Süddeutsche Zeitung - 14.11.2019

(Michael S) #1
von kathrin zinkant

A


ls übergriffig, sogar grundgesetz-
widrig ist eine Impfpflicht bezeich-
net worden. Was mischt sich der
Staat in die persönliche Freiheit der Leu-
te ein, wie kann er die körperliche Unver-
sehrtheit des Individuums angreifen,
und das auch noch, wenn es um Kinder
geht? Impfen ist aber nichts Persönliches
und nichts Individuelles. Psychologen
sprechen beim Impfen sogar von einem
sozialen Vertrag – eine Umschreibung
der biologischen Tatsache, dass Impfun-
gen gegen ansteckende Krankheiten
stets eine gemeinsame Angelegenheit
sind. Ihr Effekt hängt davon
ab, dass alle mitmachen.
Nun heißt es immer wie-
der, es seien genügend Indi-
viduen geimpft, der soziale
Vertrag sei erfüllt. Mehr als
97 Prozent der Schulanfän-
ger haben die erste Immuni-
sierung gegen die Masern er-
halten. Warum also das The-
ater mit der Pflicht? Weil ei-
ne Immunisierung nicht
reicht, weil sie zur Einschu-
lung zu spät kommt – und weil die 97 Pro-
zent ein Durchschnittswert sind. Lokal
und unter Erwachsenen sieht es teils dra-
matisch anders aus. Es gibt Regionen, et-
wa in Süddeutschland, in denen die Impf-
quoten deutlich unter den nötigen 95 Pro-
zent liegen und in diesem Jahrzehnt wei-
ter gesunken sind. Jüngsten Zahlen zufol-
ge spielt sich Vergleichbares in wohlha-
benden, akademikerreichen Stadtteilen
Berlins ab. Der soziale Vertrag wird eben
nicht erfüllt.
Eine Illusion ist es, dass man dem Pro-
blem noch mit Aufklärung begegnen
könnte. Der Zug ist längst abgefahren.
Man werfe nur einen Blick auf die verfüg-
bare Aufklärungsliteratur im Buchladen,
die zu einem erheblichen Teil impfkri-

tisch ist, aber im Gewand der Wissen-
schaftlichkeit daherkommt. Dasselbe gilt
für vermeintliche Aufklärungsseiten im
Internet, über die jedes interessierte El-
ternpaar fast zwangsläufig stolpert,
wenn es Google bemüht. Und schließlich
sind auch manche Ärzte keine verlässli-
chen Ansprechpartner, sondern verdie-
nen viel Geld damit, individuelle Impfent-
scheidungen zu propagieren – anstatt
den wissenschaftlichen Konsens zu erläu-
tern. Kurzum, wer auf Aufklärung setzt,
akzeptiert Gegenaufklärung. Und wel-
ches noch so gebildete Elternpaar kann
schon unterscheiden zwischen seriös
und unseriös, wenn die Ratgebenden sich
alle Doktor nennen und Stu-
dien zitieren?
Eine Pflicht ist die letzte
Chance, den großen Erfolg
zu retten, den die Impfmedi-
zin über die sehr gefährliche
Erkrankung Masern schon
errungen hat. Denn so ist es
ja zum Glück: Die Masern
sind selten geworden, gera-
de in Deutschland. Ihre Ab-
wesenheit aber darf nicht
darüber hinwegtäuschen,
dass die Krankheit jederzeit zurückkeh-
ren wird, solange sie nicht ausgerottet ist.
Sie kann Säuglinge und andere Men-
schen treffen, die nicht geimpft werden
dürfen – oder mutwillig nicht geimpft
wurden. Sie kann töten, Behinderungen
verursachen und dauerhafte Schädigun-
gen des Immunsystems nach sich ziehen.
Diese Risiken mit dem Verweis auf indivi-
duelle Entscheidungsbedürfnisse einzu-
gehen, ist inakzeptabel.
Das gilt übrigens auch mit Blick auf
die vielen Erwachsenen, die nicht wissen,
ob sie geimpft wurden oder die Masern
hatten – oder die sich wissentlich nie ha-
ben impfen lassen. Sie sollen von der
Impfpflicht ausgenommen bleiben. Das
ist ein Fehler, der sich rächen könnte.

