Neue Zürcher Zeitung - 30.10.2019

(Michael S) #1

40 SACHBÜCHER Donnerstag, 31. Oktober 2019


Als Frieden noch möglich schien


Eine Biografie des Soldaten, Politikers und Hoffnungsträgers Yitzhak Rabin


WolfgangTaus.·«DerWeg desFriedens
ist demWeg des Krieges vorzuziehen.
Ich sage euch dies als jemand, der 27
Jahre lang ein Mann des Militärs war.»
DieseWorte sprach der damalige israe-
lische MinisterpräsidentYitzhakRabin
am 4. November1995 an einer gros-
sen Kundgebung inTelAviv, kurz bevor
er von einem fanatischen orthodoxen
Juden ermordet wurde. Der Täter hatte
einen Mann getötet, dessen Leben und
Wirken der Inbegriff des israelischen
Establishments war:Rabin (1922–1995)
hatte osteuropäischeWurzeln, war Prot-
agonist in der Arbeiterbewegung, dem
Palmach (der militärischen Eliteeinheit
des vorstaatlichen Israel), in den israe-
lischenVerteidigungsstreitkräften. Die
Jahre nach dem Mordanschlag waren
durch eine ArtKulturkampf geprägt:
Auf der einen Seite standen die Siedler,
die radikaleRechte und ein Grossteil
der orthodoxen Gemeinschaft; auf der
anderen Seite der säkulare, gemässigte
Teil der israelischen Öffentlichkeit. Es
ging dabei nicht nur um denFriedens-
prozess, sondern auch um die grund-
sätzlicheAusrichtung desLandes. Um
diese fundamentalenFragen der staat-

lichenVerfasstheit gehtes auch im heu-
tigen Israel mit aller Eindringlichkeit.
Der Autor dieser erhellendenRabin-
Biografie, ItamarRabinovich, war einer
der engsten Vertrauten Rabins. Er
führte in dessenAuftrag dieFriedens-
verhandlungen mitSyrien und war – wie
Rabin selbst vieleJahre zuvor –israeli-
scher Botschafter in den USA. Dieses
Buch ist eine gelungeneVerbindung aus
quellengeleiteterForschung und persön-
lichen Einsichten.
Rabin kämpfte bereits als junger
Mann in führenderFunktion im israeli-
schenUnabhängigkeitskrieg, wurde spä-
ter Generalstabschef der israelischen
St reitkräfte und führte diese Armee
während des Sechstagekrieges zu ihrem
grösstenTriumph.Rabin hatte von 1984
bis 1990 zudem das Amt des israelischen
Verteidigungsministers inne und stand
als Ministerpräsident seinemLand von
1974 bis 1977 sowie später von1992 bis
1995 vor. DerAutor schildert nicht nur
denSoldaten undPolitiker, sondern
auch ausführlich den MenschenYitzhak
Rabin.Von vielen als scheu und spröde
wahrgenommen, wird er vonRabino-
vich als «geradliniger und bescheidener

Mann» beschrieben,der seineRolle als
Ehemann,Vater und Grossvater trotz
allenVerpflichtungen ernst nahm, der
auch entgegen politischen Interessen
an seinen Prinzipien festhielt und der
Freundschaften nicht für die eigene Kar-
riere opferte.
Rabin war einer der Architekten des
Nahostfriedensprozesses,der nach sei-
nemTod mehr oder weniger ein Ende
fand und bis heutenicht mehr wie-
derbelebt werden konnte. DerFrie-
densnobelpreisträger gilt bis heute für
viele Israeli als ein Märtyrer für einen
Ausgleich mit denPalästinensern, der
schliesslich dafürmit seinem Leben be-
zahlen musste. Ihn als einenPazifisten
zu bezeichnen, wäre dennochfalsch.
Lesenswert.

