Süddeutsche Zeitung - 14.11.2019

(Michael S) #1
von quentin lichtblau

D


as erste Wort an diesem Abend hat
ein weißer Mann, der einen trans-
feindlichen Tweet vorliest: Der stell-
vertretende Pro-Sieben-Senderchef Chris-
toph Körfer steht auf der Bühne des
Berliner Zoopalasts, vor ihm ein Publikum
aus den Protagonistinnen seiner neuen
Show (einer „Herzensangelegenheit“), de-
ren Freunden und Angehörigen, ein paar
verfrühten Fans der Sendung, die erst zwei
Tage später laufen wird – und vereinzelten
Journalisten mit Notizblock, die jetzt jedes
Wort auf Debattentauglichkeit untersu-
chen. Es ist die Premiere der Sendung
Queen of Drags, bereits im Foyer unschwer
zu erkennen an Menschen mit Flügeln, me-
terlangen Roben, schattierten Wangenkno-
chen und Beinen bis zur Decke.
Körfer jedenfalls betont die gesellschaft-
liche Relevanz seiner Sendung: InQueen of
Dragsziehen zehn Dragqueens in ein Haus
in Los Angeles, in performativen Challen-
ges müssen sie eine Jury überzeugen, am
Ende bekommt die Beste den namensge-
benden Titel. Gezeigt wird das Ganze jeden
Donnerstagabend, womit die Drag-Kultur
wohl erstmals mit eigener Show ins Privat-
fernsehen rückt. Ein Fortschritt? Klar.
Kritik gab es dennoch, seit im Juni be-
kannt wurde, welche Experten über die Per-
formance der Dragqueens richten würden:
Conchita Wurst, bärtige ESC-Gewinnerin
und Botschafterin eines bunten Europa? Ja
bitte! Bill Kaulitz, androgyner Sänger der
BandTokio Hotel, selten ohne Lidschatten?
Na gut, hat schon was von Drag. Heidi
Klum, oft kritisiert für Knebelverträge und
die Ausbildung bis -beutung junger Frauen
zu marktkonformen Kleiderbügeln? Wie
bitte?
„Heidi Klum hat von Drag, der dazugehö-
rigen Historie, der Lebenseinstellung, der
Identität, der Drag-Kultur, der Szene und
der gesamten Branche absolut keine Ah-
nung“, schrieben die Berliner Dragqueens

Ryan Stecken und Margot Schlönzke in ei-
ner Petition an Pro Sieben, mehr als 27 000
Unterschriften haben sie bisher gesam-
melt. Der Vorwurf: Die Sendung sei erdacht
von heterosexuellen Durchschnittsmen-
schen für hetereosexuelle Durchschnitts-
menschen, mit Drags als lustig-unterhalt-
samen Paradiesvögelchen. Spätestens hier
begann die PR-Maschine von Pro Sieben zu
stottern. Dass eine jahrzehntelang unter-
drückte Kunstform eine eigene Primetime-
Sendung bekommt: schön, endlich Sicht-
barkeit für eine Subkultur mit queeren
Wurzeln. Aber warum diese Jury-Chefin?

Klum erzählte im Vorfeld, ihr sei die Idee
zuQueen of Dragsbei einer Folge ihrer
ShowGermany’s Next Topmodelgekom-
men, in der Dragqueens mit Kandidatin-
nen performten. „Diese Kunst braucht ihre
eigene Show“, habe sie damals gedacht. De
facto istQueen of Dragsein Spin-off der
seit 2009 erfolgreichen US-SendungRu-
Paul’s Drag Racemit der charismatischen
Drag-Legende RuPaul Andre Charles. Die
Show ist internationaler Kult, inner- und
außerhalb der Szene, die Adaptionspläne
weckten auch Ängste, dass die deutsche
Version glatt und entpolitisiert ausfallen
könnte.
Zwar wurde auch inRupaul’s Drag Race
bereits alles ein wenig Richtung Kommerz
gezerrt, keine Challenge ohne Sponsoren,
wodurch sich Firmen ein diverseres Image
verpassen konnten. Daneben schaffte es
das US-Original aber auch, die sozialen
Kämpfe zu thematisieren, mit denen Drag-
Kultur verbunden ist. So erzählten homose-
xuelle Kriegsveteranen von der Zeit, in der
ein offener Umgang mit der eigenen sexuel-
len Orientierung noch den Ausschluss aus
der US-Army bedeutete, Teilnehmerinnen

