Süddeutsche Zeitung - 07.11.2019

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München– DieZahl der Familienangehöri-
gen, die zu Flüchtlingen mit subsidiärem
Schutzstatus in Deutschland nachziehen
wollen oder bereits gekommen sind, ist
deutlich geringer als ursprünglich von der
Bundesregierung erwartet. Laut aktuellen
offiziellen Zahlen sind es insgesamt rund
32 000 engste Verwandte, die seit August
2018 ein Visum bekommen haben oder
noch darauf warten. Bundesinnenminister
Horst Seehofer (CSU) hatte dagegen mit bis
zu 300 000 Angehörigen gerechnet; ande-
re Unionspolitiker hatten vor noch höhe-
ren Zahlen gewarnt. Der mehr als zwei Jah-
re lang unterbundene Nachzug engster Ver-
wandter zu subsidiär Geschützten, darun-
ter sehr viele Syrer, war einer der Streit-
punkte während der Koalitionsverhand-
lungen zwischen Union und SPD.


Seit August vergangenen Jahres dürfen
monatlich maximal 1000 Personen legal
nachziehen. Seither wurden gut 11 000 Vi-
sa erteilt, knapp 21 000 Angehörige warten
noch auf die Papiere. Im August und Sep-
tember wurde das Kontingent von 1000
gar nicht ausgeschöpft, es wurden jeweils
weniger als 800 Visa vergeben. Aufgrund
der humanitären Härtefallregelung wur-
den zuletzt kaum mehr Visa vergeben: Seit
Ende 2018 waren es drei.
Diese Zahlen nennt das Innenministeri-
um auf eine Anfrage der Linksfraktion. Die-
se sieht darin den Beleg, dass die Union mit
völlig übertriebenen Prognosen gearbeitet
habe. Die innenpolitische Sprecherin der
Linken, Ulla Jelpke, kritisiert die Bundesre-
gierung für ihre Nachzugspolitik: „Die An-


gehörigen befinden sich seit Jahren in ei-
ner verzweifelten Situation, ihr Schicksal
ist der Koalition, die sich von rechten Popu-
listen hat treiben lassen, aber offenkundig
egal.“ Insbesondere sieht Jelpke die SPD in
der Pflicht, ihre Zusagen für eine humanitä-
re Nachzugspolitik umzusetzen. Das SPD-
geführte Auswärtige Amt von Heiko Maas
ist das Nadelöhr bei der Visavergabe, es
gibt lange Wartezeiten für Termine bei den
deutschen Auslandsvertretungen.
Noch immer nicht geklärt hat die Bun-
desregierung, ob in Deutschland ein Urteil
des Europäischen Gerichtshofs vom April
2018 umgesetzt wird. Die Richter hatten
entschieden, dass anerkannte jugendliche
Flüchtlinge auch dann ihre Angehörigen
nachholen dürfen, wenn sie während des
Asylverfahrens volljährig geworden sind.
Weil sich das Urteil auf einen Fall aus den
Niederlanden bezieht, hält es die Bundesre-
gierung für nicht auf Deutschland über-
tragbar; sie will weitere Urteile deutscher
Gerichte abwarten.
Die Hilfsorganisation Unicef fordert,
das Wohl von Kindern in Asyl- und Rück-
kehrprozessen stärker zu berücksichtigen.
„Jede Entscheidung über den Aufenthalts-
status bestimmt fundamental das weitere
Leben der Kinder“, sagte der Geschäftsfüh-
rer von Unicef Deutschland, Christian
Schneider, in Köln. Ein neuer Bericht des
UN-Kinderhilfswerks zeige, dass auch in
Deutschland das Wohl von Kindern bei sol-
chen Entscheidungen noch nicht umfas-
send oder vorrangig berücksichtigt werde.
Kinderspezifische Fluchtursachen wie ei-
ne drohende Rekrutierung als Kindersol-
dat oder Zwangsheirat würden in der per-
sönlichen Anhörung im Asylverfahren
beispielsweise nicht obligatorisch abge-
fragt, heißt es in dem Bericht „Child-sensi-
tive return“. beka, kna

