Neue Zürcher Zeitung - 30.10.2019

(Michael S) #1

INTERNATIONALIDonnerstag, 31. Oktober 2019 Donnerstag, 31. Oktober 2019 NTERNATIONAL


Kafka wohnt

am Römer

Stadtrand

Der Corviale, der grösste Sozialbau Italiens, wird


gemeinhin Riesenschlange ge nannt. Seine Bewohner


werden vom Staat seit je vernachlässigt.


ANDREA SPALINGER (TEXT)
UND ALDO FEROCE (BILDER),ROM


Wer den Corviale zum ersten Mal vor
sich sieht, dem verschlägt es den Atem.
Mit einerLänge von einem Kilometer
ist das neunstöckige Gebäude das
längste Hochhaus Europas. Das Mons-
ter aus Beton wurde in den siebziger
Jahren am südwestlichenRand von
Rom in derTradition von Le Corbusiers
utopischenWohnmaschinen gebaut.Im
Gegensatzzu anderen Sozialbauten sei-
ner Zeit steht es aber nicht in der dicht-
besiedelten grossstädtischenPeripherie,
sondern inmitten einer grünen Idylle.
In den Pinien vor dem Riesenblock zir-
pen die Grillen.Auf den umliegenden
Feldern liegen Heuballen. Im Schatten
einer Zypresse grasen Pferde.


Einst 8500 Bewohner


Die Hauptstädter nennen ihn auch den
Serpentone, die Riesenschlange. Die Le-
gende besagt, ersei sogross ,dass er den
vom Meerkommenden kühlendenWind
abhalte undRom noch mehr unter der
Sommerhitze leide. Sein Schöpfer, der
Architekt MarioFiorentino, hatte ihn als
selbstversorgendeWohnanlage geplant.
Im Gegensatz zu den in den sechziger
Jahren entstandenen peripheren Schlaf-
quartieren sollte er den Bewohnern
Unterkunft, Arbeitsplatz undVergnü-
gen an einem Ort bieten. Im 4 .Stock
war ein offener Boulevard mitLäden,
Kindergärten,Schulen,Kirchen,Fitness-
zentrum,Restaurants und vielRaum für
Begegnungen geplant.
Die beauftragteBaufirma meldete
jedoch vor derFertigstellungKonkurs
an, und die zuständige Gemeindever-
waltung übergab die Sozialwohnungen
ab 1982 in halbfertigem Zustand. Der
ganze öffentliche Bereich wurde nie ver-
wirklicht.Das vierte Stockwerk wurde


nach wenigen Monaten besetzt. Mit
Backsteinen und Zement schufen sich
illegale Zuzüger selbstWohnraum und
zapften Strom- undWasserleitungen an.
Anstatt ein ideales Heim für die Mas-
sen wurde der Corviale zu einem un-
wirtlichenKoloss, in dem sich schwer
leb en liess. «Unsere Wohnung war in
einem miserablen Zustand, als wir ein-
zogen. Der Bodenbelag und die sanitä-
ren Anlagen fehlten.Wir mussten viel
Geld investieren, um sie bewohnbar zu
machen», erzählt Angelo Scamponi, ein
pensionierter Beamter, der mit seiner
Frau und seinen vierKindern1985 hier-
hergezogen war.
Zu denBaumängeln hinzu kam der
fehlende Unterhalt. «In diesem Sozial-
bau mit seinen 1300 Wohnungen gab
es keinen einzigen Hausmeister,keine
Handwerker, keine Gärtner undkein
Reinigungspersonal.Von Sozialhelfern
ganz zu schweigen», ereifert sich der
77-Jährige, der mit einer Gruppe von
Gleichgesinnten einKomitee gegrün-
det hat, das sich für dieAnliegen der
Bewohner einsetzt.«Dazu kam,dass wir
völlig von derAussenwelt abgeschnitten
waren. Es gabkeinen Bus, keine Schule,
keine Kirche.»

Wut und Scham


Ursprünglich wohnten im Corviale über
8500 Personen. Sie kamen aus allen
EckenRoms.Viele von ihnen waren wie
Angelo durch den Immobilienboom aus
billigen Mietwohnungen im Centro Sto-
rico vertrieben worden undkonnten sich
dort keine Unterkunft mehr leisten.An-
dere hatten in den berüchtigtenBara-
ckensiedlungen gelebt, die in den acht-
zigerJahren beseitigt wurden.
Kurzum, die Bewohner hatten nicht
viel mehr gemeinsam,als dass sie Sozial-
fälle waren.DieAnkunft sei traumatisch
gewesen, erzählt derRentnerRenato,
den es1984 mitFrau,Tochterund Mut-
ter hierher verschlug. Der Riesenbau
habe alle zutiefst deprimiert,seien sie
doch die kleineren historischenPalazzi
im Zentrum gewohnt gewesen,in denen
jeder jeden gekannt habe.
«Anders als in anderenWohnquartie-
ren, die in der Nachkriegszeit entstan-
den, fehlte es im Corviale am Gefühl der
Zugehörigkeit und am sozialen Zusam-
menhalt», erklärt die Soziologin Irene
Ranaldi, diesich seitJahren mit der
Römer Peripherie beschäftigt. «Gleich-
zeitig wurden die Menschen hier wie nir-
gends sonst stigmatisiert.» Die Eltern in
den umliegenden älteren Sozialsiedlun-
gen wollten nicht, dass ihre Kinder mit
jen en der Neuzuzüger spielten.Poten-
zielle Arbeitgeber und sogar städti-
sche Beamte rümpften die Nase, wenn
sie hörten, dass man im Corviale lebte.
Und so verschwieg man, wenn möglich,
die genaueAdresse.
«Wir waren wütend», erzähltAngelo,
«und gleichzeitig schämten wir uns, hier
zu wohnen.» Kleinkriminalität und Dro-
genhandel machten sich breit.Jugend-
liche starben an Überdosen oder bei
verrückten Mutproben auf dem Motor-
rad. Die Medien berichteten in sensa-

tionalistischemTon über jedesVerbre-
chen und jedes Opfer. Die sozialen Dra-
men hinter dem Stahlbeton interessier-
ten niemanden.

