Süddeutsche Zeitung - 07.11.2019

(nextflipdebug5) #1
von christine dössel

V


on Anfang an muss man bei dieser
„Nora“ an „Lulu“ denken, diese ganz
andere emblematische Titelheldin
eines Skandaldramas aus dem späten 19.,
frühen 20. Jahrhundert. Schon der sündig
rot gerahmte Bühnenkasten im Nürnber-
ger Schauspielhaus verheißt mehr ein ero-
tisches denn ein klassisch bürgerliches Mi-
lieu, also eher Frank Wedekind als Henrik
Ibsen. Gibt die strahlend weiße Bühne
dann den Blick auf die Rückwand frei,
wähnt man sich endgültig im Edelbordell.
Überlebensgroß, sechs Meter breit und
hochglanzschön prangt da ein liegender
Akt: ein Bild der nackten Hauptdarstelle-
rin, Rückansicht, sehr ästhetisch fotogra-
fiert, ihren perfekten Körper formvollen-
det in Szene setzend. Eine wandfüllende
Männerfantasie. Auch für Frauen ein Kör-
peridealbild – und daher vielen sicherlich
Anlass für ein zerknirschtes Body Sha-
ming, so schamlos plakativ und lasziv, wie
hier Weiblichkeit im Lolita- und Model-
maß inszeniert wird. Hallo, das geht heute
gar nicht mehr!
Das wissen auch Andreas Kriegenburg
und seine Protagonistin, weshalb sie die-
ses No-Go gleich mal zum Thema machen
und das Aktbild problematisieren. Da
steht dann also die leibhaftige Nora, ge-
spielt von der jungen Pauline Kästner, vor
ihrem überdimensionalen Akt, fährt mit
dem Finger tippelnd die Rundungen nach,
trällert kindisch und ätzt: „Ich hasse dieses
Bild!“ Ihre Idee sei das nicht gewesen, aber
ihr Mann Torvald habe es unbedingt in der
Wohnung aufhängen wollen, der finde es
sexy, sie selber finde es „ein bisschen sexis-
tisch“. Voilà, so nimmt man seinen Kriti-
kern schon mal den ersten Windstoß aus
den Segeln.


Aber damit nicht genug. Pauline Kästner
adressiert im Folgenden nicht nur in ihrer
Rolle, sondern auch als Schauspielerin Pau-
line Kästner immer wieder das Publikum.
So sagt sie zum Beispiel, dass sie „als Frau
und Feministin“ die Rolle der Nora ableh-
ne, weil das Stück überkommene Macht-
und Beziehungsstrukturen reproduziere.
Und sie macht sich im großspurigen Stand-
up-Comedian-Ton über den ollen Henrik
Ibsen lustig, der sich vor mehr als hundert
Jahren hinsetzte und sagte: „Boah, jetzt
schreib’ ich mal so richtig radikal über eine
Frau. Wie die sich aufführt und dann selbst
befreit ...“ Boah, da kriegt der angebliche
Frauenversteher Ibsen aber mal so richtig
sein Fett weg. Von einer Nora-Darstellerin,
die als Schauspielerin zugeben muss: „Ist
aber wirklich eine tolle Rolle!“
Und so stürzt sich die aufregende Pauli-
ne Kästner mit Haut und Haar und heißem
Furor in die solcherart diskursiv abgefeder-
te Traumrolle und gibt auf (pseudo-)femi-
nistischer Behauptungsgrundlage die No-
ra als reflektiertes Luxus-„Vögelchen“.
Und ist aber unverkennbar auch eine Lulu