PFLICHT ZUR MASERN-IMPFUNG

Aufklärung reicht nicht


von kristiana ludwig

M


asern sind eine gefährliche und
hochansteckende Krankheit, dar-
an besteht kein Zweifel. Es ist
wichtig, die Bevölkerung gegen sie zu
schützen. Eltern mit einem hohen Buß-
geld oder gar dem Verlust eines Betreu-
ungsplatzes zu einer Impfung ihrer Kin-
der zu zwingen, so wie es die Bundesregie-
rung jetzt plant, mag ein wirksamer Weg
sein. Doch es ist nicht der richtige.
Die Selbstbestimmung über den eige-
nen Körper gehört zu den höchsten Gü-
tern der Verfassung. Nicht umsonst ist ei-
ne ärztliche Behandlung, bei der ein Pati-
ent nicht einwilligt, schlicht
Körperverletzung. Jetzt ei-
nen derart massiven Druck
auf Eltern auszuüben, ihrem
Kind einen bestimmten
Impfstoff zu verabreichen,
steht in keinem Verhältnis.
Um wen geht es hier ei-
gentlich? Verfolgt man die öf-
fentliche Debatte um Ma-
sernausbrüche in Deutsch-
land, dann könnte man mei-
nen, immer mehr radikale
Impfgegner würden zu einer massiven Ge-
fahr für die Gesundheit. Doch das ist
falsch. Befragungen zeigen, dass gerade
einmal zwei Prozent der Eltern einer Imp-
fung ihrer Kinder ablehnend gegenüber-
stehen. Dasselbe zeigen die Impfquoten:
Während bei der ersten Masernschutzimp-
fung in den ersten zwei Lebensjahren die
von der Weltgesundheitsorganisation
empfohlene Schutzquote von mehr als 95
Prozent noch locker erreicht ist, wird es
erst bei der zweiten Impfung schwierig.
Das heißt, in Deutschland gibt es eher
ein Problem mit Impfvergessern als mit
Gegnern. Der Teil, der aus weltanschauli-
chen Gründen nicht impfen möchte, ist so
klein, dass ihn die Gesellschaft aushalten
kann – und sollte. Der Wert einer Demo-

kratie zeigt sich in ihrem Umgang mit An-
dersdenkenden, und seien deren Ansich-
ten noch so krude.
Statt mit einem Zwang könnte der
Staat den überwiegenden Teil der Kinder
mit Reihenimpfungen erreichen. Wenn
ein Arzt in die Kita kommt, sind alle ver-
sorgt. Die Erfahrung zeigt, dass mit sol-
chen Maßnahmen die Impfquoten er-
reicht werden. Und zwar auch dann, wenn
Eltern das Recht behalten, zu widerspre-
chen.
Leider ist der öffentliche Gesundheits-
dienst mittlerweile schlecht ausgestattet.
Er beschäftigt heute ein Drittel weniger
Menschen als noch vor 20 Jahren. Ärzte ar-
beiten lieber in Kliniken als
im Staatsdienst. Statt die Ge-
sundheitsämter nun zur
Impfpolizei zu machen, soll-
te die Regierung lieber deren
Präventionseinsätze stärken.
Nicht zuletzt ignoriert die
neue Impfpflicht die größte
Lücke des Landes: Sie befin-
det sich bei den jungen Er-
wachsenen. Gegen ihren
schlechten Impfschutz hel-
fen keine spaßigen Plakate,
sondern nur Ärzte, die ihre Patientinnen
konsequent auf den Impfpass anspre-
chen. Auch Betriebsärzte sollten die Beleg-
schaften aktiv an die Immunisierung erin-
nern.
Ein Bußgeld wälzt dagegen die Verant-
wortung auf Eltern ab. Und dies kann
selbst bei Menschen, die bisher wenig Pro-
bleme mit dem Impfen hatten, für Ärger
sorgen. Aus Ärger entsteht Trotz. For-
scher warnen: Wer sich zu einer bestimm-
ten Impfung gezwungen fühlt, lässt nicht
selten eine andere dafür weg. So könnte
das Maserngesetz sogar negative Folgen
für die Immunisierung der Kinder gegen
andere ansteckende Krankheiten haben.
Die Regierung sollte den Wunsch der Bür-
ger nach Autonomie nicht unterschätzen.