Berlin– Nach der illegalen Wiedereinreise
eineserst kürzlich abgeschobenen Clan-
Mitglieds verschärft Deutschland noch ein-
mal die Kontrollen an seinen Grenzen. Ein
Erlass von Bundesinnenminister Horst
Seehofer (CSU) sieht vor, dass die Bundes-
polizei ab sofort ihre Kontroll- und Fahn-
dungsmaßnahmen intensiviert – vor al-
lem unmittelbar an den Grenzen. Perso-
nen mit einer Einreisesperre für Deutsch-
land sollten so möglichst schon dort zu-
rückgewiesen werden, erklärte ein Ministe-
riumssprecher am Mittwoch in Berlin.
Erst Anfang Oktober hatte Seehofer die
Bundespolizei angewiesen, die Schleier-
fahndung im Grenzgebiet auszuweiten. An-
gesichts aktueller Fallkonstellationen sei
aber eine erneute Anpassung notwendig
gewesen, sagte sein Sprecher. Vor wenigen
Tagen war ein kriminelles Mitglied des Mi-
ri-Clans wieder in Bremen aufgetaucht,
nachdem der Mann erst im Juli nach Liba-
non abgeschoben worden war. „Der Fall Mi-
ri ist ein Lackmustest für die wehrhafte De-
mokratie“, sagte Seehofer derBild. „Wenn
sich der Rechtsstaat hier nicht durchsetzt,
verliert die Bevölkerung das Vertrauen in
unser gesamtes Asylsystem.“
Die verschärften Grenzkontrollen – die
den Angaben zufolge „bis auf Weiteres“ gel-
ten – stoßen bei den Polizeigewerkschaf-
ten auf ein positives Echo. Jörg Radek von
der Gewerkschaft der Polizei (GdP) sagte,
die Mischung von zeitlich flexiblen Grenz-
kontrollen und einer Ausweitung der
Schleierfahndung sei „für eine Filterfunkti-
on im Grenzraum optimal“. Allerdings
wies er darauf hin, dass eine hohe Kontroll-
dichte wegen der Personalknappheit nicht
möglich sei. Die Bundespolizei fahre schon
jetzt „unter Volllast“, beklagte Radek. Wie
groß der Personalbedarf für die jetzt einge-
leiteten Maßnahmen ist, blieb zunächst je-
doch unklar. dpa

von nico fried

Hätte man von diesem Auftritt in der Lob-
bydes Kanzleramtes den Fortbestand der
großen Koalition abhängig gemacht, dann
wäre die Regierung am Ende gewesen,
noch ehe Angela Merkel und Olaf Scholz
nach wenigen Minuten wieder im Fahr-
stuhl verschwanden. Die Kanzlerin von der
CDU und ihr Vize von der SPD nutzten am
Mittwochvormittag die Übergabe des Jah-
resgutachtens der sogenannten fünf Wirt-
schaftsweisen, um gleich auch noch für die
große Koalition zu werben – besser gesagt:
Sie nutzten die Gelegenheit gerade nicht.
Merkel sprach in ihrem kurzen State-
ment zur Bestandsaufnahme der bisheri-
gen Arbeit in größtmöglicher Allgemein-
heit und mit geringstmöglicher Emphase
über Strukturwandel und Digitalisierung,
über Mobilität und Klimaschutz, Familien-
förderung und Wohnungsbau. Sie könne
jetzt nicht auf alle Maßnahmen eingehen,
so die Kanzlerin, was dazu führte, dass sie
auf fast gar keine Maßnahme einging. Die
Kanzlerin sprach stattdessen von Paketen,
die von der Regierung beschlossen worden
seien, „die ihresgleichen suchen“, und da-
von, dass die Koalition von 300 „Großmaß-
nahmen“ aus dem Koalitionsvertrag zwei
Drittel bereits auf den Weg gebracht oder
sogar abgeschlossen habe. Daraus leitete