  • in roten Fummeln von Kopf bis Fuß auf
    Verführung, Spiel, Lustgewinn eingestellt
    (Kostüme: Andrea Schraad). Mit ihrem Kör-
    per als Kapital und einem blonden Kinds-
    kopf für den überdrehten Spaß. Was man
    als kritische Zuschauerin zunächst skep-
    tisch beäugt, weil es so wohlfeil ist, wenn
    ein Regisseur einen politisch korrekten Dis-
    kursrahmen auf der Höhe des Zeitgeistes
    setzt (wie ein Feigenblatt auf den Akt), um


darin dann doch das ewig lockende Weib
zu zelebrieren.
Es dominiert in Kriegenburgs Inszenie-
rung der männliche Blick auf die (schöne)
Frau, die nackte Venus, da kann die Prot-
agonistin noch so oft aus ihrer Rolle heraus-
treten und diese – und sich selbst – kri-
tisch hinterfragen. Sie tut es merklich un-

ter seiner Regie. Das bleibt als diffuses Un-
behagen, auch wenn das Konzept (Drama-
turgie: Andrea Vilter) insgesamt aufgeht
und einen großen Unterhaltungswert hat.
Diese „Nora“ ist auch deshalb überzeu-
gend, weil da in Nürnberg wirklich gute
Schauspieler zu erleben sind und weil Krie-
genburg, der prominente Gastregisseur,

jedem und jeder in seiner, ihrer Rolle – und
Rollenzuschreibung – genügend Zeit und
Aufmerksamkeit schenkt. Dadurch ent-
steht Interesse an den Figuren, auch an
den männlichen, keine gerät zur Karika-
tur.
Torvald Helmer führt mit seiner Frau ei-
ne Beziehung auf ironisch-komödianti-

scher Augenhöhe. Maximilian Pulst spielt
ihn nicht als langweiligen Klischeebanker
und Karrieretypen, sondern frisch, sensi-
bel, geistreich. Es klingt bei ihm an, dass
auch er als Mann und Familienernährer
ein Rollenstereotyp zu erfüllen und sein
Päckchen zu tragen hat. Torvald und Nora
haben sich in ihrer Ehe eingerichtet wie in
einem Spiel: Einer übertreffe des anderen
Witz. Sie sind gut darin. „Nicht glücklich,
nein, nur lustig“, wie sie am Ende erkennen
müssen.
Ihr Dialog-Pingpong, mit vielen gelunge-
nen Extempores, zielt auf Pointe und
Schönwetter. Immer alles im Ton der Unei-
gentlichkeit. Zwei Menschen drücken sich
vor Ehrlichkeit, indem sie Theater spielen.
Es ist ein Kasperletheater, schrille Auftrit-
te, schneller Schlagabtausch. Auch die von
Kriegenburg selbst gestaltete Bühne beför-
dert diese Assoziation, der hohe Aufbau,
der schmale Spielflächenriegel, das fehlen-
de Mobiliar. Ibsens „Puppenheim“ als mo-
derne Versuchsanordnung auf einer leeren
Veranschaulichungsbühne. Alles hell, ge-
lackt, ausgestellt. Es ist auch eine „No-
ra“-Galerie.