Proteste und Eigeninitiative


Währendder utopischePalazzo zum
Emblem für den Niedergang derRömer
Peripherie wurde, verbarrikadierten
sich die Bewohner zunehmend in ihren
Sozialwohnungen, und die ungeheure
Stille wurde zum Markenzeichen des
Corviale. Später wurde die utopische
Architektur für die Ghettobildung ver-
antwortlich gemacht.Rechte Lokalpoli-
tiker planten gar wiederholt den Abriss
des «unmenschlichenKolosses».
«Diesen faszinierenden Zeitzeugen
abzureissen, wäre nicht nur aus logisti-
schen Gründen einWahnsinn gewesen»,
sagt dieArchitektin Guendalina Salimei.
Aus ihrer Sicht hat das Gebäude gros-
ses Potenzial. Mit intelligenten Eingrif-
fen könne man es neukonzipieren und
durchaus lebenswert machen. «Heute
würde man so etwas natürlich nicht
mehr bauen. In den siebzigerJahren ge-
nossen solche Grossprojekte aber breite
Unt erstützung», erklärt sie.
In Rom herrschte in der Nach-
kriegszeit und während des folgenden
Wirtschaftsbooms akute Wohnungs-
not. Im Corvialekonnte man auf einen
Schlag über 8000 Personen unterbrin-
gen. «Natürlich wurde dabei mit billi-
gen Materialien gebaut. Das Problem
war aber weniger ein architektonisches
als ein soziales», betont Salimei. «Man
kann nicht einfachTausende von Sozial-
fälle in ein Gebäude stecken und sich

dann nicht mehr um diese kümmern.
Selbst wenn man dieseLeute im Quiri-
nale (dem Präsidentenpalast im Herzen
Roms,Anm.) untergebracht hätte,wäre
es nicht gut gekommen.»
Laut Angelo, der jeden im Block
kennt, hat sich die Lebensqualität im
Corviale in den letzten Jahrzehnten
deutlich verbessert.Dank Protesten und
St rassenblockaden seien langsam staat-
liche Dienstleistungen in die Gegend
gebracht worden, erzählt der unter-
setzteRentner im spärlich eingerich-
teten Büro des Einwohnerkomitees im
Erdgeschoss. Mit dem Buskommt man
heuterelativ bequem ins nahe gelegene
ViertelTrastevereoder zumVatikan.
Zudem gibt es in der Umgebung heute
ein Gemeindebüro, einenFussballplatz,
ein Fitnessstudio, eineBibliothek und
ein Weiterbildungszentrum für arbeits-
lose Jugendliche.
Manche haben,unterstützt vom Ein-
wohnerkomitee, selbst die Ärmel hoch-
gekrempelt und kämpfen mit kulturel-
len und sozialen Initiativen gegen den
Zerfall an.Sie trimmen die umliegenden
Grünflächen mit der Hilfe von Arbeits-
losen, laden Graffiti-Künstler zu nächt-
lichen Events ein oder organisieren im
Sommer einFreiluftkino.
Drogenhandel und Kleinkrimina-
lität seienweiterhin ein Problem, sa-
gen Bewohner hinter vorgehaltener
Hand. In gewissen Blocks verliessen
die Leute ihreWohnungen nach 22 Uhr
nicht mehr. Die Römer Mafia, die sich
in vielen Aussenquartieren eingenis-
tet h at, ist im Corviale aber nicht prä-
sent. Es sind kleinere lokaleBanden,
die hierdas Sagen haben, und sie sind

DerSozialbau mit seinen 1300Wohnungen stehtimNiemandsland–und ist nie ganz fertiggebautworden.

Die 85-jährige Elda hat einen Unterstand vor dem Hochhaus illegal zu ihrer Schneiderei gemacht.

«In diesem Sozialbau
gab es erst keinen
Hausmeister und kein
Reinigungspersonal.
Von Sozialhelfern
ganz zu schweigen.»

Angelo Scamponi
Mitbegründerdes Ein wohnerkomitees

Von Rom


nach Zürich


pra. · Mit dieserReportage nimmt
unsereKorrespondentin Andrea Spa-
linger(spl. )Abschied vonRom. Sie hat
seit Ende 2014 für die NZZ überPolitik,
Gesellschaft undWirtschaft Italiensbe-
richtet. Dabei hat sie sich durch vielsei-
tige Interessen und eine breiteThemen-
palette ausgezeichnet. Sie hat denWeg
aus der Hauptstadt nie gescheut, um
dem Land und seinen Bewohnern durch
viele persönliche Begegnungen und
Reportagen nahezukommen. Unsere
Leserinnen und Leser kamen dadurch
in den Genuss eindrücklicher Berichte
und Analysen, die ein tiefesVerständnis
für dasLand spiegelten. Zuvor war spl.
Korrespondentin in Indien und in Mün-
chen gewesen. Nun wird sie wieder für
einige Zeit nach Zürich in dieAusland-
redaktionzurückkehren. Neu berichtet
AndresWysling (awy.) aus Italien, der
den Posten inRom bereits in den letz-
ten Wochen besetzt hat.


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