Süddeutsche Zeitung - 07.11.2019

(nextflipdebug5) #1
Als Aktiver dauerte Witold Bańkas Auf-
tritt aufder großen internationalen Büh-
ne des Sports nur kurz. Bei der Leichtath-
letik-WM 2007 in Osaka war das, als der
Pole am Vorlauf der 4-mal-400-Meter-
Staffel teilnahm. Als das polnische Quar-
tett im Finale überraschend Bronze ge-
wann, durfte er schon nicht mehr mitma-
chen. Bańka war ein starker Läufer über
die Stadionrunde (Bestzeit: 46,11 Sekun-
den), aber für die Weltspitze reichte es
nicht. Doch nun betritt Banka, 35, die gro-
ße Bühne des skandalgeprägten Welt-
sports von einer anderen Seite. An diesem
Donnerstag soll er in Kattowitz zum neu-
en Präsidenten der Welt-Anti-Doping-
Agentur (Wada) gewählt werden – und am


  1. Januar das Amt übernehmen.
    Die Wada ist formal betrachtet die
    oberste Kontrollbehörde im Kampf gegen
    Doping, diesen treuen und intensiven Be-
    gleiter des Spitzensports. Aber sie tat sich
    dabei in den vergangenen Jahren nicht
    wirklich als überzeugende Institution her-
    vor. Stattdessen befindet sie sich, wie der
    gesamte Weltsport, in einer tiefen Glaub-
    würdigkeitskrise. Das hat insbesondere
    mit ihrem Verhalten im russischen Staats-
    dopingskandal zu tun. Erst ignorierte die
    Wada jahrelang Hinweise auf die Betrüge-
    reien. Als sich das System dank Medien-
    enthüllungen in den Jahren 2015 und
    2016 entblätterte, gab sie sich nur kurz
    scharf – und schwenkte dann auf die mil-
    dere Linie des Internationalen Olympi-
    schen Komitees (IOC) ein.
    Aber der schlechte Ruf der Wada ist
    nicht nur auf die Russland-Causa zurück-
    zuführen. Seitdem die Agentur 1999 ange-
    sichts diverser Dopingskandale gegrün-
    det wurde, diente sie dem organisierten
    Sport als ein Feigenblatt: Seht her, wir ma-


chen doch etwas gegen Doping. Aber tat-
sächlich hat der oft gar kein rechtes Inter-
esse daran, den schönen Schein zu stören,
mit dem er das Publikum verzücken und
seine Milliarden verdienen will. Die Wada
ist keine unabhängige Institution. Bis heu-
te ist der Einfluss der Verbände immens
und sind die zur Verfügung gestellten Gel-
der gering. Und tatsächliche Doping-Be-
kämpfer stellen eine beklemmende Diffe-
renz fest: Von den vielen Kontrollen des
Sports sind nur circa 1,5 Prozent positiv,
wobei diese Fälle oft unbekannte Sportler
betreffen. Aber aus anonymen Umfragen
unter Athleten ergeben sich, wie etwa bei

der Leichtathletik-WM 2011, Doperquo-
ten von bis zu 40 Prozent. So zeigte sich zu-
letzt, dass wirklicher Anti-Doping-Kampf
nicht aus der Wada und dem Sport heraus
erfolgen kann, sondern nur mithilfe staat-
licher Ermittler.
Jetzt ist die Frage, wie sich der desi-
gnierte Frontmann Bańka in dieser Ge-
mengelage gibt. In den vergangenen vier
Jahren war er Sportminister in Polen. Er
gehört zur nationalpopulistischen PiS-
Partei; eine Kritikwelle entfachte er, als es
um seinen Umgang mit Renten für Mit-
glieder früherer Militärklubs ging. Aber
insgesamt wirkte er eher unauffällig in
der von Affären durchsetzten Regierung.
Als es darum ging, sich für die Wada-Präsi-
dentschaft zu positionieren, fiel er nicht
gerade als Lautsprecher in Dopingfragen
auf. Da war etwa die norwegische Kandi-
datin Linda Helleland klarer unterwegs.
Doch rund um seine Wahl lässt Bańka
durchaus aufhorchen: mit der Ankündi-
gung strenger Sanktionen, Forderungen
nach einer Aufstockung des 40-Millionen-
Dollar-Etats oder dem Plan, mit Geheim-
diensten zusammenzuarbeiten.
Die erste bedeutsame Entscheidung
steht schon bald an: Denn jüngst zeigte
sich, dass in Russland nicht nur früher ein
staatlich orchestriertes Dopingsystem
lief. Sondern auch, dass es in diesem Kon-
text bis zuletzt zu Täuschungen kam. An-
fang des Jahres übergab Russland der Wa-
da Daten des Moskauer Kontrolllabors,
das einst zum Betrugssystem gehörte.
Doch diese waren manipuliert, wie selbst
russische Vertreter einräumten. Nun for-
dern Kritiker eine harte Strafe – die Wada
könnte einen Ausschluss Russlands für
die Sommerspiele 2020 in Tokio auf den
Weg bringen. johannes aumüller