Der soziale
Vertrag wird
hier nicht
freiwillig erfüllt

Es war kurz vor Mitternacht. Das Hoch-
wasser, von dem Venedig zu vier Fünfteln
überschwemmt worden war, hatte seinen
Höhepunkt gerade überschritten, als Lui-
gi Brugnaro, der Bürgermeister der Stadt,
auf der Piazza San Marco vor die Kameras
trat: Man stehe vor einer Katastrophe, die
Schäden seien kaum abzuschätzen. Für
den kommenden Tag, den Mittwoch, wer-
de er für Venedig den Notstand ausrufen.
Ferner verwies er auf den hydraulischen
Damm, der vor der Lagune gebaut werde.
Man brauche ihn, wie sehr, sehe man
jetzt. Außerdem wandte sich Brugnaro an
den Staat: „Wir rufen die Regierung Itali-
ens auf, uns zu helfen. Die Kosten werden
hoch sein.“
Später machte der Bürgermeister vor
allem den Klimawandel für das jüngste
Hochwasser in Venedig verantwortlich,
das mit 187 Zentimetern über dem norma-
len Pegelstand die zweithöchste „acqua
alta“ war, die je gemessen wurde. Doch in
diesem Augenblick stand er bereits in ho-
hen Stiefeln, neben dem Patriarchen von
Venedig, bei Tageslicht auf der anderen
Seite der Piazza.
Brunaro, geboren 1961 in Mirano, einer
Gemeinde auf dem Festland, und im Jahr
2015 als unabhängiger Kandidat einer Ko-
alition aus Rechtspopulisten und Konser-
vativen ins Amt gewählt, ist Geschäfts-
mann. In den frühen Neunzigern betrieb
er die erste Zeitarbeitsagentur Italiens, er
war Präsident des regionalen Arbeitgeber-
verbands, ihm gehört eine erfolgreiche
Basketballmannschaft. Er ist bekannt für
eher unbedachte Äußerungen: So emp-
fahl er der Polizei, jeden Menschen sofort
zu erschießen, der auf der Piazza San Mar-
co den im Arabischen durchaus geläufi-
gen Satz „Allahu akbar“ äußere.

Und er investiert in der Stadt: Zum Bei-
spiel geht die Restaurierung der Scuola
Grande della Misericordia und deren Ver-
wandlung in ein Lokal für Veranstaltun-
gen der gehobenen Art auf den Bürger-
meister zurück. Die Popularität, die er un-
ter seinen Wählern genießt, hat viel mit
solchen Erfolgen zu tun. Er gilt als Prag-
matiker, als Mann, der etwas tut und da-
bei den ökonomischen Vorteil nie aus
dem Blick verliert. Man wird aber hinzufü-
gen müssen, dass sich diese Reputation
weitgehend auf die Gebiete der Stadt be-
schränkt, die auf dem Festland liegen und
von der Altstadt profitieren, ohne deren

