V4 Frankfurter Allgemeine Zeitung Verlagsspezial / DieZukunft derMedizin istdigital / 14. November 2019
L
auteiner repräsentativenStudie
desRobertKoch-Institut sleiden
in Deutschland27Prozent der
Bevölkerunganmindesten seiner
psychischenErkrankungpro Jahr.
Dochnur jede rvierteBetroffene
erhält einAngebot ausdem Versorgungssys-
tem. Da dasInternet Teil unseresAlltagsgewor-
denist,giltes, diePotentialeder Digitalisierung
für dieBehandlung psychischerErkrankungen
zu nutzen.Andere Länder machen es vor: Zum
Beispielhaben in Australien,Großbritannien,
denNiederlandenund Schweden internet-
basi erte Interventionen in denvergangenen
Jahren rasant Einganggefunden. Dort werden
im Rahmen vonE-Mental-HealthdigitaleTech-
nologien eingesetzt,umunteranderemdiepsy-
chischeGesundheitzufördern undpsychische
Störungenzubehandeln.
Internetbasierte Interventionen
Online-Interventionen machen es möglich,
dieKommunikationdes Patientenmit seinem
Arzt oder Psychologen auf den virtuellen
Raum zu übertragen. Dies kann per Video-
sprechstunde, zeitversetzt per E-Mail oder
zeitgleich per Chat geschehen. Die am wei-
testen verbreitete Form internetbasierter
Interventionen sind Selbstmanagement-
programme. Diese werden vom Nutzer vor-
wiegend selbständig bearbeitet. Viele dieser
Interventionen bieten jedoch die Möglich-
keit einer professionellen Begleitung dur ch
Ärzte und Psychologen. Deren Ausmaß
kann dabei erheblich variieren. So dient die
Begleitung in manchen Interventionen dazu,
den Anwender zu einer möglichst intensiven
Nutzung des Programms zu motivieren. In
anderen wiederum geht es um eine gezielte
Bearbeitung therapeutischer Inhalte. Auch
Kombinationsbehandlungen sind möglich:
Hier findet ein Teil der Therapie in direktem
persönlichem Kontakt und ein ergänzender
mit dem Internetprogramm statt.
Die meisten Online-Interventionen basie-
ren auf Methoden der kognitiven Verhal-
tenstherapie. In standardisierten Modulen
werden ausführliche Informationen über
die Erkrankung gegeben, Umstrukturierung
von krankheitserhaltenden Gedanken ange-
strebt und Problemlösefähigkeiten, Acht-
samkeitstraining und Entspannungsmetho-
den sowie der Aufbau sinnvoller Aktivitäten
vermittelt. Die Programme erstrecken sich
über mehrere Wochen, in denen der Pati-
ent jeweils ein Modul bearbeiten muss.
Die Rückmeldung seitens des Therapeuten
erfolgt in der Regel wöchentlich per Chat,
E-Mail oder auch in der Therapiestunde.
Diese persönliche Behandlung kann von
Fachärzten für Psychiatrie, ärztlichen und
psychologischen Psychotherapeuten oder
auch von Hausärzten dur chgeführt werden.
Wirksamkeit ist durch Studien belegt
Inzwischen existiert eine Vielzahl klinischer
Studien zu internetbasierten Psychothera-
piekonzepten, die deren großes Potential für
die Prävention und die Behandlung psychi-
scher Störungen aufzeigen. Gut erforscht
sind Programme für die Therapie von Angst
sowie die von leic hter und mittelschwerer
Depression. Auch Angebote zur Behandlung
von Essstörungen, Alkoholmissbrauch, der
Borderline-Persönlichkeitsstörung und Schi-
zophrenie sind berei ts am Markt. Alle Stu-
dien zeigen, dass die Wirksamkeit der inter-
netbasierten Interventionen vergleic hbar ist
mit denjenigen, die im persönlichen Kontakt
zum Arzt und Psychologen dur chgeführt
werden. Weiterer Forschungsbedarf besteht
im Hinbli ck auf Nebenwirkungen und Kon-
traindikationen. Vor allem aber der Aspekt
der Integrierbarkeit von Online-Angeboten
in konventionelle Therapien ist interessant.
Bei der Vielzahl internetbasierter Ange-
bote für psychische Erkrankungen ist eine
standardisierte Qualitätssicherung, wie sie
bei Medikamenten oder Psychotherapiever-
fahren übli ch ist, für die Patientensicherheit
unabdingbar. Die Deutsche Gesellschaft für
Psychiatrie und Psychotherapie, Psycho-
somatik und Nervenheilku nde hat daher
zusammen mit der Deutschen Gesellschaft
für Psychologie einen Katalog von Qualitäts-
kriterien entwickelt, den internetbasierte
Interventionen erfüllen sollten. Dabei spie-
len Hilfestellungen bei Krisen und Suizidali-
tät sowie der Umgang mit dem Datenschutz
eine wichtige Rolle.