HERAUSGEGEBEN VOM SÜDDEUTSCHEN VERLAG
VERTRETEN DURCH DEN HERAUSGEBERRAT
CHEFREDAKTEURE:
Kurt Kister, Wolfgang Krach
NACHRICHTENCHEFS:
Iris Mayer, Ulrich Schäfer
AUSSENPOLITIK:Stefan Kornelius
INNENPOLITIK:Ferdos Forudastan; Detlef Esslinger
SEITE DREI:Alexander Gorkow; Karin Steinberger
INVESTIGATIVE RECHERCHE:Bastian Obermayer,
Nicolas RichterKULTUR:Andrian Kreye, Sonja Zekri
WIRTSCHAFT: Dr. MarcBeise
SPORT: Klaus Hoeltzenbein WISSEN: Dr.Patrick Illinger
PANORAMA:Felicitas Kock, Michael Neudecker
GESELLSCHAFT UND WOCHENENDE:Christian Mayer,
Katharina RiehlMEDIEN:Laura Hertreiter
REISE, MOBILITÄT, SONDERTHEMEN:Peter Fahrenholz
MÜNCHEN, REGION UND BAYERN:Nina Bovensiepen,
René Hofmann; Sebastian Beck, Ingrid Fuchs,
Karin Kampwerth, Stefan Simon
ARTDIRECTOR:Christian Tönsmann; Stefan Dimitrov
BILD:Jörg Buschmann
CHEFS VOM DIENST: Fabian Heckenberger, Michael König
Die für das jeweilige Ressort an erster Stelle Genannten
sind verantwortliche Redakteure im Sinne des Gesetzes über
die Presse vom 3. Oktober 1949.
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04107 Leipzig, Tel. (0 341) 99 39 03 79
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60311 Frankfurt,Tel. (0 69) 2 99 92 70
HAMBURG:Peter Burghardt, Poststr. 25,
20354 Hamburg, Tel. (0 40) 46 88 31-
KARLSRUHE: Dr.Wolfgang Janisch, Sophienstr. 99,
76135 Karlsruhe, Tel. (07 21) 84 41 28
STUTTGART:Stefan Mayr, Rotebühlplatz 33,
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Hultschiner Straße 8, 81677 München, Tel. (0 89) 21 83-
DRUCK:Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH,
Zamdorfer Straße 40, 81677 München