Probleme zu teilen. Unter den immer we-
niger werdenden Einwohnern des „centro
storico“ sieht es mit der Popularität etwas
anders aus. Für die Abstimmung, bei der
die Einwohner Venedigs sich Anfang De-
zember entscheiden sollen, ob die Stadt in
der Lagune in Zukunft wieder selbständig
sein soll, empfahl er den Wählern, sich
der Stimme zu enthalten.
Klimaschützer war Brugnaro bisher
nicht, ein Schlitzohr indessen schon. Zwar
hat er sich in jüngster Zeit gegen die Kreuz-
fahrtschiffe ausgesprochen, die auf ihrer
Fahrt zur Anlegestelle immer noch die Alt-
stadt durchqueren. Zugleich aber hat er
für eine Vertiefung und Verbreiterung der
Fahrrinnen in der südwestlichen Lagune
plädiert. Eben diese Ausweitungen der
Fahrrinnen haben indessen großen Anteil
daran, dass immer mehr Wasser immer
schneller in die Lagune fließen kann, mit
unmittelbaren Auswirkungen auf die Häu-
figkeit und das Ausmaß der Hochwasser.
Die Rede vom „Klimawandel“ ver-
schleiert diesen Zusammenhang. Glei-
ches gilt für den hydraulischen Damm.
Während nach wie vor unsicher ist, ob er
überhaupt je funktionieren wird, werden
nun bereits Forderungen nach mehr Geld
für den Bau laut: Wer die etwa hundert
Millionen Euro bezahlen soll, die künftig
pro Jahr für den Betrieb des Damms auf-
gewendet werden müssen, ist zwischen
Kommune, Region und Staat nach wie vor
ungeklärt. Luigi Brugnaro verweist nun
auf die Nation. Unterdessen rät die Stadt
Venedig auf ihrer Website „neugierigen“
Touristen, sich ein Paar Gummistiefel zu
kaufen, um die Stadt im Ausnahme-
zustand zu besichtigen. Diese Maßnahme
dürfte ganz im Sinn des Bürgermeisters
sein. thomas steinfeld

HERAUSGEGEBEN VOM SÜDDEUTSCHEN VERLAG
VERTRETEN DURCH DEN HERAUSGEBERRAT
CHEFREDAKTEURE:
Kurt Kister, Wolfgang Krach
NACHRICHTENCHEFS:
Iris Mayer, Ulrich Schäfer
AUSSENPOLITIK:Stefan Kornelius
INNENPOLITIK:Ferdos Forudastan; Detlef Esslinger
SEITE DREI:Alexander Gorkow; Karin Steinberger
INVESTIGATIVE RECHERCHE:Bastian Obermayer,
Nicolas RichterKULTUR:Andrian Kreye, Sonja Zekri
WIRTSCHAFT: Dr. MarcBeise
SPORT: Klaus Hoeltzenbein WISSEN: Dr.Patrick Illinger
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René Hofmann; Sebastian Beck, Ingrid Fuchs,
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Aus Zwang
entsteht nur
Trotz. Das ist
der falsche Weg

F


ragt man in ein paar Jahren einmal
nach, was von der Synoden-Tagung
der evangelischen Kirche 2019 in
Dresden im Gedächtnis hängen geblieben
ist, dann wird das wohl nicht jene Kund-
gebung sein, mit der die versammelten
Protestanten für eine friedliche und klima-
neutrale Welt ohne Atomwaffen eintra-
ten. Es dürfte das Bild von Kerstin Claus
sein, die als erste Betroffene von sexueller
Gewalt in der evangelischen Kirche vor
der Versammlung redete.
Die evangelische Kirche leugnet nicht
mehr, dass auch bei ihr diese Gewalt ge-
gen Kinder und Jugendliche im System be-
gründet liegt, in der religiösen und gesell-
schaftlichen Macht der Pastoren, der ent-


grenzten reformpädagogischen Praxis,
der Unfähigkeit, die Opfer der Gewalt zu
sehen. Es war ein harter Kampf gegen die
Ignoranz. Er ist noch nicht vorbei – aber
ein wichtiger Schritt ist getan: Die Betrof-
fenen standen in Dresden im Mittelpunkt,
sie hatten das Wort, die Deutungsmacht.
Umso weniger verständlich ist die Wei-
gerung der EKD, über Entschädigungen
zu reden. Sie will nur individuell Hilfen
finanzieren. Solche Zahlungen machten
nichts ungeschehen. Aber sie wären ein
Zeichen der institutionellen Verantwor-
tung für Taten, die im Raum der Instituti-
on geschahen. Sie täten weh – wären aber
angesichts des oft lebenslangen Leides ver-
schmerzbar. matthias drobinski

