Süddeutsche Zeitung - 14.11.2019

(Michael S) #1
von simon hurtz

Berlin –Hochsensible Gesundheitsdaten
von Millionen Menschen landen auf den
Servern eines Konzerns, der mehr über sei-
ne Nutzer weiß als fast alle anderen Unter-
nehmen der Welt. Dieser Konzern spei-
chert die Daten nicht nur, sondern gibt Mit-
arbeitern Zugriff. Maschinen werten die
Datensätze aus und bauen eine giganti-
sche Suchmaschine für Gesundheitsda-
ten. Weder Patienten noch Ärzte wissen da-
von. Und vermutlich ist all das vollkom-
men legal.
So lässt sich zusammenfassen, was in
den vergangenen Tagen durch mehrere
Medienberichte bekannt wurde. Google ar-
beitet in den USA seit 2018 mit der Gesund-
heitsorganisation Ascension zusammen,
die 150 Krankenhäuser und Tausende Arzt-
praxen betreibt. Bis kommenden März sol-
len Gesundheitsdaten von 50 Millionen
Menschen auf Googles Servern landen.
Das umfasst Laborergebnisse, ärztliche Di-
agnosen, Behandlungsverläufe und Kran-
kenhausaufenthalte – nicht etwa anonymi-
siert, sondern verknüpft mit Namen und
Adressen der Patienten.


„Project Nightingale“, wie Google die In-
itiative intern nennt, zeigt, wie vehement
große Tech-Konzerne versuchen, im Ge-
sundheitsbereich Fuß zu fassen. Neben
Google drängen auch Amazon, Apple und
Microsoft in diesen lukrativen Markt, der
allein in den USA mehr als drei Billionen
Dollar umfasst. Von Apple-Chef Tim Cook
etwa ist die Aussage überliefert, dass
„Apples größter Beitrag zur Menschheit“
im Gesundheitsbereich liegen werde.
Über das „Project Nightingale“ berichte-
te zuerst dasWall Street Journal. Dem Blatt
zufolge sollen 150 Mitarbeiter Zugriff auf
die Daten haben. DieNew York Times
schreibt von Dutzenden Personen, die in
unterschiedlichen Abteilungen der Mutter-
gesellschaft Alphabet arbeiten. Google
selbst nennt auf Anfrage keine genaue
Zahl.
DerSüddeutschen Zeitungliegen inter-
ne Dokumente und Präsentationen vor,
die zeigen, wie groß die Ambitionen von
„Project Nightingale“ sind. Google entwi-
ckelt eine Software, die mit Hilfe von künst-
licher Intelligenz (KI) und maschinellem
Lernen (ML) vorschlägt, wie sich die Versor-


