Süddeutsche Zeitung - 07.11.2019

(nextflipdebug5) #1
von jürgen moises

A


ls eine verrätselte Revue der Gegen-
wart bezeichnen Walter Amann,
Wolfgang Schikora und Ulrich Zie-
rold ihre Arbeiten. Und tatsächlich fällt ei-
nem kaum eine bessere Bezeichnung
dafür ein, für das, was die drei Münchner
Künstler unter dem Namen King Kong
Kunst Kabinett seit 40 Jahren treiben. Ge-
nau genommen war es sogar schon vor
42 Jahren, als sie ihre ersten gemeinsamen
künstlerischen Experimente unternah-
men. Und wenn man komplett bis zu den
Ursprüngen zurück geht, dann sind es so-
gar 51 Jahre King-Kong-Kunst. Denn ken-
nengelernt haben sich Aman, Schikora
und Zierold bereits im Revolutionsjahr
1968 an der Münchner Akademie der Bil-
denden Künste.
Aber so kleinlich wollen wir mal nicht
sein und stattdessen genauso wie die Gale-
rie der Künstler dem Künstlertrio zum run-
den 40. Geburtstag gratulieren. Die Gale-
rie zeigt zu diesem Anlass eine umfangrei-
che Retrospektive mit Objekten, Filmen,
Dokumenten und mit sehr viel Malerei.
Das Besondere an allen ausgestellten Wer-
ken: Sie sind alle Kollektivwerke. Jedes ein-
zelne wurde von allen drei Künstlern si-
gniert. Ein Ich, das gibt es nicht im King
Kong Kunst Kabinett. Ein Name, mit dem
Aman, Schikora und Zierold ursprünglich
ihr 1977 eröffnetes Gemeinschaftsatelier
bezeichneten, das heißt ihren „projektier-
ten Erfahrungs- und Experimentalraum
künstlerischer Kooperation“. Den gibt es in-
sofern nicht mehr als Ulrich Zierold seit
Längerem in Frankfurt lebt.


Den kollektiven Schaffensprozess hat
das sicherlich erschwert. Aber abgebro-
chen ist er nicht, wie zahlreiche neuere Ar-
beiten in der Ausstellung beweisen. Was
die Arbeiten ebenfalls auszeichnet? Ein bis-
siger, gesellschaftskritischer Humor, wie
er eher selten ist in der aktuellen Kunst, so
wie ein damit zusammenhängendes Fest-
halten am Gegenstand, auch wenn man-
che der gemeinsamen Gemälde Tenden-
zen zur Abstraktion aufweisen. Ansonsten
stand der Expressionismus häufig Pate,
manches geht in Richtung Comic, Karika-
tur, Montage, Surrealismus oder bewusst
naive Malerei. Neuere Gemälde wie „Kunst-
stücke“ oder das 2019 entstandene Selbst-
porträt „Die Künstler sind anwesend“ wir-
ken wie mit dem Computer nachbearbeitet
oder komplett damit erstellt.
Was die verhandelten Themen angeht,
so nehmen Aman, Schikora und Zierold po-
litische genauso wie technische oder allge-
mein-gesellschaftliche Entwicklungen
aufs Korn, wie etwa die Auswüchse des Ka-
pitalismus auf Bildern wie „Investoren“
oder „Steueralm“. In „Applaus“ und „Sel-
fies“ spießen sie menschliche Eitelkeiten


