware
mit dem Namen «Pegasus» auf den Ge-
räten der Nutzer zu installieren. Schon
ein verpasster Anruf habe genügt, um
das Smartphone zu hacken. Mithilfe der
Spionagesoftware können Angreifer
Nachrichten und E-Mails auf dem Ge-
rät lesen,selbst das Mithören vonAnru-
fen und das Zugreifen aufMikrofon und
Kamera des Handys ist möglich. Die
Verschlüsselung der Nachrichten, die
bei Whatsapp zur Anwendungkommt,
musste dafür nicht geknackt werden,
die Daten wurden in unverschlüsselter
Form von den Geräten gesaugt.

Firma bestreitetVorwürfe


Whatsapp hatte die Sicherheits-
lücke Mitte Mai geschlossen und den
Hackerangriff öffentlich gemacht. Nach
monatelangen Untersuchungen habe
der Konzern nun die NSO Group als
Verantwortlichen ausmachenkönnen,
schri eb Cathcart in der«Washington
Post». EineWhatsapp-Konten, die für
die Spähattacke genutzt wurden, hätten
der israelischen Sicherheitsfirma zuge-
ordnet werdenkönnen.
Die NSO Group wies dieVorwürfe
zurück. «Der einzige Zweck der NSO
besteht darin,Technologie an zugelas-
sene Geheimdienste und Sicherheits-
behörden zu liefern, um Terrorismus
und schwereVerbrechen zu bekämp-
fen», erklärte das Unternehmen in einer
schriftlichen Stellungnahme.
Der israelischen Sicherheitsfirma
wird auch vorgeworfen,Überwachungs-
technologie anrepressiveRegierungen
zuverkaufen,diedamitMenschenrechts-
aktivisten und Kritiker bespitzeln. Die
Software «Pegasus», das bekannteste
Produkt der NSO Group, gilt heute als
eines der mächtigsten Spionage-Instru-
mente weltweit.Laut CitizenLabsoll sie
unter anderem genutzt worden sein,um
saudischeRegimekritikerundmexikani-
sche Journalisten auszuspionieren.
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