DasDigitale-Versorgungs-Gesetz,das zur-
zeit durchden Bundestagverabschiedetwird,
schärft dieGrundlagezur Qualitätssicherung
derdigitalen Technologien. Es öffnet denWeg
zurVerschreibung dur ch Ärzteund Psycholo-
gen, so dass dieKostenvon dengesetzl ichen
Krankenkassenübernommenwerden.
Neue Möglichkeiten für Patienten
Bei aller Euphorie über die Möglichkeiten
internetbasierter Interventionen sollten Risi-
ken und Chancen offen diskutiert werden.
Kritische Stimmen wenden ein, dass die ver-
trauensvoll e Beziehung zwisc hen Patienten
und Ärzten und Therapeuten verlorengehen
könnte. Von den wissenschaftlichen Fach-
gesellschaften wird zumindest ein persönli-
cher Kontakt zur Diagnostik gefordert, bevor
internetbasierte Interventionen zum Einsatz
kommen – e benso wie ein fester Ansprech-
partner bei Krisen.
Große Chancen bieten die digi talen
Technologien Menschen in versorgungs-
schwachen Regionen, in denen kaum Ärzte
oder Psychologen zu finden sind. Patienten
mit körperlichen Einschränkungen könn-
ten dur ch internetbasierte Angebote besser
erreicht werden. Menschen, die traditio-
nelle Behandlungsangebote ablehnen, zum
Beispiel aus Furcht vor Stigmatisierung,
könnten e benfalls profitieren. Die langen
Wartezeiten auf einen ambulanten Therapie-
platz ließen sich mit Internetangeboten über-
brücken. Im Sinne der Selbstbestimmung
erhalten die Patienten neue Möglichkeiten,
sich selbst aktivund unabhängig in einen
therapeutischen Prozess zubegeben,der
SelbstwertgefühlundSelbstwirksamkeit
stärkt.
Dr. med. Iris Hauth ist Ärztliche Direktorin
und Regionalgeschäftsführerin am Zentrum
für Neurologie, Psychiatrie, Psychothera-
pie und Psychosomatik am Alexianer St.
Joseph-Krankenhaus in Berlin-Weißensee.
E-Mental-Health: Chancenfür diepsychischeGesundheit
Nicht immer erhalten Menschen mit ps ychischen Erkrankungen die medizinische Behandlung, die sie benötigen. Digitale Angebote könnten diese Versorgungslüc ke zumindest
zum Teil schließen. Besonders in Regionen, in denen Ärzte und Psychologen rar sind, können Patienten profitieren. Von Iri s Hauth
Psy c hische Erkrankungen sind häufig, und die Betrofenen leide n unter Engpässen in der Behandlung. Elektronische Lösungen könnten helfen. FOTO A NTONIOGUILLEM/ADOBESTOCK
Eine Alzheimer-Erkrankung
früh zu erkennen und damit
vorklinisch zu behandeln ist
mit heutigen Test-Methoden
überaus schwierig. Doch
mit digitalen Anwendungen
könnte sich dies bald än-
dern. Außerdem kann von
der Analyse großer Daten-
mengen die Forschung profi-
tieren.
VONEMRAHDÜZEL
D
emenzerkrankungen sind eine
der größten medizinischen Her-
ausforderungen unserer Zeit. Bei
der absehbaren Entwicklung der
demographisc hen Alterung wird sich die
Häufigkeit bis 2050 weltweit auf 150 Mil-
lionen Menschen verdreifachen. Die Alz-
heimer-Krankheit ist die häufigste Ursache
einer Demenz. Berei ts frühe Phasen sind
dur ch die Ablagerung von Beta-Amyloid
und Tau-Eiweiß im Gehirn gekennzeichnet.
Diese Proteine beeinträchtigen Hirnzellen
zunächst in ihrer Funktion und führen nach
Jahren zum Zelluntergang. Die Herausfor-
derung der Zukunft ist daher die frühzei-
tige Erkennung, Verlaufsbeobachtung und
Behandlung der Alzheimer-Erkrankung,
also noch bevor es zu einer Demenz kommt.
In diesen Phasen sind kognitive Einbußen
oft so subtil, dass e tablierte Test-Methoden
meist fälschlich normale Befunde liefern.
