Neue Zürcher Zeitung - 30.10.2019

(Michael S) #1

Donnerstag, 31. Oktober 2019 FEUILLETON 39


Was bleibt von der Literatur, für wen und wozu?


In unseren schnelllebigenZeitenschreibt kein Autor für später – oder gar für die Ewigkeit. Von Felix Philipp Ingold


Ich bin alt genug, mithin auch fort-
geschritten genug,um als Zeitzeuge
für den deutschsprachigen Literatur-
betrieb der frühen1960erJahre gel-
ten zukönnen. Meine Erinnerungen
daran sind ebenso weitläufig wie prä-
zise, siereichen von den frühenAuftrit-
ten IngeborgBachmanns, PeterRühm-
korfs, ErichFrieds, H. M. Enzensbergers
oder H.C.Artmanns bis hin zu bereits
etablierten Schriftstellern wie Heinrich
Böll, Hilde Domin, Marie Luise Kasch-
nitz, Hans Erich Nossack. Manche von
ihnen sind heute – ihrer einstigenWert-
schätzung und Berühmtheit zumTr otz –
so gut wie vergessen.
Das trifft weit mehr noch auf jene
Autoren, jeneAutorinnen zu, die da-
mals und in derFolgezeit vomFeuille-
ton hofiert, vom Publikum geschätzt,
dann aber dochrecht bald wieder in
die Namenlosigkeit entlassen wurden.
Verwehte Mehrheit, verwehte Erfolge:
Schnurre, Lettau,Faecke,Innerhofer,
Borchers, Rasp, Elsner, Heckmann,Reh-
mann, Nonnenmann,Wohmann und
viele mehr – ich habe sie damals alle per-
sönlichkennengelernt, habe ihre Bücher
mit unterschiedlichem Gewinn gelesen,
einige davon auch besprochen, doch ge-
blieben ist mir davon kaum etwas, und
ich mag auch nicht mehr eigens darauf
zurückgreifen.Das gilt gleichermassen
für etablierte Grössen wiePeterWeiss,
Arno Schmidt, MaxFrisch.


Andrerseits frequentiere ich aus
jener weit zurückliegendenVergangen-
heit nach wie vor – und stets aufs Neue
–Thomas Bernhards kleine Prosa,O.F.
Walters staunenswertesFrühwerk, die
Erzählungen von Nossack und Kasch-
nitz...Ich muss allerdings hinzufügen,
dass ich mich der damaligen fremdspra-
chigen Literatur (mitAutoren wie Italo
Calvino, GracePaley, Claude Simon,
Robbe-Grillet) insgesamt enger und
produktiver verbunden fühlte als der
deutschen. Aber es geht hierja nicht um
persönlicheVorlieben und das «Über-
leben» einzelnerWerke in der privaten
Hausbibliothek, sondern – viel allgemei-
ner– darum, wie und weshalb bestimmte
Autoren sich in der Literaturgeschichte
oder gar im Kanon behaupten, andere
indes (die allermeisten) aussen vor blei-
ben, ohne jemals irgendeinenAnteil an
derVergangenheit oder gar der Zukunft
aller Literatur zu gewinnen.

Triage durch Zufall


Die banalste Erklärung dafür mag die am
ehesten zutreffende sein. Es geht um das
Verhältnis von Zeit und Quantität sowie
um den Zufall, der diesesVerhältnis not-
wendigerweise beherrscht: Die schiere
Menge publizierter Bücher verunmög-
licht deren adäquate (mankönnte auch
sagen: deren gleichberechtigte)Rezep-
tion und erzwingt vorab eineTr iage,die