auf, in „Lobby“ oder „Naherholung“ den
modernen Lifestyle. Aber das geschieht
nicht plakativ, sondern in ironischen, apho-
ristischen, zuweilen sehr rätselhaften Sze-
nerien. Kunst- und filmhistorische oder
popkulturelle Zitate und Anspielungen,
die gibt es auch. Wie etwa in „Der illustrier-
te Blick auf drei Kulturen“ von 1982, das
als großformatiges Wimmelbild stilistisch
und motivisch Kandinsky Referenz er-
weist. An einer Stelle fliegt Superman
durchs Bild und an einer anderen schwim-
men die Figuren aus Arnold Böcklins
„Spiel der Wellen“.
In „Die Kultur springt“ (1984) sieht man
unter anderem Audrey Hepburn, Groucho
Marx und Humphrey Bogart, und in
„Grand Tour“ (2017) wird in einer kubis-
tisch verschachtelten Szenerie die berühm-
te Brunnenszene aus Fellinis Film „La Dol-
ce Vita“ zitiert. Nur sieht man über Anita
Ekberg einen Hubschrauber, ein ange-
schnittenes Kreuzfahrtschiff, ein Frag-
ment des Kolosseums und den Vatikan.
Eine Kritik am Ausverkauf der italieni-
schen Kultur? Umgekehrt fließt auch die
Malerei in die eigenen filmischen Experi-
mente ein, welche die King-Kong-Künst-
ler im Super-8- oder 16-mm-Format oder
neuerdings digital betreiben. Man könnte
auch sagen, dass sie die Malerei gewisser-
maßen in die vierte Dimension führen.
Ein Beispiel dafür ist die Videoarbeit
„My City“ von 2017, wo die Künstler dem re-
alen München in Form von übermalten
Filmaufnahmen eine Art utopisches, bun-
tes, schräges King-Kong-München gegen-
überstellen. Ein weiteres ist die Filminstal-
lation „Mad Men“ von 2015, in der sie sich
selbst als übermalte Film-Karikaturen als
verrückte Kriegsherren inszenieren. Auch
in den Filmarbeiten „Wasserwelt“ (2000)
und „Erinnerungsinstallation“ (1989) tau-
chen die Künstler selbst als handelnde Fi-
guren auf: im einen Fall als Bootsfahrer
und gedoppelt als kleine hölzerne Spielfi-
guren, im anderen als dunkle Gesellen in ei-
ner Tarkovski-artigen Szenerie.
Weitere Experimente des Trios werden
an diesem Donnerstag um 19 Uhr (von 18
Uhr an mit Führung) bei einem Filmabend
gezeigt: der Episodenfilm „Laboratorium“
(1984), der Zirkusfilm „Getriebe“ (1991) mit
„zweckentfremden Spielzeugfiguren“ so-
wie „Krieg und Frieden“ (1994). Am 15. No-
vember wird das Ganze um 19 Uhr mit Fil-
men wie „Wer will denn als Korkenzieher
weiterleben?“ (1989) fortgesetzt. Und am


  1. November folgt um 19 Uhr mit „Aben-
    teuer in der Südsee“ (1980) und sieben
    Kurzfilmen von 2015 ein dritter Abend, der
    gleichzeitig auch die Finissage darstellt. Ei-
    nen Katalog, den gibt es auch, der die
    40Jahre KKKK aber nur in Ansätzen doku-
    mentieren kann, sowie einen Tisch mit wei-
    teren Katalogen, Büchern, Dokumenten,
    die den Blick in den gewaltigen King-Kong-
    Kosmos ins Historische oder Theoretische
    hin ausweiten.


40 Jahre King Kong Kunst Kabinett; Galerie der
Künstler, Maximilianstraße 42, bis 22. November

München– MancheKünstler schreiben
„Farewell“ auf ihre Plakate. Art Garfunkel
machte das nicht, aber sein Konzert in der
Philharmonie am Abend seines 78. Ge-
burtstags wirkte trotzdem wie ein Ab-
schied. Alles war auf das Nötigste redu-
ziert, die Band, das Programm, die Arrange-
ments. Der Sänger aus New York ließ sich
von Keyboard und Gitarre begleiten, mehr
funktional, als pointiert, denn die beiden
Tourneemusiker bekamen keinen Frei-
raum, um mehr als das zu machen, was in
den entschlackten Songs vorgesehen war.
Die Lieder waren kaum länger als je drei
Minuten, eher Erinnerungsskizzen, als um-
fassende künstlerische Statements. Gar-
funkel sang mit zarter, manchmal brüchi-
ger Stimme, verkürzte Lieder und nahm
nur noch das Wesentliche ins Programm.
Er bot seinem Sohn Art Garfunkel Jr. ein Po-
dium, sich mit transparentem Tenor und
schillerndem Falsett vor Publikum zu be-
währen und gönnte sich Familienduette.
Zwischendurch begrub er alte Zwistigkei-
ten, indem er Paul Simon als seinen „le-
benslangen Bruder“ würdigte und sich in
Ansagen nostalgische Narrative gönnte, et-
wa wie sein Partner ihm damals 1963 in der
Kakerlakenküche in Manhattan die Ur-
form von „Sound Of Silence“ präsentierte.
Zwischendurch sah er Türen im Saal, wo
keine waren, und die er wegen des ent-
schwindenden Chis seiner Konzentration
vom Publikum geschlossen haben wollte.
All das wirkte wie ein Resümee, an man-
chen Stelle wie etwa bei dem elektroni-
schen Shakers in „Homeward Bound“ oder
der synthetischen Oboe von „Bright Eyes“
fast schon zu arg einem klanglichen Reduk-
tionismus verpflichtet. Aber es war eben
Art Garfunkel, der da auf der Bühne stand,
ein freundlicher alter Mann, der in seiner
Jugend vielen Menschen viele schönen Mo-
mente bescherte. Und der sich jetzt mit ei-
ner Hymne an den perfekten Moment und
einem Dank an Gott („sie oder ihn“) für das
ihm gegebene Geschenk der Musik mit
dem Schlaflied „Now I Lay Me Down“ ver-
abschiedete. ralf dombrowski

München– Er mimt den munteren Anima-
teur auf seiner Reise ins „Jiddischland“.
Auf Jiddisch. Eröffnet aber wird der Abend
aber mit „Reisele“, einer dieser wehen Me-
lodien, die jene Jiddischkeit atmen, wie sie
nach 1939 gewaltsam zum Schweigen ge-
bracht worden war. Uwe von Seltmann, ge-
bürtig aus Müsen im Siegerland, studier-
ter evangelischer Theologe, ist, seit er auf
den Dichter und Sänger Mordechai Gebir-
tig aufmerksam wurde, vom Jiddischvirus
befallen. Im Jüdischen Museum, wo er auf
Einladung der Literaturhandlung sein
Buch „Es brennt. Mordechai Gebirtig, Va-
ter des jiddischen Liedes“ vorstellt (Ho-
munculus Verlag), kann er sicher sein, im
Publikum Jiddisch-Sprecher zu finden.
Und selbst unter den Jiddisch-Nicht-
sprechern kennen viele zumindest dieses
eine Buchtitel-gebende Lied „Es brennt“,
vielleicht sogar in der dramatisch-be-
schwörenden Version von Belina aus den
Fünfzigerjahren, die dessen verzweifelten
Kampfgeist hervorhebt. Dieses Lied hat Ge-
birtig, der Bundist, der Sozialist, 1936 ge-
schrieben nach einem Pogrom, also deut-
lich vor dem Einfall der Deutschen in Po-
len, als die Schtetlech brannten und auch
die Menschen darin und „Es brennt“ zur
Hymne jüdischen Widerstands wurde.
170Lieder und Gedichte des Sängers und
Komponisten haben die Schoah überlebt.
Seltmann also hat Hebräisch und Jid-
disch gelernt, hat vier Jahre lang akribisch
recherchiert. Und ist dorthin gezogen, wo
Gebirtig lebte und wirkte, nach Kazimierz,
ins einstige Judenviertel von Krakau. Dort
hatte Mordechai Gebirtig seine Hörer un-
ter den „Luftmenschen“, wie man die nann-
te, die im Schtetl zuhauf von nur wenig
mehr als nichts lebten. Gebirtig selbst wur-
de 1942 im Krakauer Ghetto ermordet. Selt-
mann hat mit seiner umfassenden 400-Sei-
ten-Biografie einen wichtigen Teil dessen
ins Bewusstsein gerückt, was die Nazis aus-
gelöscht haben: die jiddische Kultur. Und:
Der tote Jude, die tote Kultur, sie verkau-
fen sich gut. eva-elisabeth fischer

Kleiner Abschied


Art Garfunkel feiert im Gasteig
Geburtstag – und dankt Gott

München– Erika Mann ist in der Monacen-
sia eine Ausstellung gewidmet, 1943 hat
sie geschrieben: „Das einzige ‚Prinzip‘, an
das ich mich halte, ist mein hartnäckiger
Glaube an einige grundlegende morali-
sche Ideale – Wahrheit, Ehre, Anstand,
Freiheit, Toleranz.“ Den Organisatoren
dient das Zitat der Autorin, Kabarettistin,
Kriegsreporterin als Grundlage für eine De-
battenreihe zu den Fragen: Wie steht es
um diese Werte und Prinzipien heute? Wie
setzen sich Journalisten bei ihrer Arbeit
für diese Werte ein? Und sind diese interna-
tional gültig? Mit dabei sind Richard
C.Schneider, bis 2016 Leiter des ARD-Fern-
sehstudios Tel Aviv; Özlem Topçu, Politik-
redakteurin bei der Zeit, und Sonