Süddeutsche Zeitung - 07.11.2019

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Wie bewahrt man seine Würde in einer
feindseligen,rassistischen Umgebung?
Und was lässt einen Mann trotz aller De-
mütigungen aufrecht gehen? Das sind ei-
nige der wiederkehrenden Themen im
Werk des afroamerikanischen Schrift-
stellers Ernest J. Gaines.
Sie befeuern auch sein wohl berühm-
testes Buch, den 1993 erschienenen Ro-
man „A Lesson Before Dying“: Jefferson,
ein jugendlicher Afroamerikaner sitzt im
Louisana der 40er Jahre unschuldig in
der Todeszelle. Es gibt keine Hoffnung
auf Gerechtigkeit. Doch ein junger
schwarzer Lehrer besucht den Todeskan-
didaten regelmäßig im Gefängnis: Um
ihm zu zeigen, dass er eine Wahl hat.
Dass er in der Lage ist der Verurteilung
durch die Gesellschaft zu trotzen – wenn
er nur seinen anfänglichen Zorn überwin-

det, der ihn wie das Tier handeln lässt,
das die Weißen in ihm sehen. Jeffersons
Heldentum ist ein innerliches: Es geht
um eine spirituelle Haltung im Angesicht

eines Urteils, das ihn auch wegen seiner
Hautfarbe trifft. Geschickt spielt der Au-
tor dabei immer wieder auf die Kreuzi-
gung Jesu an. Gaines Roman gewann
1993 den Book Critics Circle Award, wur-
de erfolgreich verfilmt – und in deut-
schen Schulen als Unterrichtslektüre auf-
bereitet.
„Unser Leben wurde oft so erzählt, als
ob wir keine Geschichte hätten“, sagte
Gaines. Aber der 1933 auf der River Lake
Plantation in der Kleinstadt Oscar, Louisi-
ana, geborene Schriftsteller sollte das än-
dern: In seinen Romanen und Essays be-
schrieb er aus einer schwarzen Perspekti-
ve den Alltag der Menschen, mit denen er
aufgewachsen war. Darunter seine kör-
perlich verkrüppelte aber moralisch star-
ke Großtante und Ersatzmutter August-
een, die ihn zu seinem 1971erschienenen

Roman „The Autobiogragphy of Miss
Jane Pittman“ inspirierte. Gaines setzte
seine Worte im kargen Blues-Rhythmus
der Umgangssprache des ländlichen Sü-
dens. Als Jugendlicher hatte er für 50
Cent am Tag auf den heimischen Baum-
wollfeldern gearbeitet. Eine höhere Schu-

le, die ihn als Schwarzen aufgenommen
hätte, gab es nicht und so folgte er 1948
seiner Mutter nach Kalifornien. Aber
auch von San Francisco aus blieb er sei-
ner als „Bayonne“ fiktionalisierten Hei-
matstadt treu. Black Power-Aktivisten
kritisierten den Autor später, er sei

„nicht militant genug“. Gaines aber sah
seine Aufgabe eher im Beobachten: „Ein
Schriftsteller sollte so ungerührt bleiben
wie ein Herzchirurg bei seiner Arbeit“.
Als Chronist einer Generation von Süd-
staaten-Schwarzen schwangen bei ihm
stets universale Menschheitsthemen
mit. „Ohne Liebe für meine Mitmen-
schen und Respekt für die Natur wäre
das Leben obszön“.
Seit 1981 arbeitete Gaines als Writer in
Residence und Professor an der Univers-
ity of Louisiana in Laffayette. Am Diens-
tag kam die Nachricht, der 86-jährige sei
zu Hause gestorben. Zu Hause: Das war
am Lebensende wieder die River Like
Plantation, wohin Gaines mit seiner Frau
gezogen war, um den Gräbern seiner Vor-
fahren und deren Geschichten näher zu
sein. jonathan fischer

