Neue Zürcher Zeitung - 30.10.2019

(Michael S) #1

38 FEUILLETON Donnerstag, 31. Oktober 2019


Wer mutige Vorschläge will, riskiert Veränderungen


Die Amazonas-Synode verlangteineLockerung des Zölibats. Franziskusmuss das umsetzen, wenner nicht zum Papst der Ankündigungenwerden will


JAN-HEINER TÜCK


Die Amazonas-Synode hat Schlagzeilen
gemacht, bevor sie begann. Drei Kardi-
näle äusserten scharfe Kritik: Kardinal
Gerhard Ludwig Müller kritisierte am
Vorbereitungsdokument eine Sakralisie-
rung desKosmos undVerdunklung des
Glaubens an die Selbstmitteilung Gottes.
Kardinal Walter Brandmüller erhob den
Vorwurf der Häresie: Die Öko-Theolo-
gie verwische die Grenzezwischen Gott,
dem Schöpfer, und derWelt als Schöp-
fung. KardinalRobert Sarah warnte
vor falschen Propheten, welche dieSy-
node für westlicheReforminteressen
nutzen wollten. Lockerung des Zölibats
und Ämter fürFrauen seienForderun-
gen eines «spiessbürgerlichen und welt-
lichen Christentums». Umso delikater,
dass Bischof Erwin Kräutler, der lange
am Amazonas wirkte, die Weihe von ver-
heirateten Männern und das Diakonat
der Frauen anmahnte–mit Verweis auf
die pastorale Not in derRegion.
Die Amazonas-Synode ist am Sonn-
tag zu Ende gegangen. Bischöfe und
Ordensleute aus dem Amazonasgebiet
undVertreter anderer Bischofskonfe-
renzen haben über die Problemeder
Region beraten. Es gabkeine Direkti-
ven derKurie oder Diskussionsverbote.
Das Bemühen, aufeinander zu hören
und voneinander zu lernen, prägte das


Gesprächsklima. Die meistenSynodalen
stammten aus Südamerika. Sokonnte
verhindert werden,dass dieSynode
zur Projektionsfläche westeuropäischer
Reformwünsche wird, was auf eineFort-
setzung desKolonialismus mit anderen
Mitteln hätte hinauslaufenkönnen.
DasAbschlussdokument steht unter
demVorzeichen einer integralen Um-
kehr. Es fordert zunächst eine ganzheit-
liche Ökologie, die auf den«Schrei der
Erde und der Armen» hört.Papst Fran-
ziskus hatte bereitsin seinerEnzyklika
«Laudato si» von 2015 Sensibilität für
ökologische Fragen angemahnt. Die
Amazonasregion gilt als grüne Lunge
des Planeten. Die Abholzung derWäl-
der,der Abbau von Bodenschätzen, die
Vergiftung der Umwelt gefährden das
ökologische Gleichgewicht weltweit.
Hier hat dieSynode klar Stellung be-
zogen gegen eine Industriepolitik, wel-
che die Zerstörung der Umwelt rück-
sichtslos in Kauf nimmt.

Was ist christlich, was nicht?


Dem entspricht dieForderung nach einer
kulturellenUmkehr.Man müsse an die
Seite der indigenen Bevölkerung tre-
ten und deren bedrohteKultur schüt-
zen, heisst es im Dokument. Die impe-
riale Arroganz muss in derTat überwun-
den werden. Doch ist eine vorbehaltlose

