von anja martin
T
schi-tschi-tschi-tschi! So hat es
Manaaki Barrett vorgemacht, als
vorhin noch alle im Esszimmer der
Lodge saßen. Weil er nicht zufrie-
den war mit seinem Können, spielte er das
schrille, lang gezogene Pfeifen noch mal
aus dem Internet vor. Erst die männliche,
dann, eine Nuance anders, die weibliche Vo-
gelstimme. Doch jetzt, hier draußen in der
Nacht, fällt es schwer, sich zu erinnern. War
das im Busch jetzt endlich ein Kiwi? Oder
doch wieder nur eine Wekaralle, die eher
wie ein Huhn aussieht und gefühlt überall
ist? Für sie müsste man sich nicht so
anstrengen, sich ans Redeverbot und Gän-
semarschgebot halten. Nächtliche Kiwi-
Spotter sollen die Füße leise aufsetzen,
nicht schniefen, nicht husten und mög-
lichst breitbeinig gehen, damit die Hosen-
beine nicht aneinanderratschen, die Hände
in die Taschen stecken und dort lassen.
Denn Neuseelands Nationaltier, nach dem
sowohl die Frucht als auch die Einwohner
benannt sind, kann sehr gut hören und ex-
zellent riechen. Das rote Licht von Manaa-
kis Taschenlampe dagegen stört es kaum.
Nur noch 70000 Kiwis soll es auf den bei-
den Hauptinseln geben. Bedroht durch Her-
meline, Ratten, Possums. Sie sind leichte
Beute, zumindest die Jungtiere, schließlich
haben sie nicht mal mehr Flügel. Dass sich
die Vögel Neuseelands einst fühlten wie im
Paradies, sich teils sogar das Fliegen abge-
wöhnten, liegt daran, dass es hier außer
zwei Fledermausarten keine Landsäugetie-
re gab, bis vor 800 Jahren zuerst die Polyne-
sier kamen und die Ratten mitbrachten,
später die europäischen Siedler mit dem
ganzen Rest, der ihnen nützlich erschien:
Katzen, Hunde, Kühe, Schafe, Ziegen, Dam-
wild. Aus Australien holten sich die Weißen
dann noch die Possums mit dem schönen
Fell, für Pelzmäntel. Die Beuteltierchen
wurden zur Plage, da sie keine natürlichen
Feinde haben. 30 Millionen sollen in Neu-
seeland durch die Wälder streunen.
Im Schein von Manaakis Lampe werden
die Possums sicher nicht auftauchen. Denn
auf Kapiti Island ist die Vogelwelt noch in
Ordnung. Oder besser: wieder. Hier hat
man die Zeit zurückgedreht. Innerhalb eini-
ger Jahrzehnte gelang es, alle Säugetiere zu
verbannen und den Räubern den Garaus zu
machen. Keine einzige Ratte durfte übrig
bleiben. Heute zwitschert und trällert es un-
besorgt auf der Vogelschutzinsel, die für
die Einwohner von Wellington in einer Drei-
viertelstunde zu erreichen ist. Touristen
aus dem Ausland kennen viele der hier
lebenden einheimischen Vögel überhaupt
nicht, haben nie von ihnen gehört: Da ist
der Kākā, ein vorwitziger Papagei, der ge-
nau weiß, wo im Haus die Keksdose steht
und wie man die Reißverschlüsse von Ruck-
säcken aufmacht. Oder der Laufsittich
Kākāriki mit der roten Stirnhaube und der
meckernden Stimme. Der auf dem Fest-
land fast ausgestorbene Singvogel Tīeke
mit dem sattelartigen braunen Fleck und
den am Schnabel hängenden roten Lap-
pen. Der kleine blaue Pinguin Kororā. Der
kleine Miromiro. Die Maori-Fruchttaube
Kererū mit dem flaschengrünen Kopf. Der
andernorts extrem seltene Hihi und der
Tuī, der sogar einem neuseeländischen
Bier seinen Namen gab. Die Populationen
vergrößern sich, es siedeln sich Arten wie-
der an, die lange weg waren. 1200 bis 1400
Pukupuku-Kiwi gibt es auf Kapiti Island
wieder – das ist die größte Population in
Neuseeland, und es sind so viele, dass man-
che bereits eine neue Heimat auf dem Fest-
land finden. Alle diese Vögel haben nichts
zu fürchten, denn schon seit 23 Jahren ist
die Insel offiziell räuberfrei, und die vielen
Fallen bleiben leer. Nur einmal, 2012, hat
ein freiwilliger Helfer ein Hermelin ge-
sehen. Man investierte zwei Millionen
Neuseelanddollar in die Suche und fand es
nach zwei Jahren.
Den Status quo zu erhalten, bedeutet
Aufwand. Und Strenge. Niemand darf ohne
eine Lizenz auf der Insel anlanden. Und je-
de Reise nach Kapiti Island beginnt damit,
dass man seinen Rucksack noch einmal
auspacken oder zumindest die Hände bis
auf dessen Boden stecken muss. So eine
Maus müsste ja dann rausflitzen oder ei-
nen in den Finger beißen, oder? Das Proze-
dere findet statt, bevor man auf die Motor-
bootfähre steigt, und noch einmal, wenn
man in der Unterkunft angekommen ist.
Der 34 Jahre alte Manaaki lacht und zeigt ei-
ne kleine Stoffmaus. Die haben sie vor ein
paar Tagen jemand ins Gepäck geschmug-
gelt, um zu testen, ob er sie findet.
Was Kapiti Island vorgemacht hat und
was inzwischen auch 116 anderen Inseln ge-
lungen ist, würde die Regierung gern im
ganzen Land sehen. 2016 hat sie die Initiati-
ve „Predator Free 2050“ gestartet. Bis da-
hin soll kein eingeschleppter Räuber mehr
in Neuseeland leben. Das würde Milliarden
an Neuseelanddollar kosten, viele Freiwilli-
ge und Sponsoren brauchen. Überall in den
Wäldern Neuseelands findet man schon
jetzt Giftfallen an den Baumstämmen, die
dann mit farbigen Plastikdreiecken ge-
kennzeichnet sind. Es werden dafür auch
Chemikalien eingesetzt, die in vielen ande-
ren Ländern verboten sind. An den Plänen
gibt es durchaus Kritik. Doch eins ist si-
cher: Kiwi & Co. sind für die Neuseeländer
eine ganz große Sache.
Die wenigsten Einwohner haben aller-
dings schon einmal einen Kiwi in echt gese-
hen. Wer darauf aus ist, muss über Nacht
auf der Insel bleiben. Und landet automa-
tisch bei Manaakis Familie, die seit acht
Generationen auf Kapiti Island lebt und
auch an ihren zwölf Hektar Privatbesitz
festhielt, als der Staat wollte, dass alle Men-
schen gehen. Daher sind sie die Einzigen,
die Zelte und Hütten vermieten und Kiwi-
Pirschen anbieten. Heute allerdings stehen
die Chancen schlecht. Nicht nur, weil viele
in der Gruppe sind, die gar nicht merken,
wie viel Lärm sie beim Gehen machen. Vor
allem ist Vollmond. Da verstecken sich die
Kiwis lieber. Obwohl. Moment mal. Tat-
sächlich will noch einer schnell seinen Un-
terschlupf wechseln. Als Schattenriss flitzt
er über die Wiese, erinnert an eine Comic-
figur. Mit dem Schnabel voraus und selt-
sam nach vorn gelehnt. Er wirkt ein biss-
chen, als müsse er schnell laufen, um nicht
vornüberzukippen. Zwei Sekunden, und
weg ist er. Warum hatte er es so eilig?
Dass er auf der Insel keine Feinde hat,
scheint noch nicht bei ihm angekommen
zu sein.
Guided Walks, Tages- und Übernachtungstouren
mit Kiwi-Spotting: kapitiisland.com
Aus der Vogelperspektive
Vor ein paar Hundert Jahren gehörte Neuseeland noch den Vögeln.
Auf Kapiti Island ist das heute wieder so. Man hat alle ihre Fressfeinde ausgerottet.
