Neue Zürcher Zeitung - 30.10.2019

(Michael S) #1

Donnerstag, 31. Oktober 2019 INTERNATIONAL


Die Frauenmorde in Österreich offenbaren kulturelle Abgründe


Erneut ersc hüttern Tötung sdelikte das Land – Schuldige sind schnell gefunden, nachhaltige Lösungen komplizierter


IVO MIJNSSEN, WIEN


Sie wollte ihn verlassen, deshalb tötete
er sie. Der31-jährige Ingenieur erstach in
Kottingbrunn, 30 Kilometer ausserhalb
vonWien, zunächst seineFrau.Dann
di e kleineTochter. Seinen elfmonati-
gen Sohn erstickte er. Schliesslich rief
der Österreicher diePolizei. Nur drei
Wochen vorher hatte ein junger Mann
in Kitzbühel seine19-JährigeFreundin
und deren ganzeFamilie erschossen.Das
Motiv für denFünffachmord: Sie hatte
mit ihm Schluss gemacht.
Die beidenFälle sindextrem,doch sie
sind für Österreich nicht aussergewöhn-
lich.Inkeinem anderen EU-Land ist
der Anteil derFrauen an den Ermorde-
ten höher. Doch die absolutenZahlen
schwanken stark: 20 19 kamen bisher 18
Frauen gewaltsam ums Leben,imVor-
jahr waren es 41 gewesen. Statistiker se-
hen darinkeinen generellenTr end und
weisen darauf hin, dass in den achtziger
und neunzigerJa hren weit mehrFrauen
in Österreich getötet wurden.


Was die Statistik zeigt


Auf dieWahrnehmung hat dies kaum
Einfluss. In den letztenJahren häuften
sich krasse Einzelfälle, die medial ausge-
breitet wurden. Die Empörung hat poli-
tischen Handlungsdruck erzeugt, beson-
ders inVerbindung mitderZuwande-
rung. DieFreiheitlichePartei (FPÖ) und
ihr nahestehende Medien ziehen jeweils
rascheinen direkten Zusammenhang


zwischen der Flüchtlingswelle aus dem
arabischenRaum und der Gewalt gegen
Frauen. Die Statistik zeigt ein anderes
Bild: Der Anteil ausländischer Täterbei
Frauenmorden liegt zwar leicht höher als
derAusländeranteil an der Bevölkerung,
doch die allermeisten stammen vomBal-
kan oder aus Deutschland. Der Täter
von Kitzbühel ist ein Österreicher ohne
Migrationshintergrund, jener vonKot-
tingbrunn einer mit türkischenWurzeln.
Die Bilanz der im Mai abgewähl-
tenRegierung im BereichFrauenschutz
ist durchzogen. Innenminister Herbert
Kickl von der FPÖ strich die Subventio-
nen fürBeratungsstellen undFrauenver-
eine. Mit dem Ziel, mehr Sicherheit zu
schaffen, verabschiedeten dieFreiheit-
lichen zusammen mit derkonservativen
Volkspartei im September ein Gewalt-
schutzpaket. Es sei wegen vonAuslän-
dern verübten Morden nötig, argumen-
tierten ihreVertreter imParlament.Das
Massnahmenbündel sieht eineVerdop-
pelung der Mindeststrafe fürVergewal-
tiger,eine Anzeigepflicht für Ärzte
und Psychotherapeutinnen sowie mehr
Opferschutz vor.
Obschon mehr Schutz für Frauen
allenParteien ein Anliegen ist, übte der
Justizminister ClemensJabloner ver-
nichtende Kritik: «Faktisch die ganze
Fachwelt lehnt dieseVerschärfungen
ab.» Experten befürchten, dass die
höheren StrafenFrauen davon abhalten
könnten, Anzeige zu erstatten, weil sie
Angst vor denFolgen haben.Das Glei-
che gilt für die Anzeigepflicht des Ge-

sundheitspersonals, dieim Hinblickauf
das Praxisgeheimnis höchst problema-
tisch ist. Hinzukommt, dasskeine zu-
sätzlichen Mittel budgetiert sind; Justiz
und Opferschutzeinrichtungen leiden
unter chronischer Überlastung.