von boris herrmann

J


enes 83 Seiten dicke Dokument, das
im Ruf steht, die „Halbzeitbilanz der
großen Koalition“ zu sein, heißt offi-
ziell gar nicht Halbzeitbilanz, sondern Be-
standsaufnahme. Das ist kein Detail,
sondern schon ein Teil der Kommunikati-
onsstrategie. Tatsächlich taucht das Wort
Halbzeit in dem gesamten Text kein einzi-
ges Mal auf, und man kann getrost davon
ausgehen, dass es nicht aus Versehen ver-
gessen wurde. Erstens ist der Begriff hier
schon deshalb unangebracht, weil diese
Bundesregierung ja selbst nicht so recht
weiß, wie lange sie noch existieren möch-
te – eine Halbzeit ist aber nur dann eine
Halbzeit, wenn klar ist, wann der Schluss-
pfiff ertönt. Zweitens schwingt in der
ohnehin überstrapazierten Fußballmeta-
phorik immer etwas mit, was das Doku-
ment aus dem Kanzleramt offenbar ganz
bewusst nicht zum Ausdruck bringt: et-
was Gefühliges.
Mit Halbzeiten im eigentlichen Sinn
verbindet man Motivationsreden, die
Beschwörung des Teamgeistes, die soge-
nannte Kabinenpredigt. Die jetzt vorge-
legte „Bestandsaufnahme über die Um-
setzung des Koalitionsvertrages durch
die Bundesregierung“, so der Titel in vol-
ler Schönheit, ist das Gegenteil von all-
dem. Es handelt sich um einen adminis-
trativen Bericht unter Federführung von
Kanzleramtschef Helge Braun, in dem
Punkt für Punkt zusammengetragen
wird, was diese Regierung aus ihrem Koa-
litionsvertrag bislang umgesetzt oder
zumindest angepackt hat. Es ist keine
Überraschung, dass dieses Selbstzeugnis
gut ausfällt. Aber auch objektiv betrach-
tet ist es gar nicht so schlecht. Vor allem
in der Gesundheits-, Familien- und So-
zialpolitik hat diese Koalition schon vie-
les geliefert, was sie versprochen hat.
Aber natürlich weiß auch die Bundes-
kanzlerin, dass es auf ein Häkchen mehr

oder weniger am Ende nicht ankommt,
wenn über die Frage entschieden wird,
ob ihre Koalition bis zum Schluss der
Legislaturperiode 2021 durchhält. Es
kommt darauf an, ob es ihr gelingt, ihren
von Selbstzweifeln geplagten Koalitions-
partner bei der Stange zu halten.
Das wird auf dem anstehenden SPD-
Parteitag entschieden. Ohne den dort ver-
sammelten Delegierten zu nahe treten zu
wollen, darf man unterstellen, dass die
meisten ihre Meinung nicht anhand die-
ser 83 Seiten bilden, falls sie die bis dahin
vollständig gelesen haben. Es wird von
der Gefühlslage abhängen, wie diese Ent-
scheidung ausgeht. Von Dingen, die nicht
in dem Papier stehen.

Wer den Koalitionsvertrag liest, findet
darin keinen Beschluss zu einer Halbzeit-
bilanz, die mit einer Entscheidung über
den Fortbestand der Regierung ver-
knüpft wäre. Diesen Mechanismus
scheint die SPD im Nachhinein in den Ver-
trag hineingefühlt zu haben, um den Ein-
tritt in eine Koalition, die sie gar nicht
wollte, vor sich selbst zu rechtfertigen.
Zweifellos hätte sich Angela Merkel
dieses Zwischenzeugnis am liebsten ganz
erspart, aber da sie es der SPD nun ein-
mal geben musste, klingt nun schon aus
dem buchhalterischen Titel der Versuch
heraus, es politisch möglichst kleinzuhal-
ten. Dazu dürfte auch Absatz 7b einen Bei-
trag leisten – was die Koalition in der Sozi-
alpolitik noch vorhat. Da fehlt im Zusam-
menhang mit der Grundrente ein Wort,
um das zuletzt die Schicksalsfrage der
Koalition zu kreisen schien: die Bedürftig-
keitsprüfung. Merkel ermöglicht damit
der SPD, sich das Gefühl zu gönnen, es
könnte noch eine zweite Halbzeit geben.

