Süddeutsche Zeitung - 07.11.2019

(nextflipdebug5) #1
Midway – Für die Freiheit
fritz göttler:Es fängt an, wie man
es von Roland Emmerich erwartet,
spektakulär, katastrophisch. Verursa-
cher diesmal die Japaner, mit der histori-
schen Attacke auf Pearl Harbor am 7. De-
zember 1941. Im halben Jahr darauf
kommen dann die US-Streitkräfte zum
Zug, mit jeder Menge Flugzeugträgern,
U-Booten und Kampfpiloten. Und mar-
kanten Leitoffizieren, verkörpert von
Woody Harrelson, Patrick Wilson oder
Aaron Eckhart. Der Wendepunkt im Pazi-
fikkrieg, nicht zuletzt dank der kühnen
Arbeit der militärischen Geheimdienst-
ler (siehe Feuilleton vom Mittwoch).

Nur die Füße tun mir leid
cornelius dieckmann:Den Jakobs-
weg zu beschreiten und ohne Crew ne-
benbei einen Kinofilm zu drehen, muss
unendlich mühsam sein. Deshalb ist es
ein Rätsel, warumGabi RöhrlsFilm
irgendwie, na ja, gemütlich ist. Abge-
sehen von Nahaufnahmen geplatzter
Fußblasen könnte die Doku auch der
Imagefilm eines Reiseveranstalters sein.
Ländliche Panoramen zu Bombastmu-
sik, in den Städten laden ständig „köstli-
che Delikatessen ein“. Das kathartische
Ende soll das Publikum beseelen – die
vielen Restauranttester-Phrasen wirken
da eher hemmend.

The Report
philipp bovermann:Was macht man
mit einem siebentausend Seiten langen
Bericht über Foltermethoden der CIA
nach dem 11. September? Dasselbe wie
mit anderen Büchern, von denen man
will, dass jemand sie liest: Verfilmen –
und dann die Hauptrolle mit Adam Driver
besetzen. Als Analytiker im Dienst einer
US-Senatorin wühlt er sich durch Berge
von Akten, gegen erheblichen politischen
Widerstand.Scott Z. Burnsboulevardi-
siert das Thema weder mit Verfolgungs-
jagden in dunklen Gassen noch mit Ehe-
problemen wegen der vielen wichtigen Ar-
beit; der Film besteht fast nur aus Wortge-
fechten in Washingtoner Büros, durch die
man Inhalte und Hintergründe des real
existierenden Berichts erfährt. Der Film
beruht also auf Fakten und enthüllt sie zu-
gleich. Ein als Spielfilm getarnter Doku-
mentarfilm. Ein trojanischer Thriller.

Die Sinfonie der Ungewissheit
sofia glasl:Den ganz großen Fragen
stellt sich dieser komplexe und persönli-
che Dokumentaressay vonClaudia Leh-
mannin einer einfachen Versuchsanord-
nung. Ihr Doktorvater, der theoretische
Physiker Gerhard Mack, erörtert mit
Künstlern und Wissenschaftlern assozia-
tiv-dialogisch Wahrheitsgehalt und Sinn
des Lebens. Auch wenn dabei nicht im-
mer Erkenntnis entsteht, wird deutlich,
dass Kunst und Wissenschaft einander
Denkanstöße geben können, wenn sie
dem Gegenüber nur gut genug zuhören.

Unsere Lehrerin, die Weihnachtshexe
ana maria michel:In Italien bringt
dem Volksglauben nach die Hexe Befana
den Kindern zu Weihnachten die Ge-
schenke. Seit 500 Jahren macht sie das
schon, allerdings ist sie nur nachts zu er-
kennen, am Tag arbeitet sie beiMichele
Soaviganz ohne Hexennase als Lehre-
rin. Doch dann wird die Weihnachtshexe
entführt, ihre Schüler wollen sie retten.
Eine missliche Lage folgt dabei der
nächsten, was den Film etwas langatmig
macht. Interessant ist der Einblick in ei-
ne Tradition abseits von Christkind und
Weihnachtsmann dennoch.

Das Wunder von Marseille
philipp stadelmaier:Basiert auf ei-
ner wahren Geschichte: Schachgenie
Fahim (Assad Ahmed) flüchtet von Ban-
gladesch nach Frankreich, wo er einen
Großmeister trifft (Gérard Depardieu),
der ihn unter seine Fittiche nimmt.
Pierre François Martin-Laval blickt
desillusioniert auf das „Land der Men-
schenrechte“ und solidarisch auf die Mi-
granten. Depardieu ist auch in Form. Er-
staunlich, da er hier grad mal ein halbes
Sandwich vertilgt.