Der Staat wünscht sich das bis 2050 fürs ganze Land
Hare Wiremu, Guide, Handwerker und
Opernsänger, begrüßt seine Gäste mit
einem Gebet auf Maori. Drei Stunden
Führung um den Lake Rotorua herum,
meist auf dem Land seiner Familie
(FOTO: PICTURE ALLIANCE / DPA). Drei Stunden
Geschichten, Mythen, Anekdoten. Aber
auch er will etwas aus der Kultur seiner
Gäste lernen. Er kennt schon „Alle
meine Entchen“ – und jetzt auch „99
Luftballons“ (kahukiwi.co.nz). amar
Der Pazifik mag Auckland zwar von zwei
Seiten einschließen, die Strände unweit
der Innenstadt mögen traumhaft schön
sein, aber aus dem Flugzeug betrachtet,
sieht die größte Stadt Neuseelands aus wie
die meisten großen Küstenstädte auf der
Welt: weitläufige Wohnblöcke, Autobah-
nen mit Staus, ein hoher Fernsehturm in
der Innenstadt, ein Hafen. 71 Prozent der
Besucher Neuseelands kommen am Auck-
land International Airport an, mit mehr als
21 Millionen Reisenden jährlich ist er der
mit Abstand wichtigste Verkehrsknoten-
punkt des Landes.
Dass die Großstadt auf der Nordinsel in
vielerlei Hinsicht der Mittelpunkt des Lan-
des ist, spürt man an vielen Stellen: Fast
ein Drittel der Einwohner – rund 1,7 Millio-
nen Menschen – lebt im Großraum Auck-
land, das dementsprechend mit den übli-
chen Problemen großer Städte zu kämp-
fen hat. Die Immobilienpreise sind extrem
hoch, die sozialen Unterschiede zwischen
den Vierteln in der Innenstadt und am
Rand teilweise groß und der Verkehr eine
Katastrophe. Neuseeländer, die nicht im
Großraum Auckland leben, vermeiden da-
her meist Besuche in der Großstadt, um
der Hektik zu entgehen.
Für Touristen allerdings muss das nicht
gelten, denn Auckland hat viel zu bieten.
Das weitläufige Hafengebiet ist mit seinen
Läden, Bars und Restaurants ein beliebtes
Ausgehviertel, vom Sky Tower, mit 328 Me-
tern Höhe das höchste freistehende Gebäu-
de der südlichen Hemisphäre, bieten sich
großartige Ausblicke und die Gelegenheit
zum Bungeejumping. Zudem hat sich
Auckland in den vergangenen Jahren kuli-
narisch zum weitaus größten Zentrum in
Neuseeland entwickelt: Fusionsküche, mo-
derne Gerichte mit lokalen Zutaten und
viel internationale Geschmacksrichtun-
gen – Aucklands kulinarische Szene ist ein
Spiegelbild der vielen Kulturen der Stadt.
Auch sportlich ist Auckland das Zentrum
des Landes: Im Eden Park finden die meis-
ten Spiele der legendären All Blacks, der
Rugbymannschaft Neuseelands, und der
Black Caps (Cricket) statt.
Politisch gesehen ist seit jeher aller-
dings Wellington die Hauptstadt Neusee-
lands. Traumhaft an der unteren Küstenli-
nie der Nordinsel gelegen, ist Wellington
für Touristen eine Attraktion, insbesonde-
re in kultureller Hinsicht: Das Nationalmu-
seum, der Regierungssitz und die National-
bibliothek sind einige der wenigen Indoor-
Attraktionen Neuseelands. Das Leben in
Wellington spielt sich, wie in Auckland, vor
allem an der Promenade am Pazifik ab so-
wie in den umliegenden Hügeln, an denen
sich die Wohngebiete entlangziehen. Die
Lage zwischen den Inseln sorgt häufig für
windiges und kühleres Wetter, ein wesent-
lich ernsthafteres Problem sind allerdings
die immer wiederkehrenden Erdbeben.
1855 wurde Wellington beim Wairarapa-
Beben weitgehend zerstört, von fatalen Be-
ben ist die Stadt zwar seitdem verschont ge-
blieben, die tektonische Lage sorgt jedoch
regelmäßig für kleinere Beben.
Dasselbe gilt auch für die drittgrößte
Stadt Neuseelands nach Auckland und Wel-
lington, gleichzeitig die mit der bewegtes-
ten Geschichte: Christchurch geriet im ver-
gangenen Jahrzehnt nur zweimal in die in-
ternationalen Schlagzeilen. Im Februar
2011 erschütterte ein Beben mit einer Stär-
ke von 6,3 die Stadt auf der Südinsel. 185
Menschen kamen ums Leben, Tausende
wurden verletzt. Die Stadt lag in Trüm-
mern, einige Viertel wurden komplett zer-
stört, darunter auch weite Teile der Innen-
stadt. Die Auswirkungen des Erdbebens
sind auch achteinhalb Jahre danach noch
sichtbar: Weiterhin wird die Stadt behut-
sam und geordnet aufgebaut. Für viele der
Einwohner ist der Prozess zu langsam,
doch nach dem Beben verließen viele Un-
ternehmen die Stadt – erst langsam keh-
ren sie zurück und erst mit ihnen kommt
wieder eine neue, junge Stadtkultur zum
Vorschein.