Übernahme indigenerTraditionen nicht
unproblematisch. DieWiederverzaube-
rung der Natur, die in derRede von der
leidenden «Mutter Erde» mitschwingt,
droht einenrational verantwortlichen Zu-
gang zurWelt zu erschweren.Wedervage
Kosmos-Spiritualität noch gewisse Prak-
tiken von Heilern und Ahnenbeschwö-
rern sind mit dem Evangelium vereinbar.
DieSynode hat sich dafür ausgespro-
chen, einen eigenen Ritus für die Ama-
zonasregion zu entwickeln.Das ist be-
grüssenswert. Um eine Vermischung
christlicher und naturreligiöser Elemente
zu vermeiden,wird man aberbei derAus-
arbeitung des Ritus darauf achten müs-
sen, was aus der indigenenKultur in den
christlichenKult übernommen werden
kann. Unterscheidung istgefragt, nicht
Verklärung der Naturfrömmigkeit.
Auch die pastorale Not der Ama-
zonasregion kam zur Sprache. Das Ge-
biet ist etwa190 Mal so gross wie die
Schweiz, hat aber nur vier Millionen
Einwohner. Es gibt Gemeinden, die
schwer erreichbar sind und nur ein bis
zwei Mal imJahr einen Priester sehen,
der mit ihnen die Messe feiert. Kate-
chetinnen undehrenamtliche Helfer tun
viel , können aber die Präsenz der Kirche
vor Ort nicht ausreichend gewährleisten,
zumal es Pfingst- undFreikirchen gibt,
die mit effizienten Missionsmethoden
immer mehr Gläubige abwerben.

Um von einer punktuellen Besuchs- zu
einerkontinuierlichenAnwesenheitspas-
toral zukommen,wird man neueFormen
desAmtes finden müssen.Eine Mehrheit
reformoffener Bischöfe setzte sich für die
Weihe älterer, verheirateter Männer ein,
ohne den Zölibat als «Gabe Gottes» auf-
ge ben zu wollen. Eine Minderheit sieht
darin nur eine oberflächliche Massnahme
undempfiehlt,das Gebet für mehr Pries-
terberufungen zu intensivieren.

Frauen stärken


DerWiener Kardinal Christoph Schön-
born wies in diesem Zusammenhang
darauf hin, die Bischöfe der Amazonas-
region hätten einenReformimpuls des
II. VatikanischenKonzils nicht hinrei-
chend aufgegriffen, nämlich verheiratete
Männer zu ständigen Diakonen zu wei-
hen. Im dreigestuften Amt der katholi-
schen Kirche gibt es neben Bischöfen
und Priesternauch Diakone, die nicht
nur für sozial-caritativeAufgaben zu-
ständig sind, sondern auch das Sakra-
ment derTaufe spenden und bei Ehe-
schliessungen assistieren können.
Seit über fünfzigJahren gibt es also
schon verheiratete Kleriker, was zu wenig
im Bewusstsein ist.Gerade aus dem Kreis
dieser ständigen Diakone gelte es imFalle
des Falles, geeignete Kandidaten als «viri
probati» auszuwählen. Im Abschluss-

dokument wird dieseForderung von einer
deutlichen Mehrheit unterstützt.
Daswirdman als echte Innovation be-
zeichnen müssen.NochPapst Paul VI.hat
dem II.VatikanischenKonzil die offene
Diskussion über den Zölibatentzogen,
und seine Nachfolger haben sich gemein-
sam mit zwei Bischofssynoden klar gegen
die Einführung von «viri probati» ausge-
sprochen. Die Amazonas-Synode macht
sich für eine erhöhte Präsenz vonFrauen
in der Kirche stark, ohne sich direkt für
ein Diakonat derFrau einzusetzen.
Am Ende der Beratungen hat Kardi-
nal Peter Turksonfür eine weltkirchliche
Diskussion über «viri probati» votiert.
Dem Purpurträger aus Ghana wird man
keine «westliche Dekadenz» vorwerfen
können.Papst Franziskus muss nun ent-
scheiden, wie er mit denVoten umgeht.
Er hat den Bischöfen geraten,«mutige
Vorstösse» vorzulegen.Das haben sie
getan.Will er seinemWort vonder
«heilsamen Dezentralisierung» der Kir-
che klarereKontur geben und nicht als
Papst der blossen Ankündigungen in die
Geschichte eingehen, wird er zumindest
für die Amazonasregion eine Lockerung
des Pflichtzölibats beschliessen müssen.