Zombieland – Doppelt hält besser
tobias kniebe:Die letzten Menschen
in einer Welt voller Zombies können
auch Spaß haben – diese Idee bauenRu-
ben Fleischerund Co. hier weiter sehr
lustig aus. Die zusammengewürfelte
Ersatzfamilie um Woody Harrelson, Jes-
se Eisenberg und Emma Stone haust
eine Weile im verlassenen Weißen Haus,
findet andere Überlebende in einem
Elvis-Museum und in einer Pazifisten-
kommune. Wichtiger als äußere Gefah-
ren durch immer zähere Zombies sind
die Gefühle und Konflikte in der Gruppe,
etwa als eine unkaputtbar fröhliche
Instagram-Tussi (herrlich: Zoe Deutch)
zu den anderen stößt.

von fritz göttler

B


ei uns Rumänen, erklärt der junge
Mann seinem Zellengenossen, bre-
chen die Knochen leicht: „Kalzium-
mangel! Wir trinken nicht ordentlich
Milch. Bei den Amerikanern geht das nicht
so leicht. Sie haben Milch und Orangen-
saft, jeden Morgen.“ Es ist 1983, die letzten
Jahre vor dem Ende der langen Diktatur
Ceaușescus. Der junge Mann, Vali (Iulian
Postelnicu), wurde vom Gefängnisdirektor
instrumentiert, dem anderen Mann (Ale-
xandru Papadopol, der auch in Maren
Ades „Toni Erdmann“ mitspielte) Informa-
tionen zu entlocken über dessen Familie
und Bekannte. Vali kennt alle Tricks, das
Überreden und Schikanieren und Drohen,
und auch Gewalt, heftig ausbrechend.
Eben hat er dem anderen Mann eine Rippe
gebrochen. Am Ende wird dieser zum wil-
lenlosen, wimmernden Stück Fleisch.
„Arest (Der Arrest)“, 2019, von Andrei
Cohn ist mit seinen zwei Stunden quälen-
den Psychoterrors das härteste Stück des
diesjährigen Rumänischen Filmfestivals
im Filmmuseum. Ein persönlicher Film,
sagt der Regisseur, er soll die Verantwor-
tung eines jeden einzelnen im totalitären
Alltag erforschen. „1989 war ich ein rebelli-
scher Teenager, ich hörte Rockmusik und
nahm all den Missbrauch des Regimes hin,
ohne die geringste Reaktion ... In diesen
Jahren kreuzten sich die Wege der Furcht-
samen mit denen der Schurken. Es ist wich-

tig, dass wir unseren eigenen Part in der
Geschichte zugeben.“ Der auch bestimmt
wird durch die Schräglage der Klassen,
Vali ist ein Underdog, voller Frust und Hass
auf das Bürgertum.
Das Festival startet an diesem Donners-
tag eher traditionell, mit „Moromeţii 2 (Die
Familie Moromete – Am Rand der Zeit“,
2018, von Stere Gulea, nach dem Roman
von Marin Preda. Der erste Teil von 1987
hatte die Geschichte von Ilie Moromete in
Vorkriegszeit und Faschismus gezeigt,
nun ist Ilie alt geworden und muss sich mit
den Bürokraten des sozialistischen Re-
gimes rumschlagen. Sein Sohn will studie-
ren, er liest viel, angestrengt und konzen-
triert. Ilie will sich nicht fügen, am Ende
legt er sich auf sein Bett, und die Kamera
steigt in die Höhe, bis das Häuschen aus-
schaut wie ein hölzerner Sarkophag.
Das rumänische Kino ist in den letzten
Jahren einer der großen magischen Teile
des modernen Weltkinos geworden, durch
Filmemacher wie Cristian Mungiu, Cristi
Puiu, Anca Damian, die auf allen internatio-
nalen Festivals ihre Filme zeigen konnten.
Eine beharrliche Kontemplation und Verzö-
gerung macht den Rhythmus dieser Filme
aus, die konsequente Weise, wie sie Raum
und Zeit behandeln: Lange Einstellungen,
Leute, die mit nimmermüder Ernsthaftig-
keit eher unbedeutende Fragen diskutie-
ren, in kleinen Apartments, die mit bürger-
lichem Anspruch vollgestopft sind. Der
postsozialistische Mittelstand, auf der Su-