Opfer im Stichgelassen


Diese Problematik betont auch Maria
Rösslhumer, die Geschäftsführerin des
Vereins Autonome Österreichische
Frauenhäuser (AÖF).Frauen dazu zu
bringen, Anzeige zu erstatten, sei eine
grosse Herausforderung. Die Polizei
reagiere meist noch gut, doch gefährlich
sei vor allem die Zeit danach,wenn etwa
der gewalttätige Mann mitbekomme,
dass sich dieFrau trennen wolle. «Die
Staatsanwaltschaft behandelt dieFälle
oft zu lax», stellt Rösslhumer fest. «Die
Opfer werden im Stich gelassen, weil
Anzeigen zurasch eingestellt werden.»
Der ehemaligenRegierung wirft sie
vor, die sogenanntenFallkonferenzen
abgeschafft zuhaben, in denen sich Orga-
nisationen und Behörden über gefähr-
licheFälle ausgetauscht hätten. Sie sollen
nun wieder eingeführt werden, aber im
Gegensatz zu früher kann nur diePoli-
zei diese einberufen. Zudem brauche es
deutlich mehr Mittel:Rösslhumer for-
dert 210 Millionen Euro proJahr anstelle
der 10 Millionen, die demFrauenminis-
terium zurVerfügung stehen.
«Die Morde passieren nicht aus hei-
terem Himmel», sagtRösslhumer über-
zeugt. Sowohl beimFall inKottingbrunn

als auch in Kitzbühel habe es zunächst
geheissen, die Täter seien unauffällig ge-
wesen, bevor Aggressionenund Drohun-
gen, die derTat vorangegangen seien, ans
Lichtgekommen seien. Sie fordert Prä-
ventionsarbeit im Sinne des Opferschut-
zes. Den Männern fehle oft jegliches
Schuldbewusstsein. «Sie sehen ihreFrau
als ihr Eigentum und ertragen denKon-
trollverlust nicht, wennsie geht.»
Dieses Besitzdenken sei auch unter
Österreichern ausgeprägt – gerade in
konservativen, katholisch geprägten
Landgemeinden. «Je patriarchaler eine
Gemeinschaft, desto eher neigen Män-
ner zu Gewalt.» In Österreich arbeite
man seit vierzigJahren an der Gleichstel-
lung und Gewaltprävention. In Afgha-
nistan oder Tschetschenien hingegen
seien nicht nur traditionelleRollenmo-
delle stärker verankert, die Menschen
seien oft auch traumatisiert von Krieg
undVertreibung.
Dies beobachtet auch NajwaDuzdar.
Die 28-Jährigearbeitet für Orientex-
press, eine Nichtregierungsorganisation,
die sich anFrauen mit Migrationshinter-
grund richtet. Gewalt gegenFrauen sei
international,aber in traditionellen und
religiösen Gemeinschaftenbesonders
ausgeprägt. «Migrantinnen zu erreichen,
ist oft sehr schwierig, sie sind isoliert»,
sagt dieTochter einesPalästinensers und
einer Österreicherin. Als eine von ganz
wenigen Organisationen biete Orientex-
press Beratungen nicht nur auf Deutsch
und Englisch,sondern auch aufTürkisch
und Arabisch an. Der Bedarf sei riesig.

Die Betreuerinnen werdenoftange-
feindet. «Man sieht uns alsFamilienzer-
störer,einige wurden auch bedroht»,sagt
Duzdar. Nochmehr stehe aber für die
Opfer auf dem Spiel: «Eine Scheidung
von einem gewalttätigen Ehemann be-
deutet oft den Bruch mit derFamilie und
der Gemeinschaft.» Manchmal hänge
auch ihrAufenthaltsstatus von jenem des
Gatten ab. Dazukomme ein verbreitetes
Misstrauen gegen die Behörden.

Wer betreut die Männer?