Zudem können alltagsbezogene Schwankun-
gen der kognitiven Leis tungsfähigkeit die
Alzheimer-bedingten Defizite überdecken.
Das aktuelle Paradigma der Versorgung
und Erforschung von Demenzerkrankungen
setzt auf Testmethoden, die sich seit Deka-
den nicht grundlegend geändert haben.
Patienten und Forschungsteilnehmer müs-
sen beim Arzt oder bei einer Einrichtung
persönlich vor Ort sein, was wiederholte
Tests in kurzer Zeit logistisch oft unmöglich
macht. Somit können auch nur ausgewählte
kognitive Funktionen erfasst werden. Auch
die Inhalte der heute genutzten Screening-
Tests folgen der Intuition von vor 30 Jahren
- damals war, im Gegensatz zu heute, nur
wenig über die Funktionsweise des Gehirns
bekannt. Die Ergebnisse dieser Tests sind
nicht sensitiv und spezifisch genug, um
klare, handlungsleitende Ergebnisse zu
liefer n. Deshalb erfolgt die Diagnose oft
zu spät, so dass die Chance verpasst wird,
durch eine frühzeitige Versorgung der
Krankheit optimal zu begegnen.
Neue Optionen durch digitale
Testungen
MitdemSiegeszugder Smartphones, der
zunehmendenFunkabd eckungundder
Verbesserung derDatensich erheit eröffnet
dieDigitalisierungnunvölligneueMöglich-
keiten.Gleichzeitigergebensicherweiterte
Perspektiven derBürgerpartizipationan
derForschung undsomit neue Ansätze,
großeDatenmengenzuerheben. MitSmart-
phone-basiertendigitalen Testszur Erfas-
sung derGedächtnisleistungkönneninder
ärztlichen Versorgung individualisierte
undengmaschige Testungenund Verlaufs-
kontrollen erfolgen.Somitistesmöglich,
Einflüsse vonKognitionsschwankungen
herauszurechnenund kognitive Leistungs-
zuständeverlä sslicher zu erheben.Subtile
Gedächtnisproblemelassensichdadurch
genauerimHinblic kauf eine möglich e
Alzheimer-Krankheit einordnen. Durch
engmaschigeVerlaufsbeobachtungen kann
zudemzügig bestimmtwerden, ob Defizite
progredientschlechterwerdenoderobsie
stabil bleiben.Mit einerflächendeckenden
Digitalisierunglässt sich auch dieDiagnos-
tikinmedizinischunterversorgtenländli-
chen Gebietenverbessern.
Durch die Digitalisierung verringert sich
außerdem die Translations-Barriere. Zurzeit
ist es zwar möglich, aktuelle Erkenntnisse
über die Funktionsweise des Gehirns und
die Ausbreitungsmuster der Alzheimer-
Erkrankung in neue kognitive Tests zu
übersetzen – die Güte dieser Tests an einer
großen Zahl von Menschen vis-a-vis zu
überprüfen ist allerdings sehr mühsam und
kann Jahre in Anspruch nehmen. Digitale
Hilfsmittel und Apps erla uben es nun, dass
neue Testverfahren in kurzer Zeit sehr viele
Menschen alltagsnah erreichen.
DochdigitaleAnwendungen können noch
mehr.Sostellen digi tale Kommunikations-
mittel direkte Informationskanäle zu den
Bürgerndar.Darüberhinauskönnenneue,
digi tale Interaktionssyste medenEinfluss
vonUmstellun gendes Lebensstilsauf die
Gehirnleistungunmittelbar veranschauli-
chen.Ein weitererVorteil: Durchinnovative
Projekte können Mitbürgermittels mobile r
Apps dazu beitragen, dieForschung voran-
zutreiben. Bürgerforschungsprojekte helfen
auchdabei,Barrierenzuidentifizieren,die
gesundheitspolitischeMaßnahmenhinsicht-
lich Lebensstilveränderungen behindern. Der
Datenschutzmussdabei allerdings absolute
Prioritäthaben,umsicherzustellen,dassBür-
gervor Datenmissbrauch geschütztsind.
Therapie, bevor sich klinische
Symptome zeigen
Die vorklinische Behandlung von Alzheimer
ist ein zentrales Anliegen der Forschung,
da in dieser Phase irreversible Schäden im
Gehirn noch relativ gering sind. Das Prinzip
der „Disease Interception“, also dem Prinzip,
Krankheiten zu erkennen und aufzuhalten,
bevor sie ausbrechen, lässt sich aber auch
auf andere medizinische Bereiche übertra-
gen – beispielsweise auf die Onkologie. Der
Monitor Versorgungsforschung hat dazu ein
Buch mit dem Titel „Disease Interception“
(www.monitor-versorgungsforschung.de/DI)
herausgebracht.