nicht von der Qualität, nur vom Zufall
bestimmt sein kann.Was naturgemäss
für starke wie für schwacheTexte glei-
chermassen gilt. Ist dann die erste zufäl-
ligeAuswahl getroffen, steht als nächs-
ter Schritt der kritischeKommentar an,
inForm vonRezensionen, Bestenlisten,
Umfragen oder Literatur-Talks.
Doch was sollen all die verklun-
genen Namen, die an dieser Stelle für
noch zahlreichere andere, nicht ge-
nannteAutoren stehen?Sie sollenver-
deutlichen, wie weitTageserfolg und
Nachruhm auseinanderliegen; wie un-
klar und wechselhaft literarische Kri-
terien gemeinhin sind; ein wie geringer
Teil der literarischen Produktion über
die Zeitgenossenschaft hinaus «leben-
dig» bleibt und mit immer wieder neuer
Aktualität fortwirkt – aber eben auch,
wie weitgehend das Interesse an literari-
schem Nachleben geschwunden ist.
Kein Autor, keineAutorinschreibt in
diesen schnelllebigen Zeiten für «spä-
ter», für den Kanon oder gar die Ewig-
keit. Heutige Literatur ist fast durchweg
auf leichte undrascheRezeption ange-
legt.KurzfristigeWirkung, beglaubigt
durch denTageserfolg, zählt mehr als
überzeitliche Gültigkeit: Man hangelt
sich von Stipendium zu Stipendium, von
Auftritt zuAuftritt, von Preis zu Preis
und scheint sich damit abzufinden, dass
heutige Literatur schon morgengestrige
Literatur gewesen sein wird.

Andrerseits erinnert man sich heute
bereits nicht mehr an die hochgelobten
Preisträger von gestern, und Bücher sind
(für die Verlage, fürden Buchhandel, lei-
der auch für die Kritik) bloss noch sai-
sonal von Interesse – was währendder
Saison nicht aufgegriffen und ausge-
zeichnet wird, ist definitivpassé,kommt
umgehend als Makulatur ins Neuanti-
quariat. Selbst die Lektüre als indivi-
duelle dialogische Einlassungauf einen
Fremdtext scheint kaum noch gefragt zu
sein, wird abgelöst und ersetzt durchkol-
lektive Events (performative Lesungen,
Li teraturfestivals, massenmediale Lite-
raturklubs,Wettbewerbe und so weiter)
mit unmittelbarem Effekt. Intensität ist,
so scheint’s, nur noch imKollektiv zu er-
reichen und in Echtzeit auszuleben.

Da sind es schon zwei


Was für denAugenblick «reicht», über-
wiegt bei weitem das,was allenfalls
«bleibt». Nicht das Bleibende also zählt,
vielmehr das, was sich momentweise
durchsetzt, und was sich momentweise
durchzusetzen vermag, darf – wiederum
momentweise – als Erfolg gelten. Der
kurzfristige Erfolg ist höherkotiert als
die langfristige Geltung. Man braucht
dies weder zu bedauern noch zu kriti-
sieren, es hat sich so ergeben, weil es auf
Autoren- wie auf Leserseite einem Be-
dürfnis einer Mehrheit entspricht. Um-

gekehrt drängt sich dieFrage auf, ob,
wodurch und für wen «bleibende» litera-
rische Qualitäten überhaupt noch einen
Mehrwert bilden könnten gegenüber
punktuellem Spass oder punktueller
Betroffenheit, die offenkundig zum ein-
zig wirksamen Kriterium für zeitgenös-
sisches literarisches Schreiben (und Le-
sen)geworden sind: flüchtigerKonsum
stattproduktivesVerstehen.
Ich meinerseitsziehe solcherVer-
brauchsliteraturAutoren undWerke vor,
diemirbei jedemWiederlesen neueVer-
stehensperspektiven eröffnen, wiewohl
sie schon seit einem halbenJahrhun-
dert unverändert zu meinen bevorzug-
ten Lektüren gehören: GeorgesPerros,
Danilo Kiš, Giorgio Manganelli zum Bei-
spiel.Auch bereue ichkeineswegs, ein
gutesDutzend Bücher von Ajgi, Brod-
sky undJabès übersetzt zu haben, für die
es gegenwärtigkein adäquates Publikum
mehr gibt, aber doch wohl vereinzelte
Leser, die ihreTexte brauchen, sie su-
chen und immer auch finden.Mit Gün-
ter Eich («Zuversicht», 1966) liesse sich
in solchemVerständnis sagen:«In Salo-
niki / weiss ich einen, der mich liest, /und
inBad Nauheim, / das sind schon zwei.»