sie ab, dass die Koalition „arbeitsfähig und
arbeitswillig“ sei.
Olaf Scholz stand für sein Statement an
der Stelle zur Rechten Merkels, wo sonst
Staatsgäste wie der irakische Premiermi-
nister oder der albanische Präsident ste-
hen. Scholz modulierte während seiner Äu-
ßerungen weder seine Stimme noch seine
Gesichtszüge. Es gehe darum, so der Vize-
kanzler, mit dem Strukturwandel „dafür
zu sorgen, die neuen Wohlstandszyklen

für die Volkswirtschaft möglich zu ma-
chen“. Das stimmt vielleicht sogar, aller-
dings könnten solche Formulierungen im
Zweifel nicht ausreichen, um einen SPD-
Parteitag davon zu überzeugen, dass in der
Koalition noch irgendein politischer Wohl-
standszyklus für die Sozialdemokraten
möglich wird. Doch ist eben dieser Partei-
tag im Dezember nun für den Fortbestand
der Regierung die entscheidende Hürde.
Halbzeitbilanz der großen Koalition.
Auf Drängen der SPD hatte man im Früh-
jahr 2018 die entsprechende Regelung ge-
troffen: „Zur Mitte der Legislaturperiode
wird eine Bestandsaufnahme des Koaliti-

onsvertrages erfolgen, inwieweit dessen
Bestimmungen umgesetzt wurden oder
aufgrund aktueller Entwicklungen neue
Vorhaben vereinbart werden müssen.“ Die
Bestandsaufnahme liegt seit dem Diens-
tagabend vor, sie hat 83 Seiten und wurde
am Mittwoch im Kabinett ohne größere
Aussprache zur Kenntnis genommen.
Jedes Ressort war aufgerufen, die Pro-
jekte aufzulisten, die in seiner Verantwor-
tung auf den Weg gebracht worden waren.
Kanzleramtschef Helge Braun, der für die
Erstellung des Konvoluts zuständig war,
soll sich in der Kabinettssitzung für die um-
fangreiche Zuarbeit der Ministerien be-
dankt haben. Ein Minister, so hieß es hin-
terher, habe dies mit dem sarkastischen
Satz kommentiert, es sei an der Außendar-
stellung der Koalition wohl manches zu kri-
tisieren, nicht aber, dass man nicht fleißig
sei. Helge Braun übrigens durfte dann mit
zum Pressetermin und auf die Fotos, viel-
leicht als Belohnung.
Bei diesem Pressetermin im Kanzler-
amt verwies Vizekanzler Scholz später dar-
auf, dass die Regelung zur Halbzeitbilanz
im Koalitionsvertrag disziplinierenden Ef-
fekt gehabt habe. „Es hat bewirkt, dass
man es auch schnell angeht“, sagte er mit
Blick auf den Inhalt der Koalitionsverein-
barungen. Hinter Merkel und Scholz stan-
den Arbeitsminister Hubertus Heil und Ge-

sundheitsminister Jens Spahn. Sagen durf-
ten sie nichts, aber beifällig nicken. Beide
sind zum ersten Mal Minister und personi-
fizieren einen gewissen juvenilen Elan, der
die Drohung einer Halbzeitbilanz gar nicht
gebraucht hätte. Allerdings stehen die bei-
den auch für ein Projekt, das wie kein ande-
res versinnbildlicht, welche Bremswir-
kung diese Koalition auch entfalten kann:
die Grundrente.
Letztlich hängt die Zukunft der Koaliti-
on wohl nicht an der nun vorgelegten Be-
standsaufnahme, über die als nächstes die
Parteigremien beraten werden, sondern
daran, ob am kommenden Wochenende
endlich ein einvernehmlicher Beschluss
über die neue Sozialleistung erzielt wird.
Seit Sozialminister Heil sein Konzept im Fe-
bruar dieses Jahres erstmals öffentlich lan-
cierte, wären dann bis zur Einigung mehr
als neun Monate, mehrere Koalitionsaus-
schüsse und unzählige Verhandlungsrun-
den der zuständigen Arbeitsgruppe vergan-
gen. „Arbeitswillig und arbeitsfähig“ zu
sein, wie es Merkel formulierte, hat eben
auch zweifelhafte Seiten.

Berlin– Soll und Haben der Koalition fül-
len 83 klar gegliederte Seiten: Was ist er-
reicht, was steht an? Es ist ein nüchternes
Papier, ohne Überschwang. Ein Überblick.