gung einzelner Patienten verbessern lässt.
Es soll eine gewaltige Patientendatenbank
entstehen, die optisch an Googles Suchma-
schine erinnert. Die Software vervollstän-
digt automatisch Eingaben zu den Patien-
tennamen, die mit sämtlichen gespeicher-
ten Gesundheitsdaten verknüpft sind. Ärz-
te sollen nicht nur individuelle Informatio-
nen einsehen, sondern grafische Zeitver-
läufe erstellen und Datensätze miteinan-
der vergleichen können. Google hofft, die-
se Infrastruktur künftig an andere Gesund-
heitsdienstleister verkaufen zu können.
All das geschieht, ohne dass die Betroffe-
nen zugestimmt haben. Ascension und
Google müssen die Patienten nicht einmal
informieren. Der sogenannte Health Insu-
rance Portability and Accountability Act,
ein US-Gesetz aus dem Jahr 1996, erlaubt
es Ärzten und Krankenhäusern, Gesund-
heitsdaten an Geschäftspartner weiterzu-
geben. Allerdings dürfen die Informatio-
nen nur genutzt werden, um Patienten bes-
ser zu behandeln. Beide Vertragspartner
beteuern, dass alle Daten sicher und ver-
schlüsselt gespeichert würden und nur aus-
gewählte Google-Mitarbeiter darauf zu-
greifen könnten. Google trenne die Patien-
tendaten strikt von Informationen aus Pro-
dukten wie Gmail oder der Suchmaschine.
Die Daten sollen nicht verwendet werden,
um Werbung zu personalisieren. Google
verspricht, die Patientendaten von Ascensi-
on auch nicht mit Informationen zu verbin-
den, die es von anderen Gesundheitsorga-
nisationen erhält.
Doch es gibt Zweifel, ob „Project Nightin-
gale“ tatsächlich so harmlos ist, wie es die
Beteiligten darstellen. Mehrere US-Senato-
ren haben Bedenken geäußert: Der Demo-
krat Mark Warner will das Programm stop-
pen, bis US-Behörden ihre Ermittlungen
abschließen, die sie am Dienstag aufge-
nommen haben. Warners Parteikollegin
Amy Klobuchar fordert neue Gesetze, um
stärker zu regulieren, wie Gesundheitsda-
ten ausgewertet werden. DasWall Street
Journalzitiert betroffene Patienten aus
Ascension-Krankenhäusern. Sie fürchten,
dass Google Geld mit ihren Gesundheitsda-
ten verdienen wolle und hätten sich ge-
wünscht, vorher informiert zu werden.
Auch innerhalb von Google gibt es Wi-
derstand. Ein anonymer Whistleblower
veröffentlichte ein Video, das nahelegt,
dass Google die Daten nutzen wolle, um
Werbung zu schalten. Für diese Behaup-
tung gibt es aber keine Belege. Außerdem
beklagt die Person, dass die Daten nicht
ausreichend geschützt seien. In dem Video
sieht man das Protokoll eines internen

Meetings von Ende September. Demzufol-
ge sind Mitarbeiter von Ascension unsi-
cher, ob alle Daten gesetzeskonform ge-
speichert würden und kritisieren, dass
Google-Angestellte die Daten herunterla-
den könnten.

„Project Nightingale“ ist auf die USA be-
schränkt. Ob Google in Deutschland ver-
gleichbare Initiativen betreibt oder an-
strebt, lässt das Unternehmen offen. Aus
Vertraulichkeitsgründen könne man nicht
mitteilen, welche Kunden ihre Daten in der
deutschen Cloud speicherten, sagte eine
Sprecherin. Auf der Webseite der Cloud-
Abteilung finden sich keine deutschen
Partner aus dem Gesundheitsbereich.
Klar ist, dass deutsche Patienten zumin-
dest informiert werden müssten. Entspre-
chende Kooperationen seien „hier nur be-
dingt denkbar“, sagt ein Sprecher des Bun-

desdatenschutzbeauftragten. „IT-basierte
Datenverarbeitung kann nur mit Einwilli-
gung der Betroffenen oder nach vorheriger
Zertifizierung der Dienste durch staatliche
Stellen erfolgen.“ Sebastian Zilch, Ge-
schäftsführer des Bundesverbandes Ge-
sundheits-IT, teilt diese Einschätzung. In
Deutschland seien Patientendaten durch
die Datenschutzgrundverordnung
(DSGVO), das Sozialgesetzbuch und die
Landesdatenschutzgesetze geschützt. Des-
halb werde der deutsche Markt für Google
und andere Unternehmen vermutlich
nicht erste Priorität haben. Auch Nils Haag
vom Datenschutz-Beratungsunterneh-
men Intersoft Consulting sagt, dass die

DSGVO ein deutsches „Project Nightinga-
le“ wohl verhindere. Eine kommerzielle
Nutzung der Gesundheitsdaten von Patien-
ten sei „allenfalls nach informierter Einwil-
ligung oder vollständiger Anonymisierung
der Daten möglich“.
Dagegen hält David Koeppe von der Ge-
sellschaft für Datenschutz und Datensi-
cherheit vergleichbare Projekte in Deutsch-
land für möglich: „Kein Krankenhaus
kann ohne externe Dienstleister arbeiten“,
sagt Koeppe. „Datenschutzrechtlich ist
das im Rahmen einer Auftragsverarbei-
tung grundsätzlich unproblematisch, auch
Strafrecht und die ärztliche Berufsord-
nung geben die Offenlegung der Daten