Neben dem sterblich in Nora verliebten
Doktor Rank, einem dickbäuchig-milden
Freund des Hauses (Raphael Rubino), gibt
es zwei Figuren von außen, die als Katalysa-
tor wirken. Das ist zum einen die ernüchter-
te Kristine Linde (schön bei sich und wis-
send, was sie will: Julia Bartolome), die, ver-
witwet und mittellos, nach Jahren wieder
auftaucht und beim quirligen Frauenge-
plänkel mit Nora „Räume öffnet“, buch-
stäblich auch den Bühnenraum.
Der andere Krisenverstärker ist der Ju-
rist Nils Krogstadt, der „kleinste Wicht“ in
Torvalds Bank, bei dem Nora blöderweise
verschuldet ist. Sie hat dereinst mit der ge-
fälschten Unterschrift ihres Vaters Geld bei
Krogstadt geliehen, um ihrem damals
kranken, noch nicht erfolgreichen Mann ei-
ne Kur zu ermöglichen. Was Torvald nicht
weiß und der verbitterte Krogstadt sich er-
presserisch zunutze macht.
Dass Tjark Bernau diesen Loser nicht als
fiesen Unsympathen und sexuellen Beute-
greifer zeigt, sondern ihm ein eigenes
Schicksal und Mitgefühl erspielt, zählt zu
den Stärken dieser menschelnden,
menschlichen und auch tänzelnden Insze-
nierung. Dass – und wie – der einsame
Krogstadt und die einsame Kristine Linde
sich dann zweckgemeinschaftlich zusam-
mentun, ist ebenfalls schön. Wer behaup-
tet, dass Liebe immer romantisch, geil und
groß sein muss?
Bei Nora und Torvald, diesen fröhlichen
Ehe-Posern, geht es nicht gut. Nach einem
Kostümfest, auf das sie als Charlie Chaplin
ging und er als Marilyn, kommt es zur fina-
len Demaskierung, dem Ende aller Spiel-
chen. Die Schlussszene, in der die zwei
zum ersten Mal ernsthaft miteinander re-
den, ist so partnerschaftlich traurig, bitter
und ratlos, dass sie einem nahegeht. Sie er-
klärt im Nachhinein so manche Exaltiert-
heit. Dass die vormals so kokette, nichts in
dieser Hinsicht andeutende Nora tatsäch-
lich Mann und Kinder verlässt (nun im
schwarzen Mantel), muss man allerdings
glauben wollen. Zumal sie am Ende noch
einmal Pauline ins Spiel bringt, ihre so reiz-
volle Schauspielerin, welche sie mit dem
Satz zitiert: „Wir alle sind eingesperrt in un-
seren Rollen.“ Tosender Applaus.

Im Jahre 1968 widmete die soeben als Mu-
seum wiedereröffnete Villa Stuck eine Jo-
sef Albers eine Ausstellung. Albers lobte zu
diesem Anlass Franz von Stucks Farbauf-
fassung – die Idee, dass helle Farben in den
Hintergrund und warme in den Vorder-
grund träten. Er habe dies in vielen seiner
eigenen Farbstudien bestätigt gefunden,
sagte Albers. Es war die späte Würdigung
eines Lehrers, dessen ganze Herangehens-
weise Albers während seiner Zeit als Zei-
chenstudent an der Münchner Kunstaka-
demie von 1919 bis 1920 als das exakte Ge-
genteil dessen empfunden hatte, was er
selbst als Maler anstrebte. In dieser krisen-
haften Situation, in der er sich „wie eine Sai-
te“ empfand, die „gespannt zum Sprin-
gen“ war, fiel ihm durch Zufall das Grün-
dungsmanifest des Bauhauses in die Hän-
de. Was er las, war für ihn die Chance, all
den „alten Krempel“ hinter sich zu lassen,
und sich zum Wintersemester 1921 in Wei-
mar einzuschreiben.
Heute ist Josef Albers vor allem für seine
„Hommagen an das Quadrat“ berühmt, er
gilt als wichtiger Vorläufer der Minimal Art
und Op Art. Als Lehrer am Black Mountain
College in North Carolina hatten seine Ma-
terial- und Farbenlehre unter anderem gro-
ßen Einfluss auf den jungen Robert Rau-
schenberg. Ebenso wenig, wie sich ein of-
fensichtlicher Bogen von Franz von Stuck
zu Rauschenberg schlagen lässt, kann man
aus Albers’ Arbeiten, die vor der Bauhaus-
Zeit entstanden, seine spätere stilistische
Entwicklung herleiten. Dass sich ein Blick
auf dieses wenig bekannte Frühwerk den-
noch lohnt, beweist nun die Ausstellung
„Der junge Josef Albers“, die ihm das Josef
Albers Museum Quadrat in seiner Geburts-
stadt Bottrop gewidmet hat.
Das Haus im Stadtgarten, das mittlerwei-
le den umfassendsten Bestand von Arbei-
ten des neben August Everding wohl be-
rühmtesten Sohns der Stadt hat, zeigt sei-
ne zwischen 1908 und 1919 entstandenen
Werke nicht als Wegmarken einer kontinu-
ierlichen Entwicklung, sondern vielmehr
als ein serielles Ausprobieren verschiede-
ner Formen. Albers, 1888 als Sohn eines
Malers und Anstreichers geboren, war der

erste in seiner Familie, der nicht Handwer-
ker wurde, sondern zunächst eine Ausbil-
dung als Volksschullehrer machte. Der An-
satz der Reformpädagogik sollte seine
Lehrtätigkeit am Bauhaus und nach 1933
im amerikanischen Exil prägen. Zudem
wurde das „bewusste Sehen“, vertreten
von Philipp Franck, der von 1913 bis 1915 in
an der Königlichen Kunstschule in Berlin
sein Lehrer war, ein wichtiger Ansatz für Jo-
sef Albers.
Stuck und Franck sind in Bottrop eigene
Bereiche gewidmet, ebenso wie seinem
Lehrer an der Essener Kunstgewerbeschu-
le, dem expressionistischen Glaskünstler
Johan Thorn Prikker. Ihr ästhetischer Ein-
fluss erweist sich aber als gering. Es
scheint dem jungen Albers vor allem um
das Erkunden stilistischer Verzweigungen
gegangen sein, ohne dass er sich je an eine
von ihnen band. Stattdessen nimmt er
Techniken auf und experimentiert mit ih-
nen – ein „Gitterbild“ aus Glas, bereits zu
Beginn seiner Weimarer Zeit entstanden,
bedient er sich etwa des Materials, dessen
Behandlung er von Prikker kennt, löst es je-
doch in eine Reihe bunter Quadrate auf.

Zu Beginn aber stehen Porträt- und
Landschaftszeichnungen auf technisch ho-
hem Niveau, die zum Teil ohne vorherige
formelle Ausbildung entstehen. Albers
zeichnet Alltagsszenen und lässt sich von
Theaterinszenierungen inspirieren. Beson-
ders begeistert ist er von einer Produktion
der fantastischen Ballett-Pantomime „Die
grüne Flöte“ am Deutschen Theater Berlin,
nach dem einige hingetuschte Blätter ent-
stehen. Er malt die Sandgruben seiner Hei-
mat und er fertigt sogar eine – für sich ge-
nommen banal wirkende – Skulptur zwei-
er ineinander gekauerter Karnickel an. Es
sind Stationen einer Suche, die er selbst
letztlich als Sackgassen erkannte.
Den bedeutendsten Einfluss hatten aller-
dings fraglos Josef Albers’ Besuche im Ha-
gener Osterhaus-Museum. Dort hatte er
1908 in der Folkwang-Sammlung erstmals
Gemälde von Cézanne, Matisse und van
Gogh gesehen. Diese Künstler sind in der
Bottroper Schau zwar nicht vertreten,
doch auch ohne den direkten Vergleich ist
ihr Anteil an Albers’ mentaler Loslösung
vom Althergebrachten nachvollziehbar.
Das mündet selten in echter Abstraktion,
wohl aber in einer expressiven Kantigkeit,
wie in der Darstellung einer Sandgrube
von 1916.
„Der langsame Durchbruch ist mir lie-
ber als der plötzliche“, hat der Künstler ein-
mal gesagt. In Bottrop wird man Zeuge die-
ses allmählichen Durchbruchs: Die Licht-
und Schattenelemente, die sich in den
Zeichnungen andeuten; die farbigen Flä-
chen der Glasarbeiten und Stillleben – das
alles deutet spätere Entwicklungen an, oh-
ne diese aber je unvermeidlich erscheinen
zu lassen. Was man vor allem sieht, ist ein
Künstler, der vieles durchschreiten und be-
wusst hinter sich lassen musste, um in ei-
ner abstrakten Kunst an seinen Bestim-
mungsort zu finden, in der nur noch die Be-
ziehungen zwischen Farbflächen zählen.
alexander menden

Der Junge Josef Albers – Aufbruch in die Moderne.
Josef Albers Museum Quadrat, Bottrop. Bis 12. Janu-
ar.www.bottrop.de/mq ; Katalog 38 Euro.

Der DeutscheKinderhörspielpreis
geht in diesem Jahr an das Hörspiel
„Eineinhalb Wunder und ein Spatz“. Die
AutorinAngela Gerritslasse bedacht-
sam Aspekte wie Fremdenfeindlichkeit
und falsche Autoritäten in ihr Hörspiel
über die Freundschaft von zwei elfjähri-
gen Jungen einfließen, urteilte die Jury
der Filmstiftung NRW. Die mit 5000
Euro dotierte Auszeichnung wird am
Samstag in Karlsruhe vergeben.epd

Die Nachbildungen zweierPanther-
Skulpturenschmücken seit Mittwoch
wieder die Terrasse des Orangeriesch-
losses im Park Sanssouci inPotsdam.
Damit werde das historische Figuren-
programm vor der 1851 bis 1864 errich-
teten Orangerie weiter vervollständigt,
teilte die Stiftung Preußische Schlösser
und Gärten Berlin-Brandenburg mit.
Die springenden Panther stammen aus
der Mitte des 19. Jahrhunderts. dpa

Zu DDR-Zeiten sangen Bands wieKarat,Ci-
tyoderSillyvon Freiheit und vom Wunsch
abzuhauen. Und zwar so, dass die Zensur-
behörden ihre Songs schwer verbieten
konnten. Der heute 57-jährige Dirk Michae-
lis war in den Achtzigern Sänger der Band
Karussell. Ihr Song „Als ich fortging“ gilt
als eine der großen Wendehymnen und
wurde mittlerweile vielfach gecovert,
unter anderem von Bands wieRosenstolz
oderTokio Hotel.


SZ: Herr Michaelis, muss man in der DDR
aufgewachsen sein, um „Ostrock“ wirk-
lich zu verstehen?
Dirk Michaelis: Ich weiß jedenfalls nicht,
ob Westdeutsche die Entbehrungen und
Sehnsüchte nachvollziehen können, die
diese Musik hervorgebracht haben. Das
Fehlen von Freiheit. Andererseits habe ich
vor Kurzem eine Mail aus dem tiefsten
Westen bekommen. Zu „Als ich fortging“
schrieb er: „So ein schönes Lied habe ich
lange nicht gehört, weiter so.“ Er glaubte,
das sei ein neuer Song. Ich musste erst mal
lachen. Aber dann habe mich gefreut.


Sie sind in Ost-Berlin in einer Künstler-
familie aufgewachsen. Ihr Vater war Lei-
ter des Gerd-Michaelis-Chors, ihre Mut-
ter Tänzerin im Friedrichstadtpalast. Sie
hatten schon als Kind Gesangsunterricht.
Stimmt es, dass Sie die Melodie von „Als
ich fortging“ mit zwölf komponierten?
Ich würde es nicht komponieren nennen.
Da saß ein Junge mit schwerem Herzen am
Klavier, als ihn diese Melodie erreichte.


Sie hatten damals eine Melodie, aber kei-
nen Text. Den schrieb die Lyrikerin Gisela


Steineckert. Eine Zeile lautet „Nichts ist
von Dauer, wenn’s keiner recht will. Auch
die Trauer wird da sein, schwach und
klein.“ Haben Sie damals verstanden, wor-
um es ging?
Um ehrlich zu sein, war mir „Als ich fort-
ging“ zunächst zu poetisch.

Dabei war doch gerade Poesie ein Instru-
ment, um die Zensur auszutricksen.
Im Westen sang Rio Reiser: „Macht kaputt,
was euch kaputt macht.“ Im Osten sang die
BandLift: „Nach Süden, nach Süden wollte
ich fliegen. (...) Doch gar nicht weit hinterm
Haus, da fiel schon der erste Schnee.“

Als vor 30 Jahren die Mauer fiel, traten
Sie im Palast der Republik in Berlin auf.
Wie war die Stimmung?
Am 10. November glaubten wir, dass nie-
mand kommt, weil alle im Westen sind.
Doch es war voll. Im Saal herrschte eine Mi-
schung aus Hoffnung und dem unbezwing-
barem Glauben, dass jetzt das Größte und
Beste passiert, was wir uns vorstellen kön-
nen: Beide Systeme werden einen Weg fin-
den, das jeweils Beste herauszufiltern und
zusammenzuführen. Wir dachten, wir wür-
den jetzt das tollste Land der Welt.

Was passierte, als Sie „Als ich fortging“ an-
stimmten?
Alle sangen mit: „Nichts ist unendlich, so
sieh das doch ein / Ich weiß, du willst un-
endlich sein – schwach und klein.“ Die Leu-
te weinten. Auch ich hatte einen Kloß im
Hals. Auf einmal war ich nicht mehr nur
Sänger. Ich hörte mir selbst zu.

Die Musik von Bands wie „Karussell“,
„Lift“ oder „City“ wird heute als „Ost-
rock“ einsortiert, stört Sie das?
Ich war mal mit Ulla Meinecke auf Tour.
Sie wurde immer als Grande Dame des
deutschen Chansons vorgestellt, ich war
der Ostmusiker. Damals empfand ich das
als Geringschätzung. Mittlerweile verste-
he ich diese Zuschreibung als Ehre. Die Poe-
sie des Ostens ist etwas Einzigartiges.

interview: antonie rietzschel

Empathie ist das Gebot der Gegenwart, die
Lösung fürviele Probleme und die Tu-
gend, die Homo sapiens über sich selbst
hinaushebt. Soviel steht fest, bevor in der
Berliner Kulturbrauerei vier Leute auf
dem Podium Platz nehmen, um die nämli-
che Botschaft noch einmal unters Volk zu
bringen. Drei von ihnen werden sich neun-
zig Minuten lang angeregt unterhalten,
und das zahlreich erschienene Publikum
aus Bundestagsabgeordneten und Bil-
dungsberlinern wird ihnen an den richti-
gen Stellen applaudieren. Die vierte Per-
son sitzt derweil auf dem Trockenen. Mit
rotem Kugelschreiber kritzelt sie diskret
ein paar Notizen aufs Papier und fängt ir-
gendwann an, mit der Henkelkette ihrer
Handtasche zu spielen. Gewiss wird sie da-
für bezahlt, auf ihren Einsatz als Ai Wei-
weis Übersetzerin zu warten, der hier sein
in Buchform verpacktes „Manifest ohne
Grenzen“ vorstellen soll. Aber hätte man
nicht überlegen können, ob der Starkünst-
ler die Hilfestellung wirklich benötigt,
statt die Frau zur stummen Statistin zu de-
gradieren?
Die Moderatorin des Abends, die Journa-
listin und China-Expertin Gisela Mahl-
mann, hat jedenfalls gleich zu Beginn ei-
nen Dreisprachenmix aus Deutsch, Eng-
lisch und Chinesisch versprochen. Also
harrt Frau Sowieso (den Namen zu dru-
cken, hält offenbar niemand für nötig) an
Ai Weiweis Seite aus, um ihm sprachlich zu
sekundieren. Der gerade erst nach Cam-
bridge verzogene Installationsspezialist
zieht es allerdings vor, mit Mahlmann und
Markus Löning, dem ehemaligen Beauf-
tragten der Bundesregierung für Men-
schenrechtspolitik und humanitäre Hilfe,
Englisch zu parlieren. Weshalb Frau Sowie-
so nicht zum Zuge kommt und am Ende we-
der mit einem „Pardon“ noch mit einem
„Danke für Ihre Geduld“ belohnt wird.
Diese kleine Geste der Aufmerksamkeit
wäre das Mindeste gewesen für eine Frage-
stunde, die sich den ganz großen Themen
verschrieben hat – allesamt dazu angetan,
das gesellschaftliche Empathiepotenzial
zu triggern: Flüchtlingsschicksale und das
Los chinesischer Dissidenten, die skanda-
lösen Einschüchterungsmanöver in Hong-
kong und der „Honeymoon“-Kurs, den Ai
Weiwei diagnostiziert, wenn die Rede auf
Merkels Reisen nach Peking kommt.