che nach Stabilität, die ihn direkt in die Sta-
gnation führt. Das Dilemma, das Trauma
der Wendezeit, in deren Gegenwart der
Geist des Regimes weiter gespeichert ist.
Bürgerliche Geschlossenheit, die immer et-
was Kerkerhaftes hat. „Arrest“ hat, durch
seine Beschränkung auf den Raum der Zel-
le, mit seiner fiesen Grausamkeit etwas
von einer Parodie auf den Rumänenfilm.

Das gilt auch für „Dragoste 1. Câine/Lie-
be 1. Hund“, 2018, von Florin Şerban, da fin-
det ein Förster eine vergewaltigte Frau in
den unberührbaren Wäldern, er holt sie in
seine Hütte, will herausfinden, was sie er-
lebt hat. Er warnt sie vor seinem Hund,
kauft ihr ein Paar Seidenstrümpfe. Die Frei-
heit der Natur wird zerstört durch die sozia-
len Phantasmen – dass ein Mann sich sor-
gen muss um eine Frau. Sie rächen muss
für das, was ihr angetan wurde.
Die Freiheit der Frauen beschwört „Ali-
ce T.“, 2018, von Radu Muntean. Andra Isa-
bela Guti ist Alice, 16 Jahre, mit Haaren so
feuerrot wie die von Franka Potente als Lo-
la. Ein rebellischer Teenager, sie merkt,
dass sie schwanger ist, das führt zu einem
heftigen Streit mit der Mutter, die ist allein-
erziehend, hat Alice adoptiert, weil sie
selbst keine Kinder kriegen kann.

Noch ein Mann, der meint, Verantwor-
tung übernehmen zu müssen für eine Frau


  • der investigative Journalist Ivan in
    „Moon Hotel Kabul“, 2018, von Anca Dami-
    an. Er hat sie in Kabul gelassen, als er von
    einer Recherche nach Bukarest zurück-
    kehrt, die Übersetzerin Ioana. Die letzte
    Nacht in Kabul schliefen sie noch zusam-
    men, da steckte sie ihm heimlich einen
    USB-Stick zu mit Informationen zu finste-
    ren Deals. Als Ivan weg ist, schnitt sie sich
    die Pulsadern auf, angeblich. Er bringt
    ihren Leichnam in ihr Dorf, auf der Fahrt
    hat er Visionen, und die tote junge Frau im
    Sarg gewinnt eine magische Präsenz. Anca
    Damian hat als Kamerafrau begonnen und
    dann selber Filme gedreht, Animation und
    Dokumentation, gemixt, ihre Filme waren
    mehrfach in München zu sehen.
    Noch ein Film geht über die Grenzen des
    Landes hinaus, „La Gomera – Fluierătorii/
    The Whistlers“, 2019, von Corneliu Porum-
    boiu, der dieses Frühjahr in Cannes im
    Wettbewerb lief und ein bisschen erinnert
    an den „Laundromat“ von Steven Soder-
    bergh. Ein korrupter Cop kommt aus Buka-
    rest auf die Kanareninsel, um die berühm-
    te Pfeifsprache zu lernen, den Silbo Gome-
    ro. Auf seinen Spuren führt uns der Film
    direkt ins Labyrinth desfilm noir, von „Gil-
    da“ bis „Notorious“. Ein vertracktes, uner-
    gründliches Erzählen nach alter Tradition

  • auf die sich auch der fiese Vali in „Arrest“
    beruft, wenn er von „diesem Burschen na-
    mens Scheherazade“ spricht.