Umso schockierter waren die Einwoh-
ner Christchurchs im März 2019, als ihre
Stadt Schauplatz eines rechtsextremen
Terroranschlags auf eine Moschee wurde.
Damals zeigte sich in den Tagen nach der
Attacke jedoch schnell, dass Christchurch
einen beeindruckenden Zusammenhalt
hat: Das Mitgefühl mit der Angegriffenen
muslimischen Gemeinde war überwälti-
gend, die Stadtbevölkerung rückte in die-
ser schweren Zeit erneut näher zusammen
und wurde so zum Beispiel für das neusee-
ländische Lebensgefühl, ein Land vieler
friedlich zusammenlebender Kulturen zu
sein.
Die bekanntesten und spektakulärsten
Touristenattraktionen des Landes mögen
in den Nationalparks, an den Küsten und
in den Bergen liegen. Aber erst in den gro-
ßen Städten lernen die Besucher die Kultur
Neuseelands verstehen.
felix haselsteiner
Wo Gold ist, sind Gier, Mord und Verbre-
chen nicht weit: In ihrem mit dem
Booker-Preis ausgezeichneten Roman
„Die Gestirne“ („The Luminaries“)
lässt Eleanor Catton die Goldrausch-Ära
und Goldgräberstädtchen(FOTO: MAURITIUS)
an Neuseelands Westküste Ende
des 19. Jahrhunderts wieder erstehen.
Perfektes Lesefutter für den langen
Flug nach Neuseeland (btb München,
1040 Seiten, 2015, 14 Euro). spas
Eines der abwechslungsreichsten Moun-
tainbike-Abenteuer Neuseelands ist
der Westcoast Wilderness Trail(FOTO:
JASON BLAIR / WWW.KATABATIC.CO.NZ). Die 136 Kilo-
meter lange Trasse zwischen Ross und
Greymouth erschließt auf einem langen
Bogen altes Goldgräber-Territorium bis
an die Ausläufer der Alpen. Vier Tage
sind veranschlagt, mit Shuttle-Bussen
sind auch Tagestrips möglich (www.west-
coastwildernesstrail.co.nz). spas
Wer nach Neuseeland fährt, sucht die
Natur. Das funktioniert sogar in Auck-
land, der einzig echten Großstadt des
Landes. Zum Beispiel auf dem nur 18
Kilometer entfernten Waiheke Island.
Hinüber kommt man mit einem kleinen
Flugzeug(FOTO: JULIA WECHSLER).Dort kann
man in einer der Buchten baden oder
Wein verkosten – in einem der 34 Wein-
güter. Das größte Weingut ist Man O’
War. (aucklandseaplanes.com). amar
Lieder und Mythen
Fusion der Küchen und Kulturen
Wer bei aller Naturschönheit Lust auf urbanes Flair und Szene-Lokale bekommt, findet sie in Auckland, Wellington und Christchurch
Gold und sein Preis West Coast auf dem Bike Rüberflieger
Zu guter Letzt flitzt ein Kiwi
vorbei.Wie im Comic: Schnabel
voraus, seltsam nach vorn gelehnt
Skyline von Auckland, Neuseelands größter Stadt. FOTO: MAURITIUS
Nicht nur Ratten, alle
Säugetiere sind eine Gefahr für
flugunfähige Bodenbrüter
Ein lichtscheuer
Geselleist der
nachtaktive braune Kiwi
(rechts). Seine Bestände
sind durch Hermeline,
Ratten und Possums
bedroht. Doch auf Kapiti
Island ist die Welt in
Ordnung. Seit auf der Insel
keine Säugetiere mehr
leben, erholen sich die
Kiwi-Bestände, ebenso wie
die des vorwitzigen
Kakā und die des kleinen
blauen Pinguins Kororā.
FOTOS: IMAGO (2), MAURITIUS
Manaaki Barret
holt die Gäste am Strand
von Kapiti Island
mit seinem Quad ab.
FOTO: ANJA MARTIN
DEFGH Nr. 263, Donnerstag, 14. November 2019 SZ SPEZIAL – NEUSEELAND 31