tauschten sich über Mobbing, HIV oder ho-
mophobe Terroranschläge aus. Würde die
stets lächelnde Klum hier einen Blick hin-
ter die Glamour-Fassade werfen?
Im Zoopalast war sie nicht da, Dreharbei-
ten, also ergriff die mit Bill Kaulitz auf die
Bühne gebetene Conchita Wurst das Wort,
seit ihrem neuen Album ohne Perücke un-
terwegs: Die Kritik der queeren Communi-
ty nannte sie „demaskierend“: Da wolle
man immer wertgeschätzt werden, und so-
bald mit Heidi Klum eine berühmte Person
Unterstützung anbiete, sei man auch wie-
der nicht zufrieden. Nach ein paar State-
ments zur Champagner-Verfügbarkeit in
Los Angeles, dem Zu-einer-Familie-Zusam-
menwachsen der Beteiligten und einer
Videobotschaft von Klum („Ich wär soooo
gern da!“) lief auf der Leinwand die erste
Folge vonQueen Of Drags, begleitet von Joh-
len und Applaus – was dem Ganzen die At-
mosphäre eines familiären Videoabends
verlieh. Und ja, auch der kritische Zuschau-
er kam nicht umhin – trotz Jumpcut-Ef-
fekthascherei und verkitschter Piano-
musik bei emotionalen Tiefschlägen –, der
Faszination der Sendung zu verfallen.
Die Auswahl der zehn Queens von der
20-jährigen Hayden Kryze bis zur 48-jähri-
gen Catherrine Leclery zeigt wunderbar
das Spektrum der Drag-Szene, und die Sen-
dung bemüht sich durchaus, die Kämpfe
um Anerkennung zu thematisieren. Das
passiert zwar in den für Casting-Shows üb-
lichen Emo-Einspielern, die Geschichten
der Protagonistinnen rücken aber Themen
in den Vordergrund, die Zuschauer zum
Nachdenken anregen dürften. Auch die Be-
fürchtung, dass die Queerness nicht ausrei-
chend zur Geltung kommen könnte, ist hin-
fällig: Catherrine Leclery erklärt das Ge-
heimnis ihres brasilianischen Hinterns, ei-
ne andere Teilnehmerin die Funktionswei-
se von Unterhosen, mit denen sich männli-
che Genitalien kaschieren lassen.
Nur eine wirkt erwartungsgemäß unin-
formiert: Heidi Klum. In einer Szene redet

sie sich mit einigen Teilnehmerinnen den
Frust von der Seele: Sie wolle ja keinen „Är-
ger mit eurer Community“. Wenn da je-
mand Unverständnis über ihre Jury-Rolle
äußere, denke sie sich: „Ich bin offen für al-
les, tolerant für alle Menschen“, und „die“
hingegen seien so „untolerant“, nur weil
„ich“ – sie schreit nun – „Hete bin, weiß bin
und eine Frau bin, das ist total gemein!“
Hier kippt die Show in privilegiertes Gejau-
le auf Kindergartenniveau. Klum fährt fort
mit einem Vortrag über „politische Korrekt-
heit“, man könne „das nicht sagen und das
nicht“, dabei werde sie ja auch für ihren
jüngeren Ehemann kritisiert, ob das denn
nicht auch „Shaming“ sei?

Wenn sie sich von den Queens die Her-
kunft des Wortes „drag“ oder Schminktech-
niken erklären lässt, spielt sie die Rolle der
Ahungslosen, die sich zufällig in eine Drag-
Garderobe verlaufen hat. Da mag zwar auf-
richtiges Interesse mitschwingen – eigenar-
tig dürfte es aber werden, wenn die gleiche
Heidi Klum später vom Jury-Thron aus
Teilnehmerinnen abkanzelt.
Letztlich aber muss es der Bedeutung
der Sendung nur bedingt Abbruch tun,
dass für Klum Diversität offenbar weniger
Gesellschaftsaufgabe ist, sondern „gerade
dasThema in der Fashionwelt“. Senderchef
Körfer bittet zum Schluss noch einmal alle
Beteiligten auf die Bühne, viele bereits
beim vierten Glas Champagner. Dann
schaut er vom Bühnenrand aus zu. Man
hofft, dass ihm Diversität auch dann noch
eine Herzensangelegenheit sein wird,
wenn die Marktforschung sie nicht mehr
als Trend ausweisen sollte.

Queen of Drags, Pro Sieben, donnerstags, 20.15
Uhr.