her.“ Die Patienten müssten nicht einwilli-
gen, wohl aber informiert werden. Auch
das deutsche Gesundheitssystem arbeite
mit Dienstleistern zusammen, die Patien-
tendaten speichern, etwa mit der Bertels-
mann-Tochter Arvato. „Google ist ein gro-
ßes Unternehmen mit viel Erfahrung im
Bereich der IT-Sicherheit. Dort dürften die
Daten besser aufgehoben sein als bei ei-
nem kleinen Start-up“, sagt Koeppe.
Das ist am Ende die entscheidende Fra-
ge: Wie sehr vertraut man Google? Wäh-
rend Facebook regelmäßig neue Daten-
schutzverstöße einräumen muss, ist Goo-
gle zumindest öffentlich etwas seltener
mit Pannen und Skandalen aufgefallen.

Los Angeles– Woodland Hills. Es ist wich-
tig, diesen Ort zu kennen, in dem der Alles-
Lieferant Amazon seinen weltweit ersten
Supermarkt aus Stein und Mörtel eröffnen
möchte. 67 000 Leute leben in dem Stadt-
teil von Los Angeles. Die meisten von ih-
nen verdienen ordentlich und sind hellhäu-
tig, die bedeutendsten Arbeitgeber sind
Versicherungen. Es ist eine typische Wohn-
gegend in Kalifornien, und natürlich ist es
kein Zufall, dass Amazon dort beginnt.
Der Konzern macht immer mehr auf
wirkliche Welt. Es gibt 16 Läden, „Amazon
Go“ heißen jene Hightech-Geschäfte, in de-
nen nicht an der Kasse, sondern per Ama-
zon-App abgerechnet wird. Es gibt Pop-up-
Stores, die sogenannten „4 Star“-Läden.
Und es gibt stationäre Buchläden. Vor zwei
Jahren hat der Konzern außerdem für
13,7 Milliarden Dollar die Bio-Supermarkt-
kette Whole Foods mit 365 Filialen ge-
kauft – inzwischen sind es 506. Manche
nennen den Satz von Thomas Watson –
„Es gibt einen Weltmarkt für vielleicht
fünf Computer“ – die größte Fehlprognose
der Geschichte. Vielleicht werden sie dem-
nächst den Whole-Foods-Gründer John
Mackey zitieren, der einmal sagte, dass
Amazon keine Konkurrenz darstelle und
der Einstieg ins Lebensmittelgeschäft de-
saströs enden würde.
Amazon selbst äußert sich nur vage
zum neuen Supermarkt in Woodland Hills.
Es hat bisher nur die geplante Eröffnung
bestätigt, nachdem Stellenausschreibun-


gen für Aufregung gesorgt hatten. Es gibt
keine Informationen darüber, wie dieser
Supermarkt heißen soll und ob weitere ge-
plant sind – nur, dass er sich von den Filia-
len von Whole Foods und Amazon Go unter-
scheiden werde. Es solle ein „gewöhnli-
cher“ Supermarkt werden. Im Amazon-
Universum ist das ein Hinweis darauf, dass
ein großer Plan dahintersteckt. „Jedes
neue Projekt von uns hat jeweils Jahre ge-
dauert“, sagte Amazon-Gründer Jeff Bezos
einmal in einem Interview. Damals kündig-
te er Amazon Web Services an, das heute
mit großem Vorsprung Marktführer im Be-
reich Cloud Computing ist.

„Sie wollen die Lieferkette für Lebens-
mittel optimieren“, sagt Juozas Kaziuke-
nas, Chef der Analysefirma Marketplace
Pulse. Das Geschäft mit Lebensmitteln –
800 Milliarden Dollar werden damit in den
USA pro Jahr umgesetzt – funktioniert an-
ders als das mit Büchern oder Klamotten.
Die meisten Kunden wollen Steak und Sa-
lat sehen, bevor sie kaufen, Lebensmittel
lassen sich kaum zurückschicken. Die Wa-
ren müssen unterschiedlich gekühlt,
Frischprodukte gesondert transportiert
werden. Es geht um die berühmte letzte
Meile in der Logistik, das letzte Teilstück