Jan-HeinerTückist Professoram Institut für
SystematischeTheologie der katholisch-theo-
logischenFakultät der Universität Wien.

Am Ende zerreissen ihn die Bacchantinnen

Die Oper GenfbringtMonteverdis «L’Orfeo» ineiner gewagtenNeufassung heraus


THOMAS SCHACHER, GENF


Die barocke Operntradition forderte,
von ihren Anfängenan, ein Happy End.
So wurden die tragischen Stoffe der grie-
chischen Mythologie kurzerhand um-
geformt, damit sie dem Publikumkeine
schlaflosen Nächtebereiteten. Bei Clau-
dio Monteverdis «L’Orfeo», 1607 am Hof
von Mantua uraufgeführt, geht das so:
Orfeo hat die Chance, seine verstorbene
Gattin Euridice aus dem Hades in die
Welt der Lebenden zurückzuführen, ver-
wirkt, weil er sichauf demWeg verbote-
nerweise nach ihr umgesehen hat.Nun ist
er wiederin Thrakien, allein, undbeklagt
sein Schicksal. Da erscheint seinVater
Apollo als Deus ex machina, fordert ihn
zumVerzichtauf seine Leidenschaft auf –
und nimmt ihn mitinden Götterhimmel.
Am GrandThéâtrede Genève wird
eine andereFassung gezeigt,eine tra-
gische: Statt Apollo tritt derWeingott
Bacchus mit seinenBacchantinnen auf.
Die entfesseltenFrauenrächen sich an
Orfeo, weil er ausschliesslich auf Euri-
dice fixiert ist, undreissen ihn in Stücke.


Argumente fürtragischen Schluss


DieseFassung stammt vom ungarischen
Dirigenten IvánFischer, derkeck be-
hauptet, es handle sich dabei um die
Originalfassung von «L’Orfeo». Produ-
ziert hat er sie mit seiner IvánFischer
Opera Company für dasVicenza Opera
Festival,das er letztesJahr gegründet hat.
Die Uraufführung war im September
in Budapest, inVicenza ging das Stück
im Oktober über die Bühne desTeatro
Olimpico;jetzt ist dieAufführung an der
koproduzierenden OperGenf zu sehen.
Fischers «Beweisstück» für seineVer-
sion ist das gedruckte Libretto von Ales-
sandro Striggio, das tatsächlich diesen
Bacchantinnen-Schluss überliefert. Ob
Monteverdi für die Uraufführung die-
sen tragischen Schluss vertont hat, weiss
man nicht; eine entsprechende Musik ist
nicht vorhanden. Und in der gedruck-
tenPartitur, die er zweiJahre später
veröffentlichte, ist dasWerk mit dem
bekannten Apollo-Schluss überliefert.
Andererseits istFischers Hinweis dar-
auf, dass der tragische Schluss mit der
anti kenTradition des Orpheus-Mythos
konform geht, ein starkes Argument.
Das Problem der nicht vorhandenen
(oder verschollenen) Musiklöst Fischer


wagemutig so, indem er die Schluss-
szene einfach selberkomponiert hat.
Das klingendeResultat ist erstaunlich
st ilsicher:Wer «L’Orfeo» nichtkennt,
könnte nicht auf Anhieb sagen, wo
Monteverdis Musik inFischersKompo-
sition übergeht. Überhaupt überzeugt
die GenferAufführung auf der musika-
lischen Ebene.
Die Barockformation des Buda-
pestFestival Orchestra spielt auf his-
torischen Instrumenten,Fischer diri-
gie rt am Notenpult einer Organo di
legno. DieAufstellung des Orchesters
(im nur leicht abgesenkten Orchester-

graben) mit den hellen Streich- und Flö-
teninstrumenten auf der linken und den
dunklen Zinken undPosaunen auf der
rechten Seite widerspiegeltsinnfällig
den szenischenKontrast zwischen der
bukolischen Ober- und der furchterre-
genden Unterwelt.Im Ganzenkommt
Fischers Interpretation, wenn man sie
mit massgeblichen Deutungen desWer-
kes vergleicht,über weite Strecken aller-
dingsrecht weich, wenig geschärft und
bisweilen etwas behäbig daher.
Der Orfeo vonValerio Contaldo
brauchtdenn auchetwasAnlauf,umin
Fahrt zukommen. Bei «Possente spirto»,

der grossen Beschwörung des Caronte
in der Unterwelt,gewinnt er dann mäch-
tig an Profil.Wogegen derBasso pro-
fondo von Antonio Abete noch dämo-
nischer klingen dürfte. Die Euridice von
EmökeBaráth, einerelativ kleineRolle,
gefällt mit einer warmen, geschmeidi-
genBarockstimme. Gut besetzt ist auch
das Herrscherpaar der Unterwelt mit
dem noblenBaritonvonPeter Harvey
als Plutone und dem leidenschaftlichen
Sopran von Núria Rial als Proserpina.
IvánFischer tritt bei dieser Produk-
tion nicht nur als Dirigent undKom-
ponist in Erscheinung,sondern auch

als Regisseur. Dies gereicht der Pro-
duktion allerdings nicht zumVorteil,
dennFischer ist ersichtlichkein profes-
sionellerRegisseur. Beflügelt von sei-
ner Idee der musikalischenRestaurie-
rung des «Orfeo»,ist er bestrebt, auch
die Inszenierung in einemrestaurati-
ven Geist zu zeigen, und er will sich
dies en Ansatz offenkundig nicht von
einem zu sehr interpretierenden (und
in seiner Sicht verfälschenden)Vertre-
ter der Zunftverderben lassen. Doch
es mangelt am Handwerk: Die Perso-
nenführung ist simpel, oft statisch; die
Kostüme von Anna Biagiotti lehnen
sich brav an antikeVorbilderan; und
die von Sigrid T’Hooft in historisieren-
der Absicht choreografierten Tänzchen
der Hirten und Nymphen erinnern an
Schüleraufführungen.

Blutrot schimmernderFluss


Inspirationsquelle für das Bühnenbild
von AndreaToccio ist dasTeatroOlim-
pico vonVicenza,ein Renaissancebau
von AndreaPalladio aus demJahr 1585,
der den antikenTheatern der Griechen
und der Römer nachempfunden ist.
Während inVicenza vor dem origina-
len Bühnenhaus gespielt wurde, wird
dieses Bühnenhaus in Genf auf eine
Lamellenwand projiziert. Drei bogen-
förmige Öffnungeninder Wand geben
den Blick frei auf dahinterliegende virtu-
elleRäume, die durchVideos vonVince
Varga bald eine liebliche Graslandschaft,
bald einen blutrot schimmernden Unter-
weltsfluss darstellen.Real gespielt wird
nur auf dem Proszenium, während der
Hauptteil der riesigen Genfer Bühne un-
genutzt bleibt.
Am Schluss wird der statische Cha-
rakter der Inszenierung freilich über-
raschend aufgebrochen. Zu seiner eige-
nen Musik fälltFischer plötzlich auch
inszenatorisch etwas Deutendes ein,
und zwar etwas durchaus Provokantes:
Mit einemangeschnalltenPhallus be-
drohtBacchus dieBacchantinnen, diese
entmannen ihn und verwandeln ihn
flugs in eineStatue,die als Botticellis
Venus auf einer übergrossen Muschel
steht. Orfeo selbst trittinder Schluss-
szene nicht mehr auf – perVideo ist nur
noch sein Haupt zu sehen, das sich all-
mählich in Einzelteileauflöst. Etwas
spektakulärer hätte diesePointe schon
ausfallen dürfen.

Nochherrscht eitelSonnenschein in Thrakien.Doch die böse Schlange lauertgewiss schon in derKulisse. JUDITH HORVÁTH
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