Brigitte Leben, die neue Zeitschrift des Ver-
lags Gruner + Jahr, hätte auch „Krisenbe-
wältigungsmagazin“ heißen können. Wür-
de „Coaching-Magazin“, so die offizielle Be-
zeichnung, nicht so viel zeitgenössischer
klingen. Auf 130 Seiten geht es im Heft um
Selbstzweifel, Verlustängste, Trennung,
Tod und Verdauungsprobleme – und die
Frage, wie die Frau ab 30 das alles überwin-
den kann.
Das Heft führt zwei Mal jährlich tief hin-
ein in die Welt seelischer Selbstoptimie-
rung. Psychotainment versprechen Tests,
Selbstcoaching-Anleitungen und eine Do-
it-yourself-Paartherapie – immer an der
Seite der Leserin: „Deutschlands bekann-
teste Psychotherapeutin“ und Bestsellerau-
torin Stefanie Stahl, die für „positive Verän-
derungen“ in allen Lebensbereichen sorgt.
Als Maskottchen und allwissende
Stimme taucht die 55-Jährige auf nahezu
jeder zweiten Seite auf. Sie wollen Ihr inne-
res Kind finden? Stefanie Stahl bietet Semi-
nare an! Sie suchen nach einem Psycholo-
gie-Podcast? Stefanie Stahl macht einen!
Sie haben eine Selbstwertstörung? Stefanie
Stahl holt Sie da raus! Und sogar Interviews
nimmt die Expertin selbst in die Hand,
denn „ehrliche Gespräche zu führen, ist Ste-
fanie Stahls Job“. Aufatmen lässt einen das
Heft da, wo festgefahrene Verhaltensmus-
ter und Ängste wissenschaftlich, aber nach-
vollziehbar hergeleitet werden und Men-
schen zu Wort kommen, die Krisen über-
wunden haben.
Stimmungsfördernd ist auch das
Layout: mattes Papier in Pastellgelb, Mint-
grün und Altrosa; Dreiecke und Kreise sol-
len das innere Kind ansprechen. Und ein
bisschenBrigitte steckt neben Stefanie
(Stahl) auch noch in dieser „Line Extensi-
on“: Manchmal sollen bei der Krisenbewäl-
tigung auch einfach hohe Hacken helfen.
Oder die Trendfarbe Blau. nora voit

Gleich in der ersten Szene wird Ellsworth
‚Bumpy’ Johnson 1963 nach jahrelanger
Haft aus dem Gefängnis von Alcatraz ent-
lassen. Doch daran, dass seine Rückkehr
nun die Geschichte einer Läuterung wird,
glaubt nicht einmal seine Frau. Auch als Zu-
schauer kann man das wissen, schließlich
hat es den in der SerieGodfather of Harlem
von Oscar-Gewinner Forest Whitaker ge-
spielten Bumpy Johnson tatsächlich gege-
ben: in den Fünfzigern und Sechzigern kon-
trollierte er mit seinen Handlangern weite
Teile des Drogenhandels im New Yorker
Stadtteil.
Historische Genauigkeit ist nun aller-
dings nicht das erklärte Ziel der von Chris
Brancato (Narcos) verantworteten Serie:
Sie sei bloß inspiriert von realen Personen
und Ereignissen, betont eine Einblendung
zu Beginn der acht Episoden, ansonsten
waltet hier die Fiktion, und das nicht zu
knapp: Die Rivalen von der Mafia haben
ihm ganze Straßenzüge abspenstig ge-
macht, überall lauern korrupte Polizisten,
und zu einem engen Wegbegleiter mit or-
dentlich Konfliktpotenzial wird niemand
anderes als Malcolm X (Nigel Thatch). Und
Pastor Adam Clayton Powell jr. (Giancarlo
Esposito), erster afroamerikanischer Kon-
gressabgeordneter, der wie alle anderen
auch bei seinen Projekten an Johnson
nicht vorbeikommt, hat gern mal Präsi-
dent Kennedy persönlich an der Strippe.
Dass die Ambitionen inGodfather of Har-
lemüber bloßen Geschichtsunterricht hin-
ausgehen, unterstreicht auch die Musik,
die in der Serie eine entscheidende und mit-
reißende Rolle spielt. Neben Jazz und Soul
von damals wummern immer wieder ei-
gens komponierte Hip-Hop-Stücke von
Star-Produzent Swizz Beatz über dem Vor-
spann und etlichen Szenen. „Dass wir auch
moderne Musik einsetzen, war meine
Idee“, sagt Hauptdarsteller und Produzent
Whitaker der SZ. „Mir erschien es wichtig,
einen frischen Blick auf die Geschichte zu
haben. Denn es geht darin um Themen, die
uns bis heute beschäftigen, von einer Pola-
risierung der Gesellschaft, Rassismus und
Polizeigewalt bis hin zur grassierenden
Drogenepidemie oder ‚Me Too‘.“
Warum Brancato und seine Mitautoren
es angesichts dieser Fülle an Themen für
nötig hielten, die Serie auch noch mit jeder
Menge seifenoperntauglichem Drama aus
dem Privatleben Johnsons und seiner
Widersacher anzureichern, bleibt ein Rät-
sel. Statt von sich prostituierenden Junkie-
Töchtern oder einer tragischen jungen
Liebe zwischen einer Mafia-Tochter und
einem Musiker zu erzählen, hätte sich
Godfather of Harlembesser auf seinen
Protagonisten und die spannende Schnitt-
stelle zwischen organisiertem Verbrechen
und Bürgerrechtsbewegung konzentriert.
Schon allein, um noch mehr vom gewohnt
großartigen Whitaker zu zeigen. So aber
verliert sich die Serie etwas zu oft in Un-
glaubwürdigkeiten und mangelnder Subti-
lität, die zwar der Unterhaltsamkeit keinen
Abbruch tun, aber auf Kosten einer Wahr-
haftigkeit gehen, die dem Stoff angemes-
sen wäre. patrick heidmann


Godfather of Harlem,läuft auf Magenta TV.