D


er Bundestag trifft an diesem Don-
nerstag eine der weitreichendsten
Entscheidungen für die Berliner
Kulturlandschaft seit Jahren. Er stimmt
über die 364 Millionen Euro ab, die im
Haushaltsentwurf für das geplante Muse-
um der Moderne am Berliner Kulturfo-
rum vorgesehen sind. Läge dem Parla-
ment wirklich an der Kultur, würde es den
Posten streichen und eine neue Debatte
über das Projekt verlangen.
Nicht das Museum selbst ist das
Problem. Sondern die Kombination aus
maßloser Größe und Ideenmangel, die
aus dem Entwurf der Architekten
Herzog & de Meuron spricht. „Scheune“
nennt man das Gebäude gerne, weil es auf


den Bildern so schlicht aussieht. Doch das
täuscht: Gebaut wird ein unzeitgemäß
prunkvoller Kunsttempel, der weder heu-
tigen Anforderungen an Nachhaltigkeit
genügt, noch die Stadt um konzeptuelle
Impulse bereichert. Was ist ein Museum?
Was ist Kunst? Für was stand die Moder-
ne? Das sind Fragen, die diesen Bau nicht
beschäftigen.
Und dann die Kosten. Einst war das Mu-
seum auf 130 Millionen Euro kalkuliert.
Daraus sind bis jetzt 364 Millionen gewor-
den. Kulturstaatsministerin Monika Grüt-
ters rechnet mit 450, Experten halten 600
für realistisch. Kultur lebt nicht von teu-
ren Bauten, sondern von Inhalten. Davon
spricht niemand. jörg häntzschel

W


ieder einmal fühlt sich die AfD
verfolgt. Nach der Abwahl des
Rechtsausschussvorsitzenden
Stephan Brandner empört sich ihre Frakti-
onsspitze, spricht von einer Zumutung für
die Demokratie. Brandner greift weiter an
und im Ton daneben – typisch für die Par-
tei, die gern zum bürgerlichen Lager ge-
zählt werden möchte und doch oft Maß
und Mitte vermissen lässt. Ihren Politi-
kern geht die Fähigkeit zur Selbstkritik
ab. Deshalb übersehen sie auch, dass sie
für das Fiasko selbst verantwortlich sind.
Vor zwei Jahren nominierten sie Brand-
ner, obwohl er längst durch Entgleisun-
gen aufgefallen war, die keine Partei ak-
zeptieren dürfte. Weil die AfD das Anrecht


auf den Posten hatte, hievten die anderen
Fraktionen damals ihn ins Amt. Aber
Brandner machte weiter. Er twitterte
Nachrichten, die beklemmend und würde-
los sind – weit entfernt von dem, was ein
Ausschussvorsitzender äußern sollte.
Seine Ablösung war richtig und notwen-
dig. Was daran undemokratisch sein soll,
wie die AfD behauptet, lässt sich nicht er-
kennen, im Gegenteil: Die Abgeordneten
haben ein demokratisches Recht wahrge-
nommen. Wie üblich sammelt die AfD
nun den Beifall ihrer Getreuen ein. Aber
das wird ihr nicht helfen, Wähler anzuspre-
chen, die mehr wollen als Ressentiments
und Affekte. Sie steckt in einer selbstge-
schaffenen Sackgasse. jens schneider