Vor knapp einem Jahr schockierte der chi-
nesische Forscher He Jiankui die Welt, als
er die Geburt der ersten genveränderten
Menschen verkündete. Die Zwillinge Nana
und Lulu sind durch die Manipulation ih-
res Erbguts angeblich immun gegen den
Aids-Erreger.
Möglich wurde das mit Hilfe der soge-
nannten Genschere Crispr-Cas9, mit dem
sich fast jede Form organischen Lebens re-
lativ einfach und relativ gezielt manipulie-
ren lässt. Viele Menschen nahmen damit
schockiert eine Technik zur Kenntnis, die
wie Science Fiction anmutet, aber längst
Realität ist – und die Welt womöglich stär-
ker verändern wird als die Erfindung des
Internets. Die Genschere „schneidet“ vor-
handene Erbgutabschnitte aus, um sie
durch andere, zuvor programmierte Erb-
gutinformationen zu ersetzen. Crispr steht
für „Clustered Regularly Interspaced
Short Palindromic Repeats“, was deutlich
macht, wie kompliziert die Materie ist.
Kaum ein Laie versteht, wie die Genschere
genau funktioniert.
Adam Bolts Dokumentarfilm will das än-
dern und schafft es tatsächlich mit Hilfe
von Animationsfilmen und Erläuterungen
von Wissenschaftlern, das komplizierte
Verfahren anschaulich zu erklären. „Hu-
man Nature“ schildert, wie es zur der Ent-
deckung von Crispr kam, sehr mitreißend,
die beteiligten Wissenschaftler staunen
selbst darüber. Schön ihre Vergleiche: So
gehen etwa „Proteine mit Fahndungsbil-
dern auf Streife“, und Crispr wird als eine
Art „Textverarbeitungsprogramm für die
DNA“ beschrieben. Wer hätte gedacht,
dass Biochemie so spannend sein kann!

Die Reise in die Geschichte der Gentech-
nik beginnt im Schwarz-Weiß-Zeitalter,
1966 mit einem Vortrag des Biologen Ro-
bert Sinsheimer, der seine Zuhörer als „fel-
low prophets“, als Mit-Propheten, an-
spricht und voraussagt, dass der Mensch,
seine eigenen Gene einmal gezielt wird ver-
ändern können. „Das kann Großes bewir-
ken, aber auch in der Katastrophe enden“,
so Sinsheimer.
Gut 50 Jahre später kamen Nana und Lu-
lu zur Welt, ein – noch illegaler, weltweit ge-
ächteter – Menschenversuch. Dennoch,
Ärzte hoffen darauf, dass schwere Erb-
krankheiten wie Chorea Huntington ein-
mal ganz verschwinden werden. Genmani-
pulierte Schweine könnten Spenderorgane
liefern, die vom menschlichen Immunsys-
tem nicht abgestoßen werden. Durch den

Klimawandel gefährdete Spezies könnten
hitzeresistenter sein, ausgestorbene Arten
wieder auferstehen.
Schöne neue Gentechnik-Welt also?
Oder ein Albtraum, weil Eltern sich ihr
Wunsch-Baby designen, blond, blauäugig
und mit Super-IQ? Weil Soldaten gezüch-
tet werden, die keine Angst und keinen
Schmerz empfinden? Und weil dies alles
Großkonzerne vermarkten, die kaum ei-
ner staatlichen Kontrolle unterliegen?
Adam Bolt tut viel dafür, seine Zuschau-
er aufzurütteln, ihnen die Bedeutung des
Themas nahezubringen. Im Gegensatz zu
vielen anderen Natur- und Umwelt-Do-
kus, in denen der Regisseur als Mahner auf-
tritt, seine Position klar ist und im Film nur
noch illustriert wird, überlässt es Bolt aller-
dings dem Zuschauer, aus den vielen, akri-

bisch recherchierten Fakten seine Schlüs-
se zu ziehen. Wann ist Gentechnik ein Se-
gen? Wo soll man die Grenze ziehen?
Was wohl David zu dem Thema
sagt? Er ist ein kalifornischer Jugendli-
cher, der leidenschaftlich gern Basketball
spielt, obwohl er bei jedem Spiel damit
rechnen muss, sich vor Schmerzen zu
krümmen. David hat eine Sichelzellen-
anämie, ein Gendefekt, seine roten Blutkör-
perchen transportieren zu wenig Sauer-
stoff. Alle paar Wochen muss David ins
Krankenhaus zum Blutaustausch, „Öl-
wechsel“ nennt er das. Sichelzellenanämie
wäre durch Crispr womöglich heilbar.
Aber, sagt David im Film: „Ohne die Krank-
heit wäre ich ja nicht, was ich bin.“
Die Molekularbiologin Jennifer Doud-
na, die Crispr mitentwickelte, erzählt von
einem Albtraum, der sie immer wieder
plagte, in dem ihr Adolf Hitler gegenüber
tritt, der alles über Cas9 wissen will. So be-
geisternd die Forscher über Crispr referie-
ren (einer kennt ein hinreißendes Haiku
über Sequenzhomologie!), so groß sind ih-
re Skrupel, vor allem gegenüber Keim-
bahn-Editierungen.
Die Entwicklungen im Bereich der Gen-
technik sind rasant; die Öffentlichkeit und
vor allem auch der Gesetzgeber kommen
kaum hinterher. Um so wichtiger ist es mit-
zureden. „Human Nature“ ist dafür eine gu-
te Basis. martina knoben