Arabella Kiesbauer kriegt wieder eine Talk-
show. Die Moderatorin erhält beim öster-
reichischen Sender Puls 24 eine nach ihr
benannte, wöchentliche Sendung. In der
ersten Ausgabe am Dienstag geht es um
das Thema „Wann ist ein Mann ein Mann?“


  • diskutiert wird mit der Moderatorin So-
    nya Kraus und der Schauspielerin Dagmar
    Koller. Kiesbauer, 50, hat in den Neun-
    zigern das Talkshow-Format in Deutsch-
    land mitgeprägt und mit ihren teils skur-
    rilen Gästen von 1994 bis 2004 in rund
    3000 Sendungen zwischenmenschliche
    Probleme diskutiert. dpa


DieBravoerscheint künftig nur noch alle
vier statt alle zwei Wochen. Die Jugendzeit-
schrift werde sich ab sofort stärker auf digi-
tale Formate und Bewegtbild konzentrie-
ren, teilte der Heinrich-Bauer-Verlag mit.
Das Magazin sei zwar extrem beliebt bei
den Jugendlichen, sagte Bravo-Verlagslei-
ter Karsten Binke, „aber Teenager sind
längst nicht so markentreu wie ältere Ziel-
gruppen“. Neben dem Webauftritt istBra-
voin den sozialen Netzwerken vertreten,
die Aufklärungsrubrik „Dr. Sommer“ gibt
es auch als Podcast. Das Heft erscheint seit
1956, in Hochzeiten wurden weit über eine
Million Exemplare verkauft. epd

Heidi im Paradies


Dieneue Casting-Show für Dragqueens bei Pro Sieben ist faszinierend, aufklärerisch – und in


der Szene durchaus umstritten. Das liegt auch an Jurorin Heidi Klum


Blau gegen Krise


„Brigitte Leben“ verspricht
seelische Selbstoptimierung

Mit Wumms


Forest Whitaker spielt in einer
Serie den Paten von Harlem

Die Originalshow aus den USA
schaffte es, auch die sozialen
Kämpfe zu thematisieren

Neue Talkshow für


Arabella Kiesbauer


„Bravo“


erscheint seltener


Psychotainment für
die Frau: Die neue
Zeitschrift
„Brigitte Leben“ liegt
für 8,90 Euro pro
Ausgabe mit einer
Auflage von 100000
Exemplaren zweimal
jährlich am Kiosk.
FOTO: GRUNER + JAHR

Für Klum ist Diversität
einfach „gerade das Thema
in der Fashionwelt“

Die Jury vonQueen of Drags: Conchita Wurst, Gast-Jurorin Olivia Jones, Heidi Klum und Bill Kaulitz. Zweite Reihe: die zehn Teilnehmerinnen.FOTO: EHLEBEN /PROSIEBEN

DEFGH Nr. 263, Donnerstag, 14. November 2019 (^) MEDIEN HF2 39
Bis heute aktuell: Forest Whitaker als
Bumpy Johnson. FOTO: JAMEL SHABAZZ/EPIX
Lösungen vom Mittwoch
19
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SZ-RÄTSEL
Die Ziffern 1 bis 9 dürfen pro Spalte und Zeile
nur einmalvorkommen. Zusammenhängende
weiße Felder sind so auszufüllen, dass sie nur
aufeinanderfolgende Zahlen enthalten (Stra-
ße), deren Reihenfolge ist aber beliebig. Weiße
Ziffern in schwarzen Feldern gehören zu kei-
ner Straße, sie blockieren diese Zahlen aber in
der Spalte und Zeile (www.sz-shop.de/str8ts).
© 2010 Syndicated Puzzles Inc. 14.11.2019
Schwedenrätsel Sudokuleicht
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3 1
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5 3 6 8
6 2 8 4
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8 5 4
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19364 5728
7653 28419
4287 9 1365
2369748 5 1
57 18329 46
98 41562 3 7
31258 7694
6472 1 9583
85946 3172
Str8ts: So geht’s
321 87
132 98 7
3216578
2687459
543 768
754362 1
76 54 132
876234
87 342
4
56
9
3
2
Str8tsmittelschwer

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