Felix Philipp Ingold,freier Auto r in Roma in-
môtier ,hatzuletztdenKunstessay«Körperbli-
cke» vorg elegt; jüngst erschienen: der Band
«Endnoten», Texte und Fotobilder (beides bei
Ritterbooks).

Nur weg von dieser neuen Welt und

zurück ins ländliche Idyll

Seine Kunst ist meisterlich, dochdie eigeneZeit war dem Maler Wilhelm Leibl fremd


MARIA BECKER


Dass Maler sich aufsLand zurück-
ziehen, ist nichts Ungewöhnliches. Da
draussen lebt es sich günstiger, man
kann sich ganz auf dieKunstkon-
zentrieren, und das Licht ist schliess-
lich auch besser. Nicht zuletzt hat man
dieKonkurrenz aus der eigenen Zunft
nicht ständigvor Augen. Allerdings gibt
es grosseUnterschiede in der Art und
Weise, wie sich Maler in der ländlichen
Ambiance eingerichtet haben. Claude
Monet zum Beispielresidierte in sei-
nem Anwesen bei Giverny mit gross-
bürgerlicher Hofhaltung. Für dieBau-
ern, die ihm die geliebten Alleebäume
in der Umgebung absägten, hatte er
nurVerachtung übrig. Ein anderer be-
rühmter Maler, Ernst Ludwig Kirch-
ner, suchte in einer Alphütte beiDavos
Heilung vomTr auma des Kriegs. Mit
denBauern verstand er sichgut.Das
Land wurde für ihn zum Neubeginn sei-
nerKunst, heilenkonnte es ihn nicht.


Bilderaus einer anderen Zeit


Was aberzogden gebürtigenKölner
und erfolgreichen Münchner Akade-
mieschülerWilhelm Leibl1873 ins bay-
rischeVoralpenland?Damals war er be-
reits mit einer Goldmedaille vomPari-
ser Salonausgezeichnet und konnte
auf eine erfolgreicheLaufbahn und
guteAufträge hoffen.Auch einenKreis
von Gleichgesinnten und Bewunderern
hatte er um sich geschart. SeinRück-
zug aufsLand war endgültig.Er baute
sich ein Atelierhaus inBad Aibling
und blieb dort bis zum Lebensende.
Leibl, ein Mann von festen Entschei-
dungen, war von seinemKönnen über-
zeugt.Dass er dieJägerei und die Unge-
schminktheit seiner ländlichen Modelle
mochte – war das ausschlaggebend für
ihn? Sicher, die idealisierende Glätte
der offiziellenKunst war ihm zuwider,
von Beginn an. Doch auch sein eigenes
Ideal, das so getreue Abbilder produ-
ziert hat, wirftFragenauf.
Das Werk von Leibl ist heute vor
allem in Fachkreisen bekannt. Die
Kunstgeschichte hat ihn zwar nicht ver-


gessen,aber er scheint wie überdeckt
von der Moderne. In einer Epoche, die
bereits den Divisionismus, den frühen
Expressionismus und garVorformen
der Abstraktion kannte, schuf er Bilder
aus einer anderen Zeit. DieRetrospek-
tive imKunsthaus Zürich zeigt das un-
verkennbar und vielleicht deutlicher, als
man gewollt hat. Integriert in die haus-
eigenen Sammlungsbestände, irritieren
die Bilder durch ihren Blick in dieVer-
gangenheit.Ist man da in der richtigen
Abteilung, oder hätte Leibl doch besser
auf die andere Seite vomRundgang ge-