Human Nature, USA 2019 – Regie: Adam Bolt.
Buch: A. Bolt, Regina Sobel. Kamera: Derek Reich.
Schnitt:Regina Sobel, Steve Tyler. Verleih: Mind-
jazz, 91 Minuten.

Das „Moviemento“ im Eckhaus Kottbus-
ser Damm22 in Berlin ist nicht irgendein
Kino. 1907 eröffnet, gilt es als das älteste
Lichtspielhaus Deutschlands, zieht aber
bis heute Künstler besonders an. Blixa Bar-
geld stand mal an der Kasse, Tom Tykwer
war Filmvorführer und Programmleiter,
im Foyer wurde die Firma X-Filme gegrün-
det. Jetzt werden die Räume verkauft, das
könnte das Aus bedeuten, wenn die Betrei-
ber nicht selbst den Preis aufbringen. Eine
Crowdfunding-Kampagne unter Start-
next.com/moviemento soll das Wunder
möglich machen. sz

Die Starts ab 7. November auf einen
Blick, bewertet von den SZ-Kritikern.
Rezensionen ausgewählter Filme folgen.


2040 – Wir retten die Welt
sandra lohse:In dieser Dokumentati-
on willDamon Gameauneue Geschich-
ten über den Klimawandel erzählen –
von erneuerbaren Energien bis zu alter-
nativen Verkehrsmitteln über regenerati-
ve Landwirtschaft. Er übernimmt dabei
die Rolle eines coolen Lehrers, der ver-
sucht, was alle coolen Lehrer versuchen:
Bildung mit Spaß zu verbinden. Die
Exkursionen zu Bauern, Fischern und
Dörfern wirken erfrischend, statt die
übliche Weltuntergangsstimmung zu
verbreiten. Das Problem der Weltret-
tungsstimmung ist aber wohl die Eupho-
rie – jedes der Themen könnte eine eige-
ne Dokumentation füllen.


Es hätte schlimmer kommen können
fritz göttler:Dreimal durchdrehen
musste schon sein, damit es komisch
wurde. Das hatte Helmut Dietl verlangt,
als Mario Adorf betrunken durch die
Drehtür in die Lobby des Bayerischen
Hofs hineintorkelte in der Serie „Kir Roy-
al“. Adorf erzählt das, wieder einmal, in
dem Film, denDominik Wesselymit
ihm schuf. Es ist alles drin: die Nächte
der nähenden Mutter, die Falckenberg-
schule in München, Kortner und Schwei-
kart, der schurkische Santer, harte Kri-
mirollen, die ihn fast zum italienischen
Charles Bronson gemacht hätten, die Ma-
fia, Siodmak, Peckinpah, Fassbinder,
Schlöndorff /von Trotta ... Und: Adorfs
Verlangen, im Kunstwerk immer auch
die Spuren seiner Entstehung sichtbar
werden zu lassen, seine Bewunderung
für die Rückseite von Michelangelo.


Happy Ending
sofia glasl:Wem sechs Staffeln „Sex
and the City“ nicht genug waren, der ist
hier genau richtig. Die Rentnerpaare in
der dänischen Sexkomödie haben ähnli-
che Beziehungsprobleme wie Carrie und
Co. Das ist liebenswürdig, weil hier ein-
mal keine knackigen Mittzwanziger her-
umtollen, sondern Senioren. Selten ge-
nug im Kino, aber dennoch recht vorher-
sehbar, weil die Beziehungen nach sehr
altbackenen Mustern gestrickt sind.


Human Nature
(Siehe Kritik unten.)