L


ange Zeit haben die deutschen
Autohersteller über Tesla und
seinen Chef Elon Musk gelä-
chelt, der jetzt eine Riesenfabrik
bei Berlin plant. Was sollte die-
ser Emporkömmling – eine schillernde Fi-
gur, die immer wieder Züge von Größen-
wahn zeigt – einer erfolgsverwöhnten In-
dustrie schon anhaben können? Also hat
man weiter seine Benziner und Diesel pro-
duziert, sich über die satten Gewinne ge-
freut und keinen Grund gesehen, umzu-
steuern und die Weichen Richtung Elek-
tromobilität zu stellen. Wenn irgendwann
einmal die Geschichte über den großen
Umbruch in der Autoindustrie geschrie-
ben werden wird, werden die verpassten
Jahre darin ein wichtiges Kapitel sein.
Spätestens seit dem Dieselskandal und
den immer schärferen CO 2 -Vorgaben der
EU, die nötig sind, um die Klimaziele zu er-
reichen, lacht niemand mehr. Jetzt wird in
Deutschland hektisch nachgeholt, was zu-
vor versäumt worden ist. Elektroautos
und Plug-in-Hybride kommen in schnel-
ler Folge auf den Markt. VW steuert sogar
komplett um und baut seine Zukunft
stark auf die Batterieautos. Ob diese Stra-
tegie aufgehen wird, kann heute niemand
sagen. Klar ist nur, sie kostet Milliarden.


Elon Musk hat mit Tesla zweierlei ge-
schafft: Er hat erstens gezeigt, dass es
geht, auch ohne hundert Jahre Erfahrung
Elektroautos zu bauen, die funktionieren.
Dabei hat Musk auch erkannt, dass es
nicht genügt, nur die Autos zu bauen, son-
dern dass man die Ladeinfrastruktur da-
zu liefern muss. Während die Fahrer ande-
rer E-Autos bei längeren Fahrten kompli-
ziert planen müssen, wo sie ihr Auto unter-
wegs aufladen können und dann auch
noch darauf hoffen müssen, dass die ein-
geplante Ladesäule frei ist und auch funk-
tioniert, stehen Tesla-Besitzer lächelnd
an ihren Super-Chargern.
Das zweite, was Musk geschafft hat, ist
vielleicht das noch größere Kunststück:
Er hat die Elektromobilität aus der Ecke
der Öko-Pioniere herausgeholt und sexy
gemacht. Es gilt bei Leuten mit Geld (denn
Teslas sind teuer) als sexy, einen Tesla zu
fahren. Mit der Qualität der Autos hat das
nur wenig zu tun, denn die ist keineswegs
überragend, sondern hinkt dem Standard
von Premiumfahrzeugen anderer Herstel-
ler deutlich hinterher. Wie lange das coole
Image trägt, ist deshalb auch ungewiss.
Denn Geld verdient hat Tesla mit seinen
Autos bisher nicht. Und von den Stückzah-
len her ist Tesla ein Nischenfabrikant. Es


ist deshalb trotz allem Ballyhoo, das Musk
zu inszenieren versteht wie kein zweiter,
keineswegs sicher, ob der Pionier aus Kali-
fornien auf Dauer überleben wird, wenn
die Welle von E-Autos etablierter europäi-
scher Hersteller oder der Newcomer aus
China den Markt flutet.
Dennoch kommt die Ankündigung
Musks, bei Berlin seine erste sogenannte
Gigafabrik in Europa zu bauen, in der
nicht nur Autos, sondern auch die Akkus
produziert werden sollen, für die deut-
sche Konkurrenz zu einem ungünstigen
Zeitpunkt, ja sie gleicht förmlich einer De-
mütigung. Denn während bei den deut-
schen Herstellern riesige Sparpläne und
Stellenstreichungen für Unruhe bei der Be-
legschaft sorgen, die aber nötig sind, um
die gewaltigen Investitionen in die Zu-
kunft stemmen zu können, kommt Musk
mit einer neuen Fabrik um die Ecke; und
die Politiker in der Region träumen schon
von Tausenden neuer Arbeitsplätze.
Dass diese Fabrik ausgerechnet in der
Nähe des neuen Berliner Flughafens ent-
stehen soll, einem blamablen Zeugnis
deutscher Ingenieurskunst, ist besonders
pikant. Wer weiß schon, ob die Gigafacto-
ry von Tesla am Ende nicht schneller fer-
tig wird als der Flughafen.
Für den Autostandort Deutschland ist
die geplante Tesla-Fabrik trotzdem eine
gute Nachricht, nicht nur wegen des alten
ökonomischen Grundsatzes, wonach Kon-
kurrenz das Geschäft belebt. Denn bei der
Elektromobilität geht es längst nicht
mehr darum, wer die besten oder schöns-
ten Autos baut. Die entscheidende
Schlacht wird um die Batteriezellen ge-
schlagen. Wer bei der Entwicklung der
nächsten Generation von Zellen vorn
liegt, wird zu den Siegern gehören. Tesla,
das bei der Zellproduktion mit Panasonic
zusammenarbeitet, hatte hier einen Vor-
sprung. Wie groß er ist und ob er über-
haupt noch vorhanden ist, ist offen, denn
kein Hersteller deckt seine Karten auf.
Die deutschen Autohersteller haben
den Aufbau einer eigenen Zellproduktion
wegen der immensen Kosten und des gro-
ßen Vorsprungs der asiatischen Hersteller
gescheut und damit den wichtigsten Fak-
tor in der Wertschöpfungskette von Elek-
troautos aus der Hand gegeben. Rückbli-
ckend betrachtet war das ein zentraler
Fehler. Es geht dabei weniger um Arbeits-
plätze, denn Zellfabriken sind hochauto-
matisiert. Sondern es wäre darum gegan-
gen, den Innovationsprozess selbst mit zu
steuern. Inzwischen sind neue Kooperatio-
nen mit asiatischen Herstellern entstan-
den, auch mit geplanten Werken in
Deutschland. Wenn da jetzt auch Tesla da-
zu kommt, könnte hierzulande ein frucht-
barer Wettbewerb um die Zellen von mor-
gen entstehen, der am Ende allen nutzt.