Europa


Europapolitisch steht die bevorstehende
Schlacht um den EU-Haushalt im Mittel-
punkt. „Wir sind zu höheren Beiträgen
Deutschlands zum EU-Haushalt bereit“, be-
kräftigt die Bundesregierung zwar ein Ver-
sprechen des Koalitionsvertrages. Was das
genau heißt, lässt sie aber offen. Klarge-
stellt hat sie aber bereits, dass sie maximal
ein Prozent der Wirtschaftsleistung bei-
steuern will. Durch den Brexit stiegen die
Beiträge ohnehin schon, argumentiert sie.
Die EU-Kommission würde den Beitrag
gerne auf 1,1 Prozent der Wirtschaftsleis-
tung anheben. Bekräftigt wird noch ein-
mal die Zusage, die Verteidigungsausga-
ben weiter zu erhöhen, um sich der Nato-
Quote von zwei Prozent anzunähern. Die
Bundesregierung stehe dazu, bis 2024 1,
Prozent des Bruttoinlandsproduktes für
die Verteidigung auszugeben, heißt es. Al-
lerdings nur „im Rahmen der haushalteri-
schen Möglichkeiten“.

Migration und Integration


Migration steuern und ordnen, ohne die
Humanität außer Acht zu lassen, so lautet
die Marschroute von Bundesinnenminis-
ter Horst Seehofer (CSU). Das Thema sorg-
te von Anfang an für Streit. So wurde der
Rechtsanspruch auf Familiennachzug für
Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz abge-
schafft. Laut Halbzeitbilanz wurden aber
11 600 Einzelanträge bewilligt. Das Fach-
kräfteeinwanderungsgesetz erleichtert
Nicht-EU-Bürgern mit Berufsausbildung
die Einreise. Geduldete, gut integrierte
Flüchtlinge sollen mehr Chancen auf dem
Arbeitsmarkt bekommen. Die Einreise zur
Ausbildung wird etwas einfacher. Eine
Kommission soll einen „Nationalen Inte-
grationsplan“ erarbeiten.
„Mittlerweile haben 14 Anker- und funk-
tionsgleiche Einrichtungen in sechs Län-
dern den Betrieb aufgenommen“, heißt es
in der Bilanz. Gemeint sind die von Seeho-
fer geforderten zentralen Einrichtungen,
in denen Flüchtlinge bleiben sollen, bis ihr
Asylverfahren abgewickelt ist oder sie ab-
geschoben werden. Einige Länder haben
solche Zentren eingerichtet, die Mehrheit
aber bleibt bei der bisherigen Praxis.
Die Bundesregierung will abgelehnte
Asylbewerber schneller abschieben. Wer
seine Identität verschleiert, kann leichter
in Haft genommen werden. Abschiebehäft-
linge können auf dem Gelände von Straf-
haftanstalten festgehalten werden, ob-
wohl das dem EU-Recht widerspricht. Alge-
rien, Marokko, Tunesien und Georgien sol-
len als sichere Herkunftsstaaten gelten. Ei-
ne Verbesserung der Rückführungsabkom-
men mit Herkunftsländern steht noch aus.
Seehofers Vorstoß, einen europäischen Ver-
teilmechanismus für Flüchtlinge aus See-
notrettung einzurichten, unterstützen bis-
her nur wenige EU-Staaten.

Wohnen


Der Bund stellt den Ländern bis 2021 fünf
Milliarden Euro für sozialen Wohnungs-
bau zur Verfügung. Damit „können über
100 000 neue Sozialwohnungen gebaut
werden“, so die Bilanz. Passiert ist aber we-
nig. Weil Baugrundstücke fehlen, sollen
Bund und Bahn AG Liegenschaften verbil-
ligt an Kommunen abgeben. Private Woh-
nungsbauer werden steuerlich entlastet.

Das Baukindergeld erleichtert Familien
mit einem Jahreseinkommen bis etwa
100 000 Euro Erwerb von Wohneigentum.
Bisher wurden Anträge in Höhe von 3,1 Mil-
liarden Euro gestellt. Die Mietpreisbremse
stärkt Mieterrechte. Trotz Kritik am Berli-
ner Mietendeckel heißt es in der Bestands-
aufnahme: „Die Bundesregierung wird zu-
dem für bundeseigene Wohnungen einen
Mietendeckel in angespannten Wohnungs-
märkten und in Großstädten festlegen.“

Gleichwertige Lebensverhältnisse


Die Abteilung Heimat des Bundesinnenmi-
nisteriums hat bisher wenig erreicht. Zur
Stützung strukturschwacher Regionen sol-
len Behörden und Forschungszentren aufs
Land umziehen. In Kohleregionen sollen
so 950 neue Jobs entstehen, wenn auch
nicht für Kohlekumpel. Bis 2021 bekom-
men Länder und Kommunen 10,7 Milliar-
den Euro für Flüchtlinge. Die Gemeinde-
verkehrsfinanzierung wird aufgestockt.
Noch ungelöst ist die Tilgung der Altschul-
den von Kommunen.

Polizei und Justiz


Der Bund unterstützt die Länder bei der
Schaffung von 2000 neuen Stellen in Ge-
richten. Bundespolizei und Zoll bekom-
men 15 000 neue Stellen. Bund und Länder
haben sich verpflichtet, im Sicherheitsbe-
reich bis 2021 je 7500 neue Stellen zu finan-
zieren. Das polizeiliche Informationswe-
sen soll „umfassend modernisiert“ und
Rechtsextremismus schärfer bekämpft
werden. Wer mit ausländischen Terrormili-
zen kämpft, verliert den deutschen Pass.
Bürger und Wirtschaft sollen besser vor Cy-
berangriffen geschützt werden. Umstrit-
ten ist noch Seehofers Vorhaben, dem Ver-
fassungsschutz den Zugang zu Nachrich-
ten von Messengerdiensten zu eröffnen.

Klima und Energie


Mit dem Klimapaket hat man erst einmal
gut zu tun. Zwar liegen erste Gesetze im
Bundestag, andere müssen aber folgen:
das Gesetz über den Kohleausstieg, einheit-
liche Vorgaben für den Bau von Windrä-
dern oder die Förderung von Wasserstoff-
technologie, der sich der Bund stärker ver-
schreiben will. In einer „Konzertierten Ak-
tion Mobilität“ will die Koalition den Um-
bau der Verkehrswelt voranbringen. Neue
Ziele für Klima, Umwelt und Verkehr setzt
sie sich aber nicht. dbr, lion, miba

Total verschätzt


Angehörigevon Flüchtlingen zieht es kaum nach Deutschland


Verschärfte Kontrollen


an den Grenzen


Bloß keinen Überschwang


Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr Vizekanzler Olaf Scholz machen Bestandsaufnahme – und vermeiden dabei
jeden Anschein, sie müssten für die große Koalition und deren Zukunft werben

Woher kommen wir,


wohin gehen wir?


Die Koalition zieht Bilanz – und will zeigen, was sie noch kann


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auchden Podcast.
 sz.de/nachrichtenpodcast

Berlin– Einen Tag nachdem das Bundes-
verfassungsgericht die bestehenden Hartz-
IV-Sanktionen für teilweise verfassungs-
widrig erklärt hat, wird über die Konse-
quenzen diskutiert. Der Juso-Vorsitzende
Kevin Kühnert kündigte an, auf dem SPD-
Parteitag über die Abschaffung sämtlicher
Sanktionen abstimmen zu lassen; die
Karlsruher Richter hatten dagegen Kür-
zungen von bis zu 30 Prozent des Regelbe-
darfs für rechtens erklärt. „Wir Jusos wer-
den dann beantragen, dass die SPD künf-
tig komplett auf Sanktionen verzichtet
und stattdessen Förderung, Ermutigung
und den Rechtsanspruch auf Qualifizie-
rung und Weiterbildung in den Mittel-
punkt stellt“, sagte Kühnert derRheini-
schen Post.
Der Vorstandsvorsitzende der Bundes-
agentur für Arbeit (BA) dagegen, Detlef
Scheele, begrüßte es zwar, dass besonders
harte Sanktionen als verfassungswidrig
eingestuft wurden: „Wir haben immer ge-
sagt, dass die 100-Prozent-Sanktionie-
rung und die Kürzung der Miete kontrapro-
duktiv sind, weil wir die Menschen verlie-
ren“, sagte er derSüddeutschen Zeitung.Er
betonte aber, der „Grundsatz vom Fordern
und Fördern“ habe weiter Bestand, „und
die Mitwirkungspflicht ist ausdrücklich be-
stätigt worden“. Das sei „ein gutes Urteil“.
Scheele machte zudem deutlich, dass
pro Monat nur drei Prozent aller Hilfeemp-
fänger sanktioniert würden. 97 Prozent
der Menschen verhielten sich vollkommen
regelkonform. „Uns geht es in der alltägli-
chen Praxis nicht vorrangig um die Frage,
ob wir Sanktionen richtig anwenden“, sag-
te der BA-Chef Scheele, „sondern um die
Frage von Förderung, Vermittlung in Ar-
beit und Rückkehr ins Arbeitsleben. Das
ist der Auftrag unserer Jobcenter und dar-
an arbeiten unsere Kolleginnen und Kolle-

gen viel lieber als daran, jemanden zu sank-
tionieren.“
Bundessozialminister Hubertus Heil
(SPD) hatte nach dem Urteil betont, die
Maßgaben des Gerichts gälten „ab sofort“.
Sein Haus werde umgehend auf BA, Län-
der und Kommunen zugehen, „um die
rechtssichere Anwendung in den Jobcen-
tern zu gewährleisten“. Scheele sagte, es
müsse geklärt werden, wie sie dem
Wunsch des Gerichts, Härtefälle besser zu
berücksichtigen, gerecht werden könnten.
„Und wie wir Sanktionszeiten verkürzen
können – was wir bisher nicht durften –
wenn Menschen sich entscheiden, ihrer
Mitwirkungspflicht wieder nachzukom-
men.“ Bislang gelten Sanktionen immer

drei Monate, auch wenn die Betroffenen
nachholen, was sie versäumt hatten. Das
darf nach der Urteil nicht so bleiben.
Heil hatte zudem angekündigt, die be-
sonders strengen Sanktionen für unter
25-Jährige zu prüfen, obwohl diese nicht
Gegenstand der Verhandlung in Karlsruhe
waren. In dieser Altersgruppe können die
Leistungen bis hin zur Miete schneller ge-
strichen werden als für ältere Hartz-IV-
Empfänger. Die Fraktionsvorsitzende der
Grünen, Katrin Göring-Eckardt, sagte:
„Auch wenn das gestrige Urteil nur die
über 25-Jährigen betroffen hat, ist doch je-
dem klar, dass Respekt und Menschenwür-
de auch für den Umgang mit jungen Men-
schen gelten muss.“ henrike roßbach

Zwei arbeiten zusammen: Kanzlerin Angela Merkel und Vizekanzler Olaf Scholz zu ihrer Rechten am Kabinettstisch. FOTO:JOHN MACDOUGALL/AFP


DEFGH Nr. 257, Donnerstag, 7. November 2019 (^) POLITIK 1MG 5
Zumindest mangelnden Fleiß
könne man der Koalition nicht
vorwerfen, witzelt ein Minister
Wer nicht zum Termin im Jobcenter erschien, dem wurde drei Monate das Geld ge-
kürzt.Dasdarf laut Urteil des Verfassungsgerichts nicht so bleiben. FOTO: O. BERG/DPA
Halbzeitbilanz der Koalition
140 Versprechen haben CDU, CSU und SPD in ihrem
Vertrag gegeben. Davon sind bisher ...
noch nicht begonnen
in Arbeit
umgesetzt
teilweise umgesetzt
gescheitert
SZ-Grafik
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Für humanitäre Härtefälle
wurdenseit Ende 2018
nur drei Visa vergeben
„Ein gutes Urteil“
Wie esnach dem Spruch aus Karlsruhe mit den Hartz-IV-Sanktionen weitergehen soll

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