Die ArbeitmitJungen und Männern
mit Migrationshintergrund finde kaum
statt und müsse verstärkt werden, findet
NajwaDuzdar. Das sei umso wichtiger,
wenn der kulturelle Graben zwischen
dem Herkunftsland und Österreich
gross sei undKonflikte umRollenmo-
delle noch befeuernkönne. «Natürlich
ist es für Männer oft schwierig, dass ihre
Frauen hier plötzlich ihreRechte ein-
fordern», sagt MariaRösslhumer. Das
widerspreche tradiertenVorstellungen
von Ehre und Männlichkeit.
Doch die Unterschiedesind nicht in
St ein gemeisselt:Wie eine jüngst publi-
zierte Studie zeigt, führt das Leben in
Österreich dazu, dasssich traditionelle
Rollenbilder von Einwanderern über
die Zeit aufweichen und dieReligiosi-
tät abnimmt. Dies allein macht das Le-
ben derFrauen nicht sicherer.Aber es
zeigt, dass die Integrationsbereitschaft
weiterhin besteht – allemKulturkampf
zumTr otz.

Francos Opfer warten noch auf Gerechtigkeit

Die Exhumier ung des spanischen Diktat ors ist ein kleiner Schritt zur Aufarbeitungsein es Regimes


UTE MÜLLER, MADRID


Die spektakulären Bilder von der Um-
bettung des Leichnams vonFrancisco
Franco per Helikopter vergangene
Woche sollten derWelt zeigen, dass Spa-
nien einemoderne Demokratie ist, die
souverän mit ihrerVergangenheit um-
geht. Doch imAusland lässt verwundert
aufhorchen,dass fast 44Jahrevergehen
mussten, bis man es endlich schaffte, den
Diktator aus der gigantischenFelsen-
basilika imTal der Gefallenen zu holen.
Dort sind auchTausende seiner Opfer
verscharrt.
Die lange Zeitspanne verdeutlicht,
dass es Spanien allen Bemühungen zum
Tr otz bis heute nicht gelungen ist, die
traumatischeVergangenheit richtig auf-
zuarbeiten. Grund dafür ist nicht zuletzt
eine nach demTod Francos imJahr 1977
verabschiedete Generalamnestie, mit der
alleVerbrechen aus seiner Zeit abgegol-
ten wurden.Damals wollten alle politi-
schen Kräfte nach vorne schauen, anstatt
die Untaten desRegimes aufzuklären.


Schweigen verordnet


Die viel gelobte«Transición»,der fried-
liche Übergang in die Demokratie,
hatte auch Nachteile und kann heute
als «Schweigepakt» kritisiert werden.
Wahrscheinlich habe man damals zu
vieleKonzessionen gemacht, sagteMar-
cos Ana, der nach dem Bürgerkrieg 23
Jahre lang inFrancosKerkern gefan-
gen gehalten wurde. Der vor dreiJah-
renverstorbene Schriftsteller war Spa-
niens politischer Gefangener mit der
längsten Haftzeit.«Wir waren schwach,
schliesslich sassen die Militärs ja noch in
den Kasernen mit denFingern am Ab-
zug. Eswareine sehr delikate Situation»,
erklärteAna imJahr 2008 in einem Ge-
spräch mit dieser Zeitung.
Der überzeugteKommunist hatte ge-
rade ein Buch veröffentlicht über seine
Zeit in franquistischen Kerkern, in
denen erFolter, Hunger und Kälte aus-
gesetzt gewesen war. SeinWerk kam
zu einem Zeitpunkt heraus, als ein spa-
nischer Richter, nämlichBaltasar Gar-
zón, erstmals versuchte, Franco und sei-
nen Generälen postum den Prozess zu


machen. FürGarzón waren die Greuel-
taten desRegimesVerbrechen gegen
die Menschlichkeit, die nicht verjähren.
Doch seine Richterkollegen blockierten
ihn so lange, bis Garzónresigniert das
Handtuch warf.
Von der halbherzigen«Transición»
profitierten nicht nur die Kriegsverbre-
cher, sondern auch dieFamilieFranco.
Während anderswoTyrannen kurzer
Prozess gemacht wurde oder sie zumin-
dest aus demLand gejagt wurden, ge-
ni essenFrancos Nachfahren bis heute
Privilegien.FrancosWitwe bekam bis
zu ihremTod eineRente, die viermal
so hoch war wie dasJa hressalär der ers-
tenRegierungschefs der Demokratie;
Francos einzigeTochter Carmen erhielt
vom damaligenKönigJuan Carlos einen

Adelstitel.Das Vermögen derFamilie,
vor allem Immobilien, die sichFranco
während seiner Amtszeit «schenken»
liess, wurde nicht angetastet und beläuft
sich nach heutigen Schätzungen auf 500
bis 600 Millionen Euro.EinzigFrancos
Sommerresidenz im nordspanischen
Galizien muss dieFamilie jetzt nach
einem langenRechtsstreit der Öffent-
lichkeit zugänglichmachen, aber nur
wenigeTage imJahr.