Wenn in Bolivien die Anhän-
ger von Evo Morales demons-
trieren, führen sie meist die
Wiphala mit sich, die Flagge
der indigenen Gemeinschaf-
ten im gesamten Andenraum. Sie besteht
aus sieben mal sieben Quadraten in sie-
ben Farben. Ihre Wurzeln liegen vermut-
lich im Imperium der Inka, das einst auf-
geteilt war in vier Teilreiche. Heute hat je-
des von diesen einstigen Inka-Gebieten
eine eigene Version der Wiphala, die sich
durch die Farbabfolge unterscheidet. Die
Wiphala hat für viele indigene Gemein-
schaften einen religiösen und zeremoniel-
len Wert. Dazu ist die Flagge spätestens
seit den Protesten der indigenen Bauern-
gewerkschaften in den 60er- und 70er-
Jahren politisch aufgeladen. Mit der
Amtsübernahme von Evo Morales, Bolivi-
ens erstem indigenen Präsidenten, wur-
de die Wiphala zum Nationalsymbol und
der offiziellen rot-gelb-grünen Flagge
gleichgestellt. Das indigene Symbol weht
heute über vielen Regierungsgebäuden.
Für viele steht die Wiphala aber auch für
die Regierung von Morales und seine Par-
tei Movimiento al Socialismo. Gegner des
abgesetzten Präsidenten verbrannten
während der Proteste das indigene Sym-
bol, und meuternde Polizisten schnitten
die Fahne von ihren Uniformen. Die
selbsternannte Übergangspräsidentin
Jeanine Añez hat nun dazu aufgerufen,
die Wiphala zu respektieren. cgur

(^4) MEINUNG Donnerstag, 14. November 2019, Nr. 263 DEFGH
Dissens muss möglich sein
FOTO: MASSIMO BERTOLINI/IMAGO
EVANGELISCHE KIRCHE
Lebenslanges Leid
MUSEUM DER MODERNE
Unzeitgemäß
FALL BRANDNER
AfD in der Sackgasse
Mut undVersagen sz-zeichnung: wolfgang horsch
TESLA
Ausgelacht
von peter fahrenholz
AKTUELLES LEXIKON
Wiphala
PROFIL
Luigi
Brugnaro
Bürgermeister
Venedigs im
Hochwasserstress
Das Fabrikprojekt Musks bei
Berlin düpiert die deutschen
Autobauer. Dennoch ist es gut

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