Jubeln und Mitleiden


Michael vonOrsouwüber royale Besuche in der Schweiz


ak.·Als der deutsche KaiserWilhelm II.
im Jahr 1912 die Schweiz besuchte, berei-
teteihm Zürich einen pompösen Emp-
fang.Man hatteTriumphbogenaus Holz
erstellt, durch die derroyaleTross zog,
und entlang der Strassen hatten sich Hun-
derttausende versammelt,um einen Blick
auf den hohen Besucher zuerhaschen.
Schon immer liebten dieKönige die
Schweiz, und die Schweiz liebte die
Könige. Das zeigt das neue, schön ge-
staltete Buch von Michaelvan Orsouw,
in dem Schweizer Geschichten rund
umkönigliche und kaiserliche Besu-
che auf höchst unterhaltsameWeise ge-
schildert werden. Eigentlich erstaunlich,
dass sich ausgerechnet die angeblichen
Ur-Demokraten so für die gekrönten
Häupter interessierten. Aber vielleicht
waren diese,weil man selberkeinehatte,
umso interessanter. Die Menschenmas-
sen säumten die Strassen beiJoseph II.,
bei Napoleon III., bei QueenVictoria
oder Ludwig II., wobei es den Bewun-
derten meist gar nichtrecht war. Sie
reisten unter falschen Namen und mie-
den offizielleEmpfänge, wann immer
es ging. Einzig die LuzernerKegler, die
mit ihrem lauten Spiel den Schlaf von


KöniginVictoria störten, liessen sich
nichtbeirren: Sie lärmten weiter, ob-
wohl ihnen die Queen 2000 Franken
fürsAufhören geboten hatte.
Es gibt auch die tragischenroyalen
Geschichten aus der Schweiz,etwa das
Attentat auf Kaiserin Elisabeth von Ös-
terreich-Ungarn, das in den «Sissi»-Fil-
men nicht vorkommt. Für g rossesAuf-
sehen sorgte auch der tödlicheAuto-
unfall der belgischenKönigin imJahr


  1. Astrid galt als dieLady Dider da-
    maligenZeit. Die Nachricht von ihrem
    Tod machte, auch dank neuen Mitteln der
    Fotoreporter, innert kürzester Zeit welt-
    weit Schlagzeilen.Und die Schweizer,die
    jedem Kaiser undKönig zugejubelt hat-
    ten,kamen nun auch auf die Strassen, um
    ihr Mitgefühl auszudrücken.


Itamar Rabinovich:
Jitzchak Rabin.
AlsFrieden noch möglich
schien. Eine Biographie.
Wallstein-Verlag,
Göttingen 20 19.
307 S., Fr. 36.90.

Michaelvon Orsouw:
Blaues Blut.
Royale Geschichten
aus der Schweiz.
Verlag Hier undJetzt,
Baden 2019.
31 2S., Fr. 39.–

Am Ende seines Lebens fiel der russi-
sche Literaturkritiker undKulturphilo-
sophWassili Rosanow (1856– 1919 ) buch-
stäblich aus der Zeit. Die Bolschewiki
hatten den julianischen Kalender abge-
schafft und die Uhrzeit um zwei Stunden
vo rgestellt.Rosanow hielt aber an der
überkommenen Gesellschaftsordnung
fest, obwohl er selbst immer wieder in
Konflikt mit den zaristischen Behör-
den geraten war. Er lehnte die Oktober-
revolution scharfab und bezeichnete sie
als «Apokalypse unserer Zeit».
Für Rosanow warRussland nur als
Monarchie denkbar. Bereits in einem
Brief aus demJahr 1916hatte er un-
missverständlichfestgehalten: «Russ-
land wird ohne den Zaren nicht überle-
ben.» Die Bolschewiki waren für ihn von
Deutschland gedungeneVerräter, auf
die man «mit dem Maschinengewehr»
schiessen müsse. DieAntipathie beruhte
durchaus auf Gegenseitigkeit. Lenin dif-
famierteRosanow alsreaktionärenAus-
führungsgehilfen des Zarenregimes.
Während der SowjetzeitkonntenRosa-
nowsWerkenicht publiziert werden.
Dabei hätteRosanow durch seine
Herkunft durchaus zu einerreform-
orientierten Grundhaltung gelangen
können. SeinVater warForstbeamter
im nordrussischenKostroma, seine Mut-
ter entstammte einem verarmtenAdels-
geschlecht. Als Vierjähriger verlorRosa-
now denVater, als Vierzehnjähriger die
Mutter. Diese trat ihm in ihren letzten
Lebensjahren allerdings nicht als Er-
zieherin gegenüber, sondern als pflege-
bedürftigePatientin. Drei- bis viermal
täglich musste der Sohn bei seiner nack-
ten Mutter Unterleibspülungen vorneh-
men.Durch diese frühe Begegnung mit
dem weiblichen Organismus istRosa-
nows späteres Interesse anFragen der
Sexualität und der Geschlechtlichkeit
bereits vorgezeichnet.
Nach demTod der Mutter zog sich
Rosanow vollkommen zurück, er ver-
brachte die meiste Zeit in seinem Zim-
mer mit seinen Büchern.Allerdings war
er ein durchschnittlicher Schüler.Gute
Noten erhielt er nur gerade in denFä-
chernReligion, Logik und Geschichte.
Trotzdem absolvierteererfolgreich ein
geisteswissenschaftliches Studium an
der Universität Moskau.


EhemitDostojewski


Der jungeRosanow träumte davon,Phi-
losophieprofessor zu werden. Deshalb
steckteer jede freie Minute in dieAus-
arbeitung eines umfangreichenTrak-
tats mit demTitel «Über dasVerstehen».
Allerdings verkalkulierte sichRosanow
in mehrfacher Hinsicht: Er hatte den
Druck selbstfinanziert, musste dasur-
sprünglich fünfRubel teure Buch aber
bald für dreiKopeken verramschen.Dar-
über hinaus hatte er eine besonderskom-
plizierte Einleitung geschrieben, weil er
fürchtete, dass die Leser sich sonst die


Literarischer

Revolutionär und

treuer Monarchist

Wassili Rosanow ist eine der widersprüchlichsten


Erscheinungen der russischen Kulturgeschichte.


Rainer Georg Grübel widmet dem Kritiker und


Philos ophen eine Biografie, die auch die Geschichte


des Zarenreichs ausleuchtet. Von Ulrich M. Schmid


restliche Lektüre des umfangreichen
Werks ersparen würden. Und schliess-
lich wurde sein Buch weder von den Zei-
tungen noch von den Universitäten zur
Kenntnis genommen. Letztlich hat die-
ser Misserfolg aberRosanow zu seinem
eigenen, unverwechselbaren Stil geführt.
Fortan verlegte er sich auf dasVerfas-
sen höchst eigenwilliger Essays, deren
Markenzeichen in derVerbindung von
Sprachwitzund Provokation bestand.
Wie sehrRosanow für die Litera-
tur lebte, zeigt sich auch in seiner pre-
kären Ehe mit Apollinaria Suslowa, der
Schwester von Nadeschda Suslowa, der
ersten promovierten Ärztin der Uni-
versität Zürich. Apollinaria war in den
1860erJahren Dostojewskis Geliebte
gewesen –Rosanow heiratete also ge-
wissermassen den berühmtenRoman-
cie r. Das Oszillieren der Geschlechts-
rollen faszinierteRosanow auch als
Autor. Er war der Meinung, dass sich in
jedem Menschen männliche und weib-
liche Anteiledynamisch mischen. Aus
Neugier versuchte sichRosanow sogar
in derkörperlichen Männerliebe, aller-
dings kam er baldzum Schluss,«keinen
Geschmack» dafür zu haben.
Rosanows exaltierterWunsch, über
Apollinaria in die russische Literatur
einzuheiraten, endete in Streit undTren-
nung. Dostojewskis Schatten sollte noch
lange überRosanow hängen:WeilApolli-
naria zeit ihres Lebens nicht in eine Schei-
dung einwilligte, konnteRosanow seine
spätere Lebensgefährtin und Mutter sei-
ner fünf Kinder nie heiraten. Immerhin
rächte er sich und prangerte bei jeder sich
bi etenden Gelegenheit mit spitzerFeder
das starrerussische Eherecht an.

Der heiligeSamen


Rosanowerzielte einen«succès de
scandale», weil er seine Geschlechts-
metaphysik in eine theologische Dis-
kussion einbettete. In den1890erJah-
ren begann er, von der «Heiligkeit des
Samens» zu sprechen.Pointiert formu-
lierte er: «Mit der Unanständigkeit be-
ginnt dieReligion.»Damit geriet auch
das Christentum in seinVisier. Jesus
habe dasBanner desWortes erhoben,
um von seiner eigenen «Samenlosig-
keit» abzulenken.Dieses lebensfeind-
liche Element seiauch dafür verant-
wortlich, dass dasChristentum keine
Nation begründenkönne, sondern die
ge istige (und damit kraftlose)Verbrü-
derung aller Menschen predige.
Viel vitaler als das asketische Chris-
tentum erschienen dem streitbaren
Publizisten die altägyptischeReligion
und dasJudentum. Allerdings ergab
sich hier bald ein Zielkonflikt:Rosa-
nows Chauvinismus, der eine deut-
lich antisemitische Note trug, kolli-
dierte mit seiner heimlichen Bewun-
derung für die «Geruchs- undTastbe-
ziehung derJuden zum Blut»,wie eine
sein er judenfeindlichen Broschüren aus

demJahr 1914hiess. RosanowsAusfälle
geg en dieJuden gipfeln in geschmack-
losenAufrufen zumPogrom, mit dem
sich dieRussen gegen die fremdenAus-
beuter wehren müssten.
Rosanow ist eine der widersprüch-
lichsten Erscheinungen in der russi-
schenKulturgeschichte. Er posierte als
patriotischerMonarchist, gleichzeitig
hatte er immer wieder mit der Zensur
zu kämpfen. Er setzte sich für dieWürde
des Individuums ein und wetterte gegen
Parlamentarismus oderKonstitutiona-
lismus. Er lebte oft an der Armutsgrenze
und lehnte doch ökonomischeRefor-
men im Zarenreich ab. Er revolutio-
nierte durch seinen aphoristischen Stil
die russische Literatur, wandte sich aber
gegen alle Erscheinungen des Modernis-
mus inKunst (Kandinsky, Malewitsch)
und Musik (Skrjabin,Rachmaninow).
Er trat als lauter Antisemit auf, obwohl
er imJudentum eine vitaleVerbindung
vonReligion und Sexualität erblickte.
Rosanows Leben endete tragisch.
Kurz vor seinem Kältetod zu Beginn
des Bürgerkriegsjahrs 1919 war sein
Sohn der Spanischen Grippe erlegen.
Wenige Monate nachRosanowsTod
beging seineTochter Selbstmord. Zuvor
war seineFrau an den Spätfolgen einer
Syphilis erkrankt,die sie sich von ihrem
ersten Mann zugezogen hatte. In star-
kemKontrast zu dieserTragödie steht
die Wirkung,die RosanowsWerk nach
seinemTod entfaltet hat. In Sowjet-
russland folgten ihmViktor Schklowski
und Michail Prischwin. In der Emigra-
tionsliteratur zollten ihm Georgi Iwa-
now und BorisPoplawskiTribut. In den
USA wirkteRosanow aufD. H. Law-
rence und Henry Miller.
Der Oldenburger Slawist Rainer
Georg Grübel legt zu Rosanows hun-
dertstemTodestag eine monumentale
Biografie in zweiBänden vor. In die-
sem umfassenden Projekt leuchtet er
nicht nurRosanows Leben in all sei-
nen interessanten und problemati-
schenFacetten aus, sondern er schreibt
auch eineKulturgeschichte des späten
Zarenreichs.RosanowsWortmeldungen
werden durch zahlreiche Exkurse etwa
zumRauchen, zum Eisenbahnbau oder
zur Medizingeschichte erklärt. Grübel
stellt die überzeugendeVermutung auf,
Rosanow habe an einem ADHS-Syn-
drom gelitten. In seiner Essayistik ist es
Rosanow jedenfalls gelungen, seinem
sprunghaftenund impressionistischen
Denken einen exquisiten literarischen
Ausdruck zu verleihen.

Rainer Georg Grübel:
Wassili Rosanow.
EinrussischesLeben
vom Zarenreich bis
zur Oktoberrevolution.
Aschendorff-Verlag,
Münster 20 19.
Seine ernsteMiene trugRosanowden Übernamen «Friedhofs-Wasja» ein. ALAMY 1072 S., Fr. 84.90
Free download pdf