Ungerührt wie ein Herzchirurg bei der Arbeit


Der afroamerikanische Schriftsteller Ernest J. Gaines ist tot, der vom Alltag der Schwarzen im ländlichen Süden erzählte


von hubert winkels

A


utobiografien sind ideale Orte, um
sich zu verstecken. Unter dem Vor-
wand der Wahrheit und hinter dem
Vorhang der Wahrhaftigkeit. Gerade weil
sie als literarisches Genre der Offenbarung
des Verborgenen, der Enthüllung des Ver-
schwiegenen gelten, kann man sich in ih-
nen verkriechen. Was zählt, ist die Geste:
Seht her, ich bin’s! Einen guten Ruf haben
sie nicht mehr, die Selberlebensbeschrei-
bungen. Das Werk hat die Person in sich
aufgesogen und gibt sie nicht mehr her-
aus. Es ist Kunst, es ist Konstrukt, es ist Er-
findung. Wer bleibt, wenn man das Schöne
am Schreiben abzieht?
Dagmar Leupold hat in ihrem autobio-
grafischen Roman „Lavinia“ aus der post-
modernen Not eine Tugend gemacht und
sich in der überquellenden Sprache ver-
hüllt, in der turbulent aufgemischten lite-
rarischen Form sich selbst ent- und derart
ausgestellt. Man könnte einwenden, das ge-
schehe in guter Literatur immer. Aber
wenn, dann selten so bewusst, so forciert,
so atemlos, als ob es um Leben und Tod gin-
ge, und nicht um Sprache. Tut es das?
In „Lavinia“ steht die Erzählerin im


  1. Stock eines Hochhauses in New York
    und stürzt sich hinunter. „Wer ergründen
    will, der muss herab. / Der Wind ist mein
    Freier.“ Dann folgen 24 Stockwerke Le-
    bensgeschichte, im großen Ganzen chrono-
    logisch vorgetragen, mal ein paar Auslas-
    sungen, mal ein Blick zurück. Doch die
    Idee, dass man wie die Archäologen nach
    unten und nach innen muss, bleibt beste-
    hen. Unten sind die Eltern und die Großel-
    tern, speziell das Omale. Und mit ihnen der
    Krieg, die Vertreibung aus Ostpreußen
    und Schlesien, der ganze Schrecken des
    Jahrhunderts in literarischer Kurzschrift.


Das hellste Romankapitel im Sinne der
Klarheit des Ausdrucks gilt dem dunkels-
ten historischen Kapitel: der mit der eige-
nen Familie befreundeten jüdischen Fami-
lie Stern, nach der Verfolgung durch die Na-
zis im Polen der Siebzigerjahre erneut anti-
semitisch diskriminiert und geflohen.
Hier findet das Kind Schutz. Hell im Sinne
von klar sind die raren Geborgenheiten. Ne-
ben dem lieben, warmen, weichen Omale
und den Sterns auch Hannes, eine rundum
glückliche Studentenliebe, die mit einem
Nackenschlag aus der Erzählgegenwart be-
endet wird: „Hannes ist tot, längst. In alle
Winde zerstreut, mein Freund, Engel mei-
ner Geschichte, mein luftiger Vorsager.“
Das haut in seiner Plötzlichkeit neben
Hannes auch den Leser um. Und zeigt eins
der Bauprinzipien des Romans: Vor dem
Mutwillen der Erzählerin, ihrem Willen
zur Düsternis, ihrem Disruptionsfuror ist
nichts sicher. Etliche Personen werden des-
halb auch nur als blasse Schemen hinge-
stellt, weil sie eh gleich wieder abgeräumt
werden, von der alles wollenden und zu-
gleich grundenttäuschten Erzählerin.
Sie fegt durch ihr Leben und das gute
halbe Jahrhundert, das es bis dato dauerte.
Fegen, um aufzuräumen vielleicht, doch
mit dem Effekt, alles, was zählt, zu verste-
cken. Alles Private und Intime staubt auf in
einer Wolke von literarischen, mythologi-
schen, philosophischen, sprachtheoreti-
schen Referenzen; in vielsprachigen Zita-
ten, mittelhochdeutschen vor allen, von
Minnesang und Minneepen; französi-
schen Ondits, altenglischen Liedzeilen,
amerikanischen Lakonismen, italieni-
schen Vokalisen, dass es nur so klingt und
singt und manchmal durchaus scheppert.
Das alles ist gewollt, gekonnt, und doch
in einem solchen Übermaß eingesetzt,
dass die damit und dadurch erzählte Ge-
schichte auch begraben wird. Unter eben je-
nem Berg aus Bildungsornat, der das Ver-
steckspiel des Ich erlaubt. Im Zuge der rhe-
torischen und referenziellen Totalmobili-
sierung des Textes ist das zu Erzählende,
sind die Person und ihr Handlungsgefüge
eher Abfall.
Wer oder was ist diese Erzählerin in lufti-
ger Höhe? Man muss nur einmal in den Na-
men Lavinia pusten, und schon stieben als
Bildungspartikel die unendlichen Texthin-
tergründe auf. Lavinia ist die Ehefrau des
Vergil’schen Aeneas. Um sie wird Krieg ge-
führt in Latium, wie einst um Helena in Tro-
ja, und doch ist der weibliche Name der Lei-
denschaft und der Verzweiflung bekannt-
lich Dido vorbehalten.
Vergil hat der so zentralen Figur kaum
Stimme und Kontur gegeben. Anders als
gute tausend Jahre später Heinrich von Vel-

deke in seinem „Eneasroman“. Aus ihm zi-
tiert Dagmar Leupold, immer die Minne be-
treffend, wie Minne überhaupt bis zur Fi-
gur Minna am Ende des Romans der buch-
stäbliche und inhaltliche rote Faden
durchs Buch ist. Ursula K. Le Guin hat die
Vergilgeborene Lavinia zur Heldin ihres
fantastischen Romans „Lavinia“ gemacht
und sie statt mit mythologischen Zeichen
mit psychologischer Reflexion über ihr
Schicksal versehen, ähnlich wie Christa
Wolf es vorzeiten mit Kassandra gemacht
hat, und so weiter. Diese textanarchisch
zerlaufende bildungsbürgerliche Schicht-
torte wird angereichert mit phonetischen
und lexematischen Reizen wie „Loveeinia“
als Kosename, „Furor Laviniae“ als Kriegs-
name, oder, ganz am Ende, als Tipp für den
Leser, den es zur Kontaktaufnahme
drängt: „Bin auf Dienstreise. In dringen-
den Fällen erreichen Sie mich unter lavi-
[email protected].“
So wird allein der Name mit seinen un-
endlichen Webverweisen zu einem unüber-
schaubaren Gespinst. Doch gilt dieses rhe-
torische „too much, too many“ für etliche
Motive, die wild durch sämtliche Bedeu-
tungssphären gefegt werden.
Ein anderes Beispiel: Der Fall!, der den
lateinischen Kasus meint und also die
Grammatik in Aktion setzt, der von Beifall
begleitete Anfall, das Fallobst und die
Fallsucht, die Falle, der Zu- und der
Abfall... Jedes Kapitel hat einen „Fall“ im
Titel und legt mit einem Fallbeispiel los.
Der Schnee, der Mensch, der Planet fallen
durch den Raum, und die Liebe fällt meist
auf den Rücken. Der spielerische sexuelle
Ernstfall fällt machtvoll durch den Roman.
Meist mit einer gewissen Härte gewollt
und exerziert.

Mit einem Missbrauch durch Z (weil er
das Letzte ist) sind Lavinia und der Roman
in die körperliche Liebe gestartet, einmal,
zweimal die wahre Liebe berührend, zur
Minne sich wandelnd, eine Abrechnung
der Erzählerin steht am Ende, mit all den
miesen männlichen Tricksern, Fallenstel-
lern und Erpressern. Die stärkste Drohung
dieses Romans aus Romanen: „Ich schrei-
be euch auf. / Ihr Betatscher, ihr Zurauner,
ihr Übergreifer, ich suche euch heim.“
Seit ihren ersten Büchern wie „Edmond.
Geschichte einer Sehnsucht“ (1992) oder
dem Gedichtband „Die Lust der Frauen auf

Seite 13“ (1994) testet und trainiert Dag-
mar Leupold die Konvertierbarkeit von Le-
ben und Schreiben. Der beste Sex ist der ge-
schriebene. Sie arbeitet daran. Der Schre-
cken der Welt ist grobe unflätige Rede,
Trump geistert namenlos, aber deutlich si-
gnifiziert durch den Roman.
Was unterhalb dieser postmodernen zei-
chentheoretischen Liaison sich ereignet,
ist Abfall,waste land, das Ich und seine Ge-
schichten, unerkennbar, verkleidet und ver-
kleistert. Wir lernen sie nicht wirklich ken-
nen, weil sie in Redeformen verschwinden,
Anagramme, Verballhornungen, Reime, Zi-
tate, Kalauer – alles, was den Zeichenstrom
anreichert, ihn mit Wirbeln versieht, wird
herangezogen. Es reißt manchmal Rich-
tung Oulipo, manchmal Richtung Anaïs
Nin, manchmal Richtung „Aeneas“ des Ver-
gil. So viel Lärm, um sich unsichtbar zu ma-
chen, so viel Form, um nicht gehört zu wer-
den! Wenn man hoch greifen will, ist der Ro-
man „Lavinia“ ein Abschlusstableau für die
zeitgeistgestützte lustvolle Selbstauslö-
schung des Ich. Klassischerweise besetzen
in Autobiografien die Institutionen und Vor-
fahren die Positionen der formatierenden
Ordnung. Bei Dagmar Leupold ist es die
Kunst, die literarische Schrift selbst.
Da sie zugleich die Emanzipation von
Normen und Zwängen im Sinn hat, will sie
die kulturtragende Literatur, die aufgefah-
renen Kulturarchive zugleich beerben und
im heftigen Überfluss anarchisieren. Doch
auf Dauer gestellte Abundanz ist redun-
dant, wie ein Fest, das längst zu Ende ist.
Nur hat es noch nicht jede gemerkt.

Dagmar Leupold:Lavinia. Roman, Jung und Jung
Verlag, Salzburg und Wien. 199 Seiten, 22 Euro.

Anfang der 1990er Jahre wurde das Meinin-
ger Theaterzu einem der erfolgreichsten
der neuen Bundesländer. Renommierte
Theatermacher kamen nach Thüringen,
um ihre Solidarität mit den einst weltbe-
rühmten Meiningern zu bekunden: Au-
gust Everding, Loriot, Peter Konwitschny,
Mikis Theodorakis, Jewgenij Jewtuschen-
ko und viele andere. Nach dem Unfalltod
des hemdsärmeligen Intendanten Ulrich
Burkhardt 1997 stellten die Meininger un-
ter Führung der neuen Theaterchefin
Christine Mielitz und ihres jungen General-
musikdirektors Kirill Petrenko 2001 einen
„Ring des Nibelungen“ auf die Beine, der
das internationale Feuilleton staunen ließ.
Was aber ist Mythos, was wahrhaftig an
dem, was damals als „Wunder von Meinin-
gen“ durch die Medien geisterte? SZ-Autor
Siggi Seuß versammelt 21 Porträts von The-
atermenschen, die die Zeit des Aufbruchs
mitgestalteten. Stimmungsbilder aus ei-
ner Zeit, in der viele glaubten, das Theater
zeige den Weg in eine menschenfreundli-
chere Zukunft. sz

Siggi Seuß:Zeit der Wunder. Die Jahre des Auf-
bruchs am Meininger Theater 1990 bis 2001. Verlag
Resch,Meiningen 2019. 136 Seiten, 17,80 Euro.






      1. November, Witzenhausen
        Jugend bewegt Literatur. Lisa Tetzner,
        Kurt Kläber und die Literatur der Ju-
        gendbewegung. Mit Christina Radicke,
        Jana Mikota u.a.Kontakt: Humboldt-Uni-
        versität, Tel. (030) 2093 - 9665.









      1. November, Hofgeismar
        Mode-bewusst - Kleidung und Nach-
        haltigkeit. Mit Maren Leifker, Johanna
        Betz u. a.Ev. Akademie, Tel. (05671) 881 -







  1. November, Greifswald
    Überdie Kunst, Theater zu spielen.Ge-
    spräch mit A. Breth.Alfried Krupp Wis-
    senschaftskolleg, Tel. (03834) 420 5029.

  2. November, Berlin
    What is in the Air: Global Environmen-
    talism and Local Activists in Bishkek
    and Almaty. Vortrag von Xeniya Priluts-
    kaya.Leibniz-Zentrum Moderner Orient,
    Tel. (030) 80 307 - 0.





      1. November, Jena
        Transformationsprozesse im Kontext
        von Migration und Religion. Mit Gisela
        Mettele, Alexander-Kenneth Nagel u. a.
        Universität, Tel. (03641) 9411 74.





  3. November, Hamburg
    McGuffin: Technik der Zeitantreibung
    im Film. Vortrag von Christiane Voss.
    Warburg-Haus, Tel. (040) 42 838 6148.





      1. November, Wien
        Canettis Wien. Zum 25. Todesjahr. Mit
        Sven Hanuschek, Franz Schuh u. a.IFK,
        Tel. (0043) 1 504 11 26.









      1. November, Salzburg
        Mit Geschichte spielen. Mit Jörg van
        Norden, Heinrich Ammerer u. a.Univer-
        sität, Tel. (0043) 662 8044 4777.





  4. November, Heidelberg
    Drei Weltraumreisen, eine Literatur:
    Science Fiction als Denkform. Vortrag
    von D. Dath.Universität, Tel. (06221) 54
    77 42.

  5. November, Leipzig
    Vertriebene in der DDR - Zum Umgang
    mit einem Tabu. Mit Heike Amos, Gun-
    dula Bavendamm u.a.Kontakt: Deutsche
    Gesellschaft, Tel. (030) 88 412 251.

  6. November, Köln
    Den Text wie eine Frucht verspeisen.
    Zhu Xi (1130 - 1200) über das rechteLe-
    sen. Vortrag von Michael Lackner.Fritz
    Thyssen Stiftung, Tel. (0221) 277 496 -







      1. November, München
        Kunst und Pädagogik - Pädagogik als
        Kunst. Carl Orff und Leo Kestenberg
        als Impulsgeber. Mit Wolfgang Rathert
        u.a.Orff-Zentrum, Tel. (089) 28 81 05 - 0.






Der amerikanische Autor und Übersetzer
Scott Abbott betreibt seit Jahren den Blog
„The Goalie’s Anxiety“. Der Titel ist eine
Hommage an Peter Handkes Roman „Die
Angst des Tormanns beim Elfmeter“
(1970). Abbott hat mehrere Texte von Hand-
ke übersetzt, darunter auch „Eine winterli-
che Reise zu den Flüssen Donau, Save,
Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für
Serbien“ (1996). Nun hat er eine Hand-
reichung in seinen Blog gestellt, die der
Suhrkamp Verlag am 31. Oktober unter
dem Titel „Peter Handke. Clarifications,
materials and further sources related to an
ongoing debate“ herausgegeben und mit
dem Vermerk „Work in Progress“ versehen
hat.
Das 24-seitige Papier existiert aus-
schließlich auf Englisch. Es dürfte der Sor-
ge des Verlages um den internationalen Ruf
seines Autors – nicht zuletzt in der europäi-
schen und angelsächsischen Verlagsszene



  • entsprungen sein. Und der Hoffnung, auf
    die Debatte über Handkes Schriften und In-
    terviews zu Jugoslawien und den Kriegen,
    in denen es in den Neunzigerjahren zerfiel,
    durch Zitate aus diesen Schriften und Inter-
    views Einfluss zu nehmen.
    Nur wenige der in Band 10 und 11 der im
    Jahr 2018 erschienenen Handke-Werkaus-
    gabe zu findenden einschlägigen Texte
    sind international in Übersetzungen greif-
    bar. Die Suhrkamp-Handreichung stellt
    die Vorwürfe zusammen, die Handke in
    der internationalen Presse nach seiner
    Wahl zum Nobelpreisträger gemacht wur-
    den, etwa den, er sei ein Leugner des Geno-
    zids von Srebrenica, und konfrontiert sie
    mit – häufig erstmals übersetzten – Passa-
    gen aus Handkes Schriften. Das zentrale Ar-
    gument: Handke habe nie die Existenz von
    Völkermord und Kriegsverbrechen in den
    Jugoslawien-Kriegen geleugnet, lediglich
    die Art und Weise in Frage gestellt, in der
    darüber berichtet wurde.
    An der Struktur der Debatte in Deutsch-
    land wird diese Handreichung wenig än-
    dern. Sie reagiert weniger auf die Dankesre-
    de zum Deutschen Buchpreis, in der Saša
    Stanišić die Wahl Handkes zum Nobelpreis-
    träger attackierte, als auf die Artikel, in de-
    nen etwa Aleksandar Hemon in derNew
    York Timesoder Peter Maass inThe Inter-
    ceptHandke als Völkermord-Apologeten
    darstellten.


Aber der Hinweis, dass Handke bereits
2006 vom „Genozid von Srebrenica“ ge-
sprochen habe, wird so wenig Folgen ha-
ben wie die Korrektur der Falschbehaup-
tung, Handke habe sich beim Kriegsverbre-
cherprozess gegen Slobodan Milošević in
Den Haag als Entlastungszeuge zur Verfü-
gung gestellt. Und von der Angst des Tor-
manns und den anderen derzeit überschat-
teten Werkregionen wird auch weiterhin
nicht die Rede sein.
Dies nicht etwa deshalb, weil die in der
Suhrkamp-Handreichung zusammenge-
stellten Zitate aus dem Zusammenhang ge-
rissen wären. Dieser wohlfeile Vorwurf
lässt sich jedem Zitat machen, es gehört zu
seiner Natur, aus einem Kontext herausge-
löst zu sein. Die Debatte wird ihre Struktur
behalten, weil diese Struktur so beliebt ist.
Es ist die Struktur des Tribunals, in dem je-
des Zitat dazu verurteilt ist, Zeuge entwe-
der der Anklage oder der Verteidigung zu
sein. Diese Rolle kann es umso besser spei-
len, je eindeutiger es ist, je mehr Anspruch
auf Evidenz es erheben kann.
Hier aber liegt das Problem in den Schrif-
ten und Interviews Handkes zu den Krie-
gen und Massakern in Jugoslawien. Das
hängt nicht mit dieser oder jener „poetisie-
renden“ Wendung zusammen (Achtung,
„andersgelbe Nudelnester“!), sondern mit
der Zwielichtigkeit der Ich-Figuren. Unver-
kennbar gibt es in ihnen ein Ich, das wün-
schen möchte, die Massaker von Srebreni-
ca seien nicht allein von den bosnischen
Serben zu verantworten, es gibt aber auch
das Ich, das diesem Wunsch ins Wort fällt.
Und es gibt das Ich, das sich im Blick auf
die Brücke über der Drina in Visegrád
weigert, das dort verübte Massaker an bos-
nischen Muslimen in den Sprachbildern
eines amerikanischer Reporter in sich
eingehen zu lassen. Dieses Ich entgeht nur
knapp der Versuchung, mit den Bildern
das Ereignis selber in Frage zu stellen, und
muss sich fragen lassen, warum es die Vor-
stellung der bosnisch-muslimischen
Opfer und der bosnisch-serbischen Täter
nur widerstrebend in sich aufnehmen
kann.
Die Suhrkamp-Handreichung mag ein-
deutige Falschaussagen über Handke kor-
rigieren. Der in ihnen enthaltene Appell,
Handke zu lesen, am besten die gesamten
Bände 10 und 11 seiner Werkausgabe, führt
in Regionen, in denen die Evidenz von Zita-
ten nicht gegeben, sondern in der Debatte
erst herzustellen ist. Das ist die Konse-
quenz der in den vergangenen Wochen häu-
fig formulierten Einsicht, Handkes Aussa-
gen über die Kriege und Massaker in Jugo-
slawien ließen sich von ihrer literarischen
Form nicht trennen.
Es gibt eine weitere Grenze dieser infor-
mellen, in Verlagen, bei Übersetzern und in
Redaktionen kursierenden Handreichung.
Sie ersetzt nicht eine Äußerung Peter Hand-
kes selbst. Die Form einer Selbstverteidi-
gung des Angeklagten vor dem Internatio-
nalen Handke Tribunal müsste sie nicht an-
nehmen. Es wäre schon viel gewonnen,
wenn das Ich des Autors und Nobelpreisträ-
gers im Jahr 2019 als Leser der Bände 10
und 11 seiner Werkausgabe vor das Publi-
kum träte. lothar müller


Siggi Seuß über das


Meininger Theater


AGENDA


Ernest J. Gaines, geboren 1933 und ge-
storben 2019 in Louisiana. FOTO: AP

Zitate als


Zeugen


Die Handreichung von Suhrkamp
zu Peter Handkes Verteidigung

Im Zuge der referenziellen
Totalmobilisierung des Textes ist
das zu Erzählende eher Abfall

Black-Power-Aktivisten
kritisiertenihn, er
sei „nicht militant genug“

„Ich schreibe euch auf“


Anarchiein den Archiven der Kulturgeschichte: Dagmar Leupold setzt


in „Lavinia“ alles daran, ein Ich zum Verschwinden zu bringen


Die Evidenz von Zitaten ist nicht


gegeben, sondern wäre durch


die Debatte erst herzustellen


(^12) LITERATUR Donnerstag, 7. November 2019, Nr. 257 DEFGH
Frau, um die Krieg geführt
wird: „Latinus bietet Aeneas
seine Tochter Lavinia zur
Ehe an“ von Giovanni Battista
Tiepolo (oben). Unten die
Autorin Dagmar Leupold.
FOTOS: STATENS MUSEUM FOR KUNST/
ROBERT HAAS
VON SZ-AUTOREN

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