von stefan kornelius

E


s gab Zeiten, da wäre der Besuch
eines amerikanischen Außenminis-
ters in Deutschland keiner besonde-
ren Aufmerksamkeit wert gewesen. Es
gab Zeiten, da hätte ein US-Präsident ein
Mauerfalljubiläum zu einer Jubeltour ge-
nutzt. Es gab Zeiten, da hätte eine Bundes-
regierung ihre Beamten im Wochenrhyth-
mus über den Atlantik geschickt, um die
großen Dossiers der Politik abzustim-
men. Diese Zeiten sind vorbei. Neue Zei-
ten sind noch nicht angebrochen. Deutsch-
land und die USA leben in einer Art kaltem
Frieden. Das ist angesichts der Zustände
in Washington nicht schlecht, aber es ist
auch nicht gut.
Wenn US-Außenminister Mike Pom-
peo nun zwei Tage lang Deutschland be-
reist, dann zeugt das Programm von die-
sem wechselseitigen Unbehagen. Pompeo
fährt einerseits in ein Erinnerungsland,
das ihm die Schauplätze seiner Vergangen-
heit als Panzeroffizier an der Frontlinie
des Kalten Kriegs vorführt. Diese Reminis-
zenz ist typisch und zeugt davon, dass
Pompeo wie viele Zehntausend Amerika-
ner dieses Land positiv mit seiner Biogra-
fie verbindet. Am Ende aber verhält es
sich wie mit einem Besuch im Erlebnis-
park: Die echte Welt bleibt draußen.
In der echten Welt dreht sich das Unbe-
hagen zwischen Trump-Amerika und Mer-
kel-Deutschland zunächst um die immer
gleichen Themen: Nord-Stream-Pipeline,
Handelsungleichheit, Rüstungsausga-
ben. Das Klageregister wächst nicht, was
von der wechselseitigen Vorsicht zeugt,
mit der beide Seiten zu Werke gehen. Die
Merkel-Regierung sucht nicht den offe-
nen Konflikt mit den USA, weil Klagen
und Zetern nicht weiterhelfen und noch
kein Rezept für den rationalen Umgang
mit diesem Weißen Haus gefunden wur-
de. Und die Trump-Regierung hat ihrer-
seits die ganz große Konfrontation gemie-

den, die etwa ein Nato-Austritt oder eine
umfassende Zolleskalation hätten auslö-
sen können.
In dieser echten Welt ist Deutschland
mal wieder die nachholende Nation. Ir-
gendwie ist es angekommen, dass die USA
nicht mehr die Rolle im politischen Dasein
spielen werden, wie das in der Prägephase
der Republik (West) der Fall war. Irgend-
wie spüren Wähler und Gewählte, dass die
Gauck’sche Mahnung zu mehr außenpoli-
tischem Verantwortungsbewusstsein rich-
tig war. Was das aber konkret bedeutet,
bleibt zu oft abstrakt. Annegret Kramp-
Karrenbauers Syrien-Vorschlag wurde
von vielen Experten nur deshalb nicht in
Bausch und Bogen verurteilt, weil hier ein
Funken strategisches Bewusstsein auf-
blitzte, der sonst selten zu sehen ist.

Pompeos Besuch sollte daran erinnern,
dass Amerikas langer Arm nicht mehr not-
wendigerweise zum Wohle Deutschlands
hebelt. Und zugleich bleibt dieses Ameri-
ka ein Machtfaktor für Europa, selbst
wenn es die amtierende Regierung in Wa-
shington nicht beabsichtigt. Trumps Syri-
en-Wirrwarr oder die Truppenverlegung
nach Polen zeugen davon.
Eine deutsche Regierung muss die
Reichweite ihres Hebels unter diesen Be-
dingungen dringend neu vermessen. Eine
Außenpolitik ohne die USA ist momentan
nicht vorstellbar, nicht in Afghanistan,
nicht im Nahen Osten, nicht mal bei der
Verteidigung der engsten Nachbarn und
Verbündeten etwa im Baltikum. Eine Au-
ßenpolitik gegen die USA oder gar in einer
vermeintlichen Neutralität zwischen den
Polen China und Amerika erst recht nicht.
Es gäbe viel zu klären – selbst wenn kein
Außenminister zu Besuch käme.

Z


um Selbstverständnis seriöser Wis-
senschaftler gehört es, in politi-
schen Fragen zurückhaltend zu blei-
ben. Man liefert die Daten, die Fakten, den
Sachstand. Wie damit umzugehen ist,
bleibt der Gesellschaft überlassen. Was
also geht vor, wenn plötzlich mehr als
11000 Wissenschaftler in einem alarmie-
renden Appell politisches Engagement
fordern? Ganz einfach: Die Experten sind
verzweifelt.
Das Handeln der Weltgemeinschaft
steht in derart krassem Widerspruch zu
den Erkenntnissen der Klimaforschung,
dass sich Wissenschaftler gezwungen se-
hen, ihre akademische Komfortzone zu
verlassen. Sie sehen die Erde auf ein Zeit-


alter zusteuern, in dem die Lebensgrund-
lagen von Milliarden Menschen bedroht
sind. Doch die Weltgemeinschaft geht da-
mit um, als sei es ein Luxusproblem, das
sich mit ein paar politischen Kniffen lösen
lässt, siehe deutsches Klimapaketchen.
Unproblematisch ist es natürlich nicht,
wenn Wissenschaftler protestieren. Sie
wirken plötzlich selbst wie Lobbyisten im
üblichen Kräftemessen der Politik. Doch
Nichtwissenschaftler sollten die Appelle
der Fachleute richtig deuten. In einem
brennenden Haus ist es schließlich auch
angemessen, wenn der Professor aus dem
Erdgeschoss „Feuer!“ ruft. Vor allem
dann, wenn er ein Experte für Brand-
schutz ist. patrick illinger

U


nter Kontrolle“ wolle er die Migrati-
onspolitik bekommen, sagt Frank-
reichs Premier Édouard Philippe.
In Paris wird man relativ einfach überprü-
fen können, ob dieses Versprechen ernst
gemeint ist. Denn Kontrolle müsste auch
bewirken, dass die Versorgung von Flücht-
lingen funktioniert. Auf den Bürgerstei-
gen der Hauptstadt kann man eindrück-
lich das Gegenteil sehen.
Entlang der Stadtautobahn, an den ver-
armten Rändern der Metropole, schlafen
Tausende Asylbewerber in Zelten. Darun-
ter sind Familien, sogar Babys. Hilfsorga-
nisationen schätzen, dass zwei Drittel die-
ser Obdachlosen einen Asylantrag gestellt
haben. Sie wollen nicht unter dem Radar


des Systems verschwinden, sie warten dar-
auf, endlich von dem System erfasst zu
werden.
Das Elend der Flüchtenden entgeht nie-
mandem. Und wird doch ignoriert. Allen
voran von der Regierung, die sich auf der
Position ausruht, die Stadt Paris sei dafür
verantwortlich, wie sie die Menschen ver-
sorgt. Tatsächlich sind die unwürdigen Zu-
stände jedoch Teil des Abschreckungskal-
küls: Wenn wir die Flüchtenden schlecht
genug behandeln, werden sie irgendwann
wegbleiben. Diese Rechnung aber geht
nun seit Jahren nicht auf – und wird von
Kindern bezahlt, die im beginnenden Win-
ter ohne Schutz in der Gosse leben müs-
sen. nadia pantel

D


er Zweck des Atomabkommens
mit Iran ist, dem Regime in Tehe-
ran jeden erdenklichen Zugang zu
Nuklearwaffen zu verwehren. Es war rich-
tig und sinnvoll von den Europäern, Ge-
duld zu zeigen und nicht unverhältnismä-
ßig darauf zu reagieren, dass Teheran die
Verpflichtungen aus dem Abkommen
nicht mehr vollständig einhält – immer-
hin ist der Auslöser der Krise der Rückzug
von US-Präsident Trump aus dem Deal.
Allerdings ist mit der Wiederinbetrieb-
nahme der Anreicherungsanlage Fordow
der Punkt erreicht, an dem der Kern des
Abkommens infrage steht. Die Europäer
können nicht liefern, was Iran fordert –
Kompensation für die US-Sanktionen


und die Milliardenausfälle beim Öl-Ex-
port. Anders als Iran glauben machen will,
erwächst diese Pflicht auch nicht aus dem
Abkommen. Teheran hat Frankreichs Ver-
mittlungsversuche ausgeschlagen, und
auch Trump kommt nicht an Bord.
Den Europäern bleibt kaum Spielraum.
Sie sollten nun den Konfliktlösungsme-
chanismus des Abkommens nutzen. Da-
mit wäre ein deutliches Warnsignal an Te-
heran verbunden. Finden die Parteien kei-
ne Einigung, geht das Dossier zurück an
den UN-Sicherheitsrat. Und dieser Mecha-
nismus ist so konstruiert, dass Russland
und China die Wiedereinsetzung der UN-
Sanktionen nicht mit ihrem Veto blockie-
ren können. paul-anton krüger

A

m Sonntag wird in Hannover
der Oberbürgermeister ge-
wählt. In normalen Zeiten wür-
de das über Hannover hinaus
kaum Aufsehen erregen. Die
Zeiten aber sind nicht normal. Nicht für
die SPD, die nach 70 Jahren Regentschaft
in der Stadt keine Chance auf einen Sieg
mehr hat. Und nicht für Millionen Migran-
ten, von denen in dem Grünen-Politiker
Belit Onay erstmals einer den Rathaus-
chef einer Landeshauptstadt stellen könn-
te. Für viele Migranten käme das fast ei-
ner Sensation gleich. Sie haben in den ver-
gangenen Jahren anderes erlebt: Dass sie
als ebenbürtiger Teil dieser Gesellschaft
politisch fast verschwunden sind.
Schaut man ins Bundeskabinett oder
auf die Partei- und Fraktionsspitzen der
Bundestagsparteien – nirgendwo findet
sich auch nur ein einziger Vertreter mit mi-
grantischen Wurzeln, der als Interessen-
vertreter oder Rollenvorbild wirken könn-
te. Deutschland ist zu einem Land gewor-
den, in dem zwar viele Menschen in Ver-
bänden und Parteien von Vielfalt und
Weltoffenheit reden, sich aber Hundert-
tausende, wenn nicht Millionen von die-
sen Parteien und Verbänden kaum mehr
vertreten fühlen. Gemeint sind Menschen
ausländischer Herkunft, die über die hefti-
gen Debatten der vergangenen Jahre aus
dem Blick geraten sind. Flüchtlingskrise,
Terroranschläge, Kriminalfälle mit aus-
ländischen Tätern – all das hat die Diskus-
sionen und Stimmungen so sehr verän-
dert, dass die große Mehrheit der Migran-
ten, die mit Terror und Kriminalität nicht
das Geringste zu tun hat, politisch kaum
mehr ein Thema ist.


Laut der Bundeszentrale für politische
Bildung leben heute ungefähr 20 Millio-
nen Menschen mit ausländischen Wur-
zeln in Deutschland; davon besitzen
knapp die Hälfte einen deutschen Pass. Ei-
ne prägende Stimme, gar eine politische
Mitbestimmung in der vordersten Reihe
fehlt ihnen spätestens seit der gescheiter-
ten Rückkehr von Cem Özdemir in den
Fraktionsvorsitz der Grünen trotzdem.
Im Bundestag haben acht Prozent der Ab-
geordneten ausländische Wurzeln. In der
Unionsfraktion erreicht ihre Quote gerade
einmal 2,9 Prozent. Das macht deutlich,
wie schlecht es um Beteiligung und Mit-
sprache bestellt ist.
Ja, in allen Parteien gibt es Arbeitsgrup-
pen zu der Thematik. Und alle Parteien be-
stehen darauf, dass auch Nicht-Migran-
ten das Leben der Migranten im Blick hät-


ten. Allein, die Erfahrungen vieler Migran-
ten gehen seit Jahren in eine andere Rich-
tung. Schaut man auf die Themen, für die
sich die Parteien engagieren, so sind dies
Klima und Grundrente, die Zukunft der
Automobilindustrie, der Rechtsextremis-
mus und die Ost-West-Probleme. Außer-
dem geht es um die Welt draußen, um Do-
nald Trump und den Brexit. Aber die Stra-
tegie, mit der weltoffene Parteien die
fremdenfeindliche Rhetorik der AfD am
stärksten kontern könnten, also eine
selbstbewusste Beteiligung aller gesell-
schaftlichen Gruppen in Führungsgremi-
en und an Entscheidungsprozessen, wird
kaum mehr verfolgt.
Aus Sicht der Migranten ist das bitter.
Für die AfD dagegen dürfte es der größte
politische Erfolg überhaupt sein. Das Gift
der Ausländerfeinde hat zu wirken begon-
nen. Dass die Hoffnungen und Sorgen von
Millionen Menschen, von denen ein Teil
seit Jahrzehnten in Deutschland lebt, ar-
beitet, Kinder erzieht und Firmen grün-
det, in der Politik kaum mehr eine Rolle
spielen, wird für die AfD eine Genugtuung
sein. Und nicht nur das: Wenn stimmt,
was Fußballer, Wissenschaftlerinnen, Mu-
siker, auch Handwerker mit türkischen
oder iranischen, serbischen oder polni-
schen Herkunftsgeschichten erzählen,
dann wächst in Behörden oder Vereinen
wieder das, was sie für überwunden hiel-
ten: die Abgrenzung, die Distanz, das Des-
interesse. In Zusammenschlüssen wie
den Neuen Deutschen Organisationen
führt das zu Frust und Entfremdung. Dort
hat sich der Eindruck festgesetzt, dass al-
le Parteien als Reaktion auf die Ausgren-
zungsrhetorik der AfD kaum mehr über
Migration und Integration sprechen.
So macht sich bei vielen Menschen, de-
ren Eltern aus der Türkei oder Iran, aus
Afrika oder Asien stammen, das Gefühl
breit, auf sich alleine gestellt zu sein. Da-
mit riskieren alle Parteien, dass sich aus-
gerechnet jene von ihnen abwenden, die
seit Jahrzehnten auf mehr politische Betei-
ligung gehofft haben. Aber wer glaubt, die-
se Menschen seien unpolitisch, irrt sich.
Es ist bezeichnend, dass gerade in ihren
Kreisen heute über eine Migrantenpartei
nachgedacht wird.
Ja, es galt lange Zeit als ungeschriebe-
nes Gesetz, dass die Migranten in Deutsch-
land viel zu heterogen seien, um eine Par-
tei zu gründen. Das aber muss nicht ewig
gelten. Die Aggressionen der AfD und das
zögerliche Verhalten der Parteien haben
für manchen die Lage verändert. Gemeint
sind nicht jene, die wie die AKP-Getreuen
oder die PKK-Sympathisanten fremde
Konflikte nach Deutschland tragen. Ge-
meint sind jene, die alle Spaltungen über-
winden möchten. Sie wollen nur eines: in
Deutschland endlich dazugehören.

Boris Johnson wollte Labour
-Chef Jeremy Corbyn kritisie-
ren und ist in seinem Drang
nach scharfen Pointen beim
sowjetischen Diktator Stalin
fündig geworden. Labour wolle die Steu-
ern für Wohlhabende erhöhen und zeige
dabei, so der britische Premier, eine
„Freude und Rachsucht auf Menschen,
die seit der Verfolgung der Kulaken
durch Stalin nicht zu sehen war“. Doch
mit Stalins Kulaken-Politik hat das alles
nichts zu tun. Das russische Wort Kulak
heißt „Faust“, Kulaken wurden im zaristi-
schen Russland Bauern genannt, die rela-
tiv wohlhabend waren. Lenin machte ei-
nen zunehmenden Klassengegensatz zwi-
schen Kulaken und bäuerlichem Proleta-
riat aus, Stalin nutzte das schwindende
Ansehen dieser Gruppe brutal aus. Ende
der Zwanzigerjahre galten Kulaken als
Wucherer, Ausbeuter; sie gerieten ins
Zentrum der Stalin’schen Sowjetpropa-
ganda und der Repressionen. Wer aber ge-
nau ein Kulak war, wurde immer willkür-
licher definiert, es reichte irgendwann, ei-
ne Magd, einen Knecht zu beschäftigen,
eine Kuh zu besitzen. 1930 beschloss das
Regime, das Kulakentum als Klasse zu li-
quidieren. Kulaken, wer auch immer so
stigmatisiert war, wurden enteignet, in
entlegene Lager deportiert oder als „Kon-
terrevolutionäre“ erschossen. Es folgte
die wohl größte Hungersnot der sowjeti-
chen Geschichte. nien

4 1MG (^) MEINUNG Donnerstag, 7. November 2019, Nr. 257 DEFGH
FOTO: SEBASTIEN ST-JEAN/AFP
BUNDESREGIERUNG
Kleines, feines Zeugnis
AMERIKA UND DEUTSCHLAND
Im kalten Frieden
KLIMAFORSCHUNG
Der Professor ruft „Feuer“
FRANKREICH
Schäbiges Kalkül
IRAN
Zeit für eine klare Warnung
Ohne Saft sz-zeichnung:wolfgang horsch
MIGRANTEN
Dummes Desinteresse
von stefan braun
AKTUELLES LEXIKON
Kulaken
PROFIL
Witold
Bańka
BaldVorläufer
im Kampf
gegen Doping
Die Zwischenbilanz ist recht gut,
sie wird der Koalition
aber nur wenig nützen
Die USA bleiben eine Macht
in Europa, selbst wenn die
Entfremdung überwältigend ist
In der Politik sind Menschen mit
ausländischen Wurzeln kaum
vertreten. Das freut die AfD

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