Eine kausale, vorklinische Behandlung
der Alzheimer-Erkrankung wird allerdings
unsere Versorgungsstruktu ren vor neue
Herausforderungen stellen. Der zu erwar-
tende hohe Preis und das Nebenwirkungs-
potent ial dieser Therapien erfordert eine
personalisierte Indikationsstellung anhand
kognitiver Profile. Diese Personalisierung
kann ermöglichen, dass Therapien nur
dann eingesetzt werden, wenn die subtilen
Gedächtnisprobleme in Verlaufsuntersu-
chungen fortschreiten. Engmaschiges ko gni-
tives Monitoring kann zudem sicherstellen,
dass die Therapie nur dann fortgeführt wird,
wenn sie die Kognition messbar stabilisiert
und die Verschlechterung aufhält. Für die-
sen Ansatz der personalisierten Medizin
und die erfolgsbasierte Optimierung der
Langzeitbehandlung ist die Digitalisierung
der kognitiven Testung eine wesentliche
Voraussetzung.
Professor Dr. med. Emrah Düzel ist Direktor
des Instituts für Kognitive Neurologie und
Demenzforschung (IKND), Otto-von-Guericke
Universität Magdeburg und Standort-
sprecher des Deutschen Zentrums für
Neurodegenerative Erkrankungen e.V.
am Standort Magdeburg.
Alzheimer: WieDaten dieDiagnoseverbessern
Der Weg eines Patienten
durchdas Gesundheitssystem
verläuft nicht immer opti-
mal. So wissen viele nicht,
ob, wann und in welchem
Umfang siemedizinisch eHilfe
benötigen. Die Künstliche
Intelligenz kann bei dieser
Entscheidung unterstütz en.
Das spart Zeit und Kosten.
VONMARTIN HIRSCH
D
as Gesundheitssystem der Zukunft
beginnt nicht mehr in den War-
tezimmern der Krankenhäuser
oder Arztpraxen, sondern berei ts
auf dem Smartphone. Schon heute befragt
ein Großteil der Deutschen Google, bevor
sie zum Arzt gehen. Die Ergebnisse sind
allerdings meist eher beunruhigend und
viel zu unspe zifisch, so dass ein Trend in
Richtung qualifizierterer Vorinformation
über das Smartphone zu erkennen ist. Diese
Entwicklung wird vor allem von leistungs-
fähigen Anamnese- und Symptom-Checker-
Apps angetrieben und weiter an Bedeutung
gewinnen – denn Künstliche Intelligenz
(KI) macht die Smartphone-basierte Anam-
nese, quasi eine Art Vordiagnose, immer
leistungsfähiger.
Eine Brücke zwischen behandelndem
Arzt und Patient schlagen
Dadurch entstehen für das Gesundheitssys-
tem zwei neue Gestaltungsoptionen. Zum
einen die Beratung am sogenannten Point-
of-Need, also dort, von wo aus der Betroffene
gerade Hilfe erfragt. Zum anderen stellt sich
die Frage, wie im Anschluss der Prozess
zwischen dem Point-of-Need und dem Point-
of-Care, beispielsweise der Arztpraxis, aus-
sehen soll.
Diesen neuen Gestaltungsräumen wird
in Zukunft eine wichtige Rolle zukommen.
Und das nicht nur in strukturschwachen
Regionen, in denen der Weg zum Arzt weit
sein kann, sondern auch bei der Entlastung
der nicht selten chronisch überlastete n
Gesundheitssysteme. Auch innerhalb des
Gesundheitssystems verursachen medizi-
nische Umwege unnötige Kosten und Ver-
sorgungsverzögerungen, zum Beispiel der
unnötige Gang zum Facharzt oder in die Not-
fallaufnahme. Anhang von drei Szenarien
wird deutlich, wie die KI helfen wird, die
Wege von Patienten effizienter zu gestalten.
Künstliche Intelligenz kann eine
Vordi agnose stellen
Viele Menschen suchen bereits im Internet
nach ihrenBeschwerden undLösungen
dafür.DieserProzess istunstrukturiert,
medizinisch nicht zuverlässig und findet
ohne Anbindung an das Gesundheitssystem
statt. Das liegt maßgeblich daran, dass die
Algorithmen einer Suchmaschine Logiken
folgen, die nicht auf diese medizinische
Aufgabe spe zialisiert sind. Außerdem bietet
die Suche im Netz keinen wissensbasierten,
diskursiven Rückkanal, über den mittels
Rückfragen die Situation des Hilfesuchenden
fachkompetent erfasst werden könnte.