UngeöffneteMassengräber


«Nach der ExhumierungFrancos sollte
man sich fragen,warumSpaniendem
Diktator so lange eineVorzugsbehand-
lung hat zukommen lassen, während
man mit den Opfern der Diktatur der-

art ungerecht umging», sagt Emilio Silva,
dessen Grossvater einst von denFran-
quistenerschossen worden war.Vor fast
zwanzigJahrengründeteer denVerband
des historischen Gedenkens (ARMH),
der inzwischen740 Gräber geöffnet und
die Gebeine von mehr als 90 00 Franco-
Opfern geborgen hat.
Auf der Liste der ARMH stehen
noch immer mehr als 11 4000 nichtge-
borgene Opfer, dienach ihrer Erschies-
sung zumeist nebenLandstrassen ver-
scharrt wurden.Damit ist Spanienhinter
Kambodscha dasLand mit den meisten
ungeöffnetenMassengräbern. Unter der
konservativenRegierung von Mariano
Rajoy gab eskeinerlei staatliche Unter-
stützung für die Bergung von Op-
fern, nur einigeRathäuser undRegio-

nalregierungen etwades Baskenlands
machten eine löblicheAusnahme. Jetzt
hat die amtierendeRegierung Mittel be-
reitgestellt, um weitere dreizehn Mas-
sengräber zu öffnen. Angesichts dessen,
was zu tun wäre, ist das einTr opfen auf
den heissen Stein.
Auch mit derrechtlichenRehabili-
tierung derFranco-Opfer tut sich das
Land schwer. «KeinRegierungschef in
Spanien hat es bisher geschafft, sich offi-
ziell mit den Nachfahren der Opfer zu
treffen», beklagt Silva. Bis heute sind
die willkürlichen Urteile derFranco-
Justiz nicht annulliert worden, dabei
wardies eines der zentralenElemente
des 2007 verabschiedeten Gesetzes zur
Wiedererlangung des historischen Ge-
dächtnisses. Die Urteile wurden ledig-
lich als «nicht legitim» erklärt, was aber
bedeutete, dass die Opfer und ihreAn-
gehörigen nicht automatisch einen An-
spruch auf eine materielleWiedergut-
machunghaben.

Zu Ehre n desDiktators


Mit der in jenem Gesetz beschlosse-
nen Entfernung vonFranco-Symbolen
und Monumenten aus dem öffentlichen
Raum tut sich Spanien ebenfalls schwer,
wiederTr iumphbogen Arco de laVic-
toria in Madrid zeigt, der an den Sieg
derFranco-Truppen über dieRepubli-
kaner erinnert, oder eine StatueFran-
cosals Legionärskommandant, die bis
heute einen Platz in Melilla ziert. In 650
Ortschaften gibt es noch Strassen, die
nach Generälen undWürdenträgern der
Franco-Zeit benannt sind.
Und ob aus demTal der Gefallenen
einesTages ein Ort derVersöhnung und
des Gedenkens derToten beiderLager
wird, darf bezweifelt werden. Zu lange
diente der Ort den Ewiggestrigen als
Pilgerstätte und Ort derVerherrlichung
des Franquismus. Der katalanische
Historiker RicardVinyes fordert daher,
dass mankeinerlei Gelder mehr in den
Erhalt der monumentalen Anlage ste-
cken,sondern sie einfach verfallen las-
sen sollte. Schon jetzt nagt der Zahn
der Zeit an ihr.An einigen Stellen rinnt
Wasser in dieBasilika, und stellenweise
bröckelt das Mauerwerk.

Nachfahren des Diktators tragenFrancosSarg aus der monumentalen Grabstätte imTalder Gefallenen. EMILIO NARANJO/REUTERS
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