Doch Empathie fängt beim Nachbarn
an. Insofern führen die drei Diskutanten
unfreiwillig vor, was sie selbst als eklatan-
te Fehlentwicklung kritisieren: Ignoranz
gegenüber Mitmenschen, und sei es eine
Honorarkraft, die man links liegen lässt –
gemäß politisch korrekter Diktion: aus-
grenzt.
Nichtsdestotrotz wird viel über Ausgren-
zung, Abwehr, Erniedrigung geredet. Ai
Weiwei erzählt plastisch von seiner Kind-
heit in der Verbannung, von Besuchen in
Flüchtlingscamps und dem Gefühl, allen,
die ihre Heimat verlieren und verlassen, na-
he zu sein. Er hat genug von der nationalen
Nabelschau, die Deutschland betreibt, ge-
nug auch von Berlin und dem ganz alltägli-
chen Rassismus. Substanzielleres trägt er
kaum bei.
Anders als Markus Löning, der den Ab-
stieg von den Gipfeln der Willkommenskul-
tur 2015 in die Niederungen der Xenopho-
bie nachzeichnet und schildert, wie be-
schränkt der Politikerhorizont aus Sicht
der Wirtschaftseliten ist: verengt auf den
eigenen Wahlkreis und die Risiken einer
globalisierten Welt, statt Chancen zu erken-
nen und auszuschöpfen.
Derweil schwankt Ai Weiwei zwischen
Zuversicht und Fatalismus. „Happy to
hell“, sagt er am Ende – „wir werden alle
zur Hölle fahren.“ Aber vorher wird der All-
rounder noch seine erste Oper inszenieren,
Giacomo Puccinis „Turandot“. Getreu sei-
ner Devise: „Alles ist Kunst. Alles ist Poli-
tik.“ An diesem Abend gab es von beidem
zu wenig. dorion weickmann

Josef Albers „Selbstporträt“ (1918).
FOTO: ALBERS FOUNDATION/ 2019 VG BILD-KUNST, BONN

Ai Weiwei (Zweiter von links) bei der Prä-
sentation seines Manifests. FOTO: DPA

„Der langsame Durchbruch ist mir lieber“


Bottropzeigt den „Jungen Josef Albers“ als Künstler, der sich nicht festlegen wollte


KURZ GEMELDET


Dirk Michaelis, geboren
1961 in Ost-Berlin, war von
1985 bis 1991 Kopf der
RockbandKarussell.Die
Melodie des größten Hits
der Band, „Als ich fortging“,
komponierte er mit zwölf
Jahren.FOTO: IMAGO

Da kriegt der angebliche


Frauenversteher Ibsen mal so


richtig sein Fett weg!


Wer behauptet, dass
Liebe immer romantisch,
geil und groß sein muss?

Die Zensur austricksen


Ostrocker Dirk Michaelis über seinen größten Hit


Von allem


zu wenig


Ai Weiwei präsentiert sein
„Manifest ohne Grenzen“ in Berlin

DEFGH Nr. 257, Donnerstag, 7. November 2019 (^) FEUILLETON 11
Pauline Kästner spielt nicht nur die Nora, sondern auch die Schauspielerin Pauline Kästner. FOTO: KONRAD FERSTERER
Nicht glücklich,
nur lustig
Andreas Kriegenburg inszeniert
in Nürnberg Ibsens „Nora“
im Diskursflirt mit dem Zeitgeist

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