Im Niemandsland
anna steinbauer:InFlorian Aig-
nerscharmanter Romeo-und-Julia-Sto-
ry verlieben sich ein Mädchen aus West-
Berlin und ein Junge aus Ost-Berlin im
Sommer 1990 ineinander, während sich
ihre Eltern einen erbitterten Kampf um
ein zu DDR-Zeiten enteignetes Haus lie-
fern. Die Mauer ist zwar gefallen, aber
die Kluft zwischen Ost und West, Alt und
Jung, Siegern und Verlierern könnte
nicht größer sein. Das Berliner Liebes-
drama erzählt sympathisch selbstiro-
nisch von Vorurteilen, verletzten Gefüh-
len und dunklen Geheimnissen. Nur im
Niemandsland kann zusammenwach-
sen, was zusammengehört.


Khello-Brüder
magdalena pulz:Die Dokumentati-
on zeigt das Schicksal zweier syrischer
Brüder: Tarek und Zakwan Khello verlie-
ßen ihre Heimat Aleppo – der eine, um
nicht aufgrund seines Berufs getötet zu
werden, der andere, um nicht als Soldat
töten zu müssen. Der eine migrierte le-
gal nach Deutschland, der andere reiste
Jahre später illegal ein. Im Film reflektie-
ren beide über den Krieg, die Flucht und
Deutschland. Tarek, von Beruf Journa-
list, berichtet pragmatisch über politi-
sche Zusammenhänge, Zakwan, Künst-
ler, erzählt emotional: von Verlust und
Rettung seiner Werke und wie die Far-
ben nach der Flucht auf seine Leinwände
zurückkehrten. Das hat ein paar Längen,
ist aber ein warmes und aufrichtiges Por-
trät, gezeichnet von der 21-jährigen Re-
gisseurinHille Norden.


Lara
anke sterneborg:Gleich in der ers-
ten Szene schickt sich die Titelheldin an,
aus dem Fenster zu springen. Filme, die
so beginnen, sind meistens Komödien
über den verzwickten Weg zurück ins Le-
ben. InJan-Ole Gersterszweitem Film
nach seinem Überraschungsdebüt „Oh
Boy“ ist es das Psychogramm einer ver-
bitterten Frau, die ihr Leben am Traum
vorbeigelebt hat, was sehr traurig ist,
aber auch mit feinem Humor durch-
setzt. Hier eine kleine Bemerkung, dort
ein missbilligender Blick, so bringt Lara
Welten zum Einsturz, da Corinna Har-
fouch diese Frau mit unnachgiebiger
Härte, aber auch mit herzzerreißender
Verletzlichkeit ausstattet. Man kommt
ihr nahe, obwohl sie einen wegstößt.


Der letzte Bulle
(Film wurde vorab nicht gezeigt.)


Marianne & Leonard: Words of Love
annett scheffel:Nick Broomfield
entwirft in seinem Dokumentarfilm die
Geschichte der komplizierten, jahrzehn-
telangen Liebesbeziehung zwischen Leo-
nard Cohen und der Norwegerin Marian-
ne Ihlen, die sich 1960 auf der griechi-
schen Insel Hydra kennenlernen. Zwi-
schendurch entfernt sich der Film zu
weit von seiner enigmatischen weibli-
chen Hauptfigur, um die alte Erzählung
vom genialen Poeten und seiner Muse zu
bemühen und Cohens Karriere und Dro-
genexzesse abzuschreiten. Die vielen un-
veröffentlichten Archivaufnahmen ver-
leihen dem Doppelporträt aber eine be-
rührende Zärtlichkeit, die über die gängi-
ge Musikerdoku hinausweist.


Ein Wesensmerkmal des
rumänischen Kinos ist sein Hang
zur beharrlichen Kontemplation

Biochemie als Krimi


Wie sich das menschliche Erbgut per Genschere verändern lässt: der Dokumentarfilm „Human Nature“


Retter gesucht


Berliner „Moviemento“-Kino
kämpft ums Überleben

Am Rand der Zeit


Expeditionen in eine magische Kinowelt – das „Rumänische Filmfestival“ im Münchner


Filmmuseum führt bis nach Kabul, La Gomera und in den Film Noir


Poesie der Biologie: Animationen zeigen, wie die Genschere funktioniert. F.: MINDJAZZ

NEUE FILME (1) NEUE FILME (2)


(^10) FILM Donnerstag, 7. November 2019, Nr. 257 DEFGH
Mit ihren flammendroten Haaren lockt Andra Isabela Guti ins „Rumänischen Filmfestival“, sie spielt in „Alice T.“ von Radu Muntean. FOTO:VERLEIH

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