auf dem Weg zum Kunden. „Amazon will
möglichst viele Daten darüber sammeln,
wie diese Lieferkette funktioniert“, sagt Ka-
ziukenas. „Diese Informationen werden
sie dann verwenden, um auch den Internet-
handel zu perfektionieren.“
Es gibt einige Orte in den USA, die so au-
ßergewöhnlich gewöhnlich sind, dass Fir-
men sie gern als Testmarkt verwenden.
Schnellrestaurants zum Beispiel testen
Produkte immer zuerst in Columbus, der
Hauptstadt von Ohio. Die Analyse von Ama-
zon hat offensichtlich ergeben, dass Wood-
land Hills ein guter Testmarkt ist für das
Experiment mit dem Supermarkt, der viel-
leicht zugleich ein Lagerhaus sein wird. Vie-
le Supermärkte in den USA sind auch
nachts geöffnet, wenn Gänge geputzt und
Regale befüllt werden. Warum also nicht
den Kunden längere Öffnungszeiten bie-
ten, wenn ohnehin jemand im Laden ist?
Amazon braucht zur Optimierung sei-
ner Logistik ein engmaschiges Netz. Wer
frische Lebensmittel innerhalb von zwei
Stunden liefern will, und das verspricht
das Unternehmen seinen Prime-Mitglie-
dern in 2000 US-Städten, der braucht Stati-
onen möglichst nah bei den Kunden.
Die Lebensmittel-Branche ist hart um-
kämpft, auch andere Unternehmen war-
ten mit neuen Ideen auf. Walmart hat gera-
de seinen Lieferservice überarbeitet, Al-
bertsons die Struktur seiner Preise verän-
dert. Kroger bietet seinen Kunden an, be-
stellte Waren direkt an einer Abholstation
auszuliefern – wie beim Drive-thru-Schal-
ter eines Schnellrestaurants. Es sind keine
kleinen Buchhändler oder schnuckelige
Klamottenläden, gegen die Amazon an-
tritt, sondern milliardenschwere Konzer-
ne, die den digitalen Wandel ebenfalls er-
kannt haben und über die Optimierung
der letzten Meile nachdenken.
So sehr Amazon für seine Kunden-
freundlichkeit bekannt ist, so sehr ist das
Unternehmen auch berüchtigt für seine Ar-
beitsbedingungen. Beim Lohn liegen die
ausgeschriebenen Stellen – 16,90 Dollar
pro Stunde für eine Art Filialleiter – bis-
lang eher im unteren Spektrum, weshalb
das Projekt wohl auch kritisch beobachtet
werden dürfte.
„Die große Stärke von Amazon ist es, ei-
nen Trend früh zu erkennen, dann aber ge-
duldig zu sein und die Kunden anpassen zu
lassen“, sagt John Rossman, einst Amazon-
Manager und Autor des Buches „Think
Like Amazon“. Jetzt ist es an den Bewoh-
nern von Woodland Hills, neue Erkenntnis-
se zu liefern. jürgen schmieder

Diese letzte Meile


Amazon will einen Supermarkt in Los Angeles eröffnen – dahinter steckt ein großer Plan


Die Geheimnisse


der Nachtigall


Google sammelt im „Project Nightingale“
Gesundheitsdaten von Millionen
Patienten in den USA – ohne deren Zustimmung.
Einige Datenschützer glauben, dass
so etwas auch in Deutschland möglich wäre

Das Geschäft mit Lebensmitteln
funktioniert anders
als das mit Büchern

Es gibt Zweifel, ob das Projekt


tatsächlich so harmlos ist,


wie es die Beteiligten darstellen


Auch in Deutschland
speichern Dienstleister die
Gesundheitsdaten von Patienten

DEFGH Nr. 263, Donnerstag, 14. November 2019 (^) WIRTSCHAFT HF2 17
Amazon-Go-Laden in New York: In den 16 Filialen der Kette muss mit der App des
Internetkonzernsbezahlt werden. FOTO: SPENCER PLATT / GETTY IMAGES / AFP
Was im Operationssaal passiert, interessiert auch Google. Schließlich lässt sich mit diesen Daten viel Geld verdienen. FOTO: FRISO GENTSCH / DPA
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