Einen Gesetzesentwurf, der die Fehl-
steuerung im deutschen Gesundheitswesen
adressieren soll, hat das Bundesministe-
rium für Gesundheit dieses Jahr vorgele gt.
Es sieht unter anderem eine strukturierte
Klassifizierung der Dringlichkeit per Telef on
vor. Dadurch solle n vor allem die Notauf-
nahmen der Kliniken entlast et werden, in
denen schätzungsweise ein großer Teil der
wartenden Patienten eigentlich von einem
niedergelassenen Arzt optimal ve rsorgt wer-
den könnten. Weiterhin ist vorgesehen, in
der Notfallaufnahme einer Klinik zusätzlich
einen zentralen Anlaufpunkt einzurichten,
an dem entschieden wird, ob der Patient eine
stationäre Behandlung benötigt oder nicht.
Auch wenn dieser Ansatz zweifelsohne
richtig ist, so scheint die Umsetzung nicht
optimal. Eine telefonische Entscheidungs-
unterstütz ung ist fehleranfällig und stellt
nach wie vor eine ressourcenintensive
Eins-zu-Eins-Situation dar. Außerdem ent-
last et der Vorschlag nicht die komplexe und
zeitintensive Arbeit der Diagnosefindung.
Darüber hinaus wird wieder ein neuer Kanal
eröffnet, der parallel zu dem von den Nut-
zern eingeschlagenen Weg der intelligenten
Apps verlä uft. Sinnvoll wäre, dass KI-Apps
ihre Vordiagnose an den Telefondienst
übermitteln, so dass der telemedizinische
Mitarbeiter gut vorinf ormiert ist und, wenn
gewünscht, mit dem Patienten die weiteren
Schrit te besprechen kann.
Besonders am Beispiel der seltenen
Erkrankungen lässt sich nachvollziehen, wie
wichtig derartige KI-basierte Vordiagnosen
in Zukunft sein werden. In aller Regel sind
Patienten mit einer solchen Erkrankung
gezwungen, Odysseen dur ch das Gesund-
heitswesen auf sich zu nehmen, bis sie den
richtigen Ansprechpartner und die richtige
Diagnose gefunden haben. Das ist nicht
nur für alle Beteiligten eine Tortur, sondern
generiert erhebliche Kosten im Gesundheits-
system. Erste Studienergebnisse legen nahe,
dass KI-ge stützte Diagnoseunterstütz ungs-
systeme hier einen enormen Mehrwert gene-
rieren können.
Entscheidungshilfe für die
bestmögliche Anlaufstelle im System
KI-basierteVordiagnose-Appswerdenzu-
sätzl ich bei der Entscheidung helfen können,
wie schnell jemand welche Hilfe benötigt.
Dadurch können sie unter anderem einen
wertvoll en Beitrag zur Entlast ung von
Notfallaufnahmen leisten. Vielleic ht wird
die KI eines Tages zum ganz selbstverständ-
lichen Standard gehören, bevor ein Patient
in den klinischen Prozess weitervermittelt
wird.
Aber auch innerhalbvon Krankenhäu-
sern sindfehlerhafteÜberstellu ngenin
Stationenund unnötigeUntersuchungs-
gängeander Tagesordnung.Sotreten
zumBeispielanWochenenden nichtnur
vermeidbareKlinikaufnahmen vermehrt
auf, sondern auchÜberweisungenvon
der Notaufnahmeindie falscheklinische
Station. Dasführtdazu, dass Ärzteam
darauffolgendenMontagmorgenunnötig
gebundenwerdenund diePatientennicht
diebenötigte Hilfeerhalten. Andiesen
fehleranfälligen„Schmerzpunkten“ inner-
klinischer Prozessewirddie KI-gestützte
Entscheidungsfindung eine wichtige Rolle
spiele n.
Derartige Szenarien verdeutlichen, wie
KI-basierte Entscheidungsunterstütz ungs-
systeme in n aher Zu kunft an verschiedenen
Punkten des Gesundheitssystems wertvoll e
Lotsendienste übernehmen können. Das
würde nicht nur den Patienten unnötige
Wege und dem Gesundheitssystem Kosten
ersparen, sondern auch Ärzten ein effizien-
teres Arbeiten ermöglichen.
Dr. Martin Hirsch ist Co-Founder und
Chief Scientific Officer der Ada Health GmbH
in Berlin.