passt? Dort sind nämlich die, die sein
Kunstwollen geleitet haben:die Nieder-
länder des Goldenen Zeitalters.
Rubens, Rembrandt, van Dyck,Jan
Steen, PieterLastmann,van Ostade
und andere Porträt- und Interieur-
maler des17.Jahrhunderts waren die
Vorbilder,die Leiblkopierte und adap-
tierte, manchmal bis in feinste Details.
Er hatte sie in der Alten Pinakothek
inMünchen immer studierbereit vor
Augen, und da, wokeine unmittelbare
Anschauung greifbar war wie beiVeláz-
quez, besass er fast das gesamte Œu-

vre inReproduktionen. Leibl hatkeine
Mühe gescheut, sein Handwerk in die-
ser Hinsicht zu perfektionieren. Er malt
Bauernküchen und -stuben im warmen
Licht deralten Zeit und lässtPorträts
aus demDunkel hervortreten wievan
Dyck.Freilich sindesInnenräume und
Menschendes19.Jahrhunderts. Doch
der Maler Leibl möchteVergegenwär-
tigung – fast so, als wäreRembrandt im
modernen Gewand auferstanden.
Natürlich hatte er auch andereVor-
bilder. Manet und Courbet warendie
Vorreiter der Moderne. Courbet hat er

inParis und München sogar persön-
lich getroffen, und das Enfant terrible
desPariser Salons gab dem Maleraus
Bayern sein ausdrückliches Lob.Aber
eben diese beiden, Manet und Courbet,
denen dieTextur der Malerei so wich-
tig war, weisen tatsächlich in diekom-
mendeModerne. Leibl hingegen schaut
in dieVergangenheit.Dass er sich dem
Landkind Courbet und seinenJägersu-
jets verbunden fühlte, darüber wundert
man sich nicht. Es gibt bei beiden eine
gewisse Neigung zur Idylle.Bei Cour-
bet haben diese Bilder aber immer
eine leicht karikierende Note. Leibl ist
es ernst mit denLandmotiven,ersucht
dieWahrhaftigkeit.

Verklärung desLandlebens


In derForschung wird betont, dass seine
«Frauen in der Kirche», seine «Dorfpoli-
tiker» und auch seinePaarszenen sich
der Erzählung verschliessen und in die-
sem Sinne modern sind. Stimmt das
wirklich?Will seine meisterliche Male-
rei nicht doch sprechen von etwas, das
es damals in dieserreinenForm schon
nichtmehr gab?Auch Albert Anker ver-
klärte dasLandleben. Er wusste ebenso
wie Leibl, dass das Stadtpublikum für
die Idyllen gute Preise zahlte. Mit Anker
verbindet Leibl noch etwas anderes: Es
ist die Hingabe anseine Sujets, eineArt
von Erfüllung im ländlichenDasein.
Manchmal gewinnt man bei Leibl
den Eindruck, dass er mit der Malerei
seiner Zeit nicht viel anfangenkonnte.
Das gilt nicht allein für das akademi-
sche Ideal.Auch die Modernescheint
ihm fremd zu sein.Vor diesem Hinter-
grund ist seinRückzug aufsLand auch
einVerschliessen vor der Entwicklung,
einRückzug ins eigene Ideal. Nichts
erfreute ihn mehr, als wenn einer der
Bauern ihm sagte, dass er ein Meister-
werk geschaffen habe. Leibls Malerei
ist, gerade weil sie so wahr undreal sein
will, aus der Zeit gefallen.Vielleicht war
es diese Ambivalenz, die er selbst am
meisten spürte.

Zürich , Kunsthaus, bis 19. Januar 2020.
Katalog Fr. 55.–.

Wilhelm Leibl: «Das Mädchen m.d. Nelke»,um1880, Gemälde. KUNSTHALLE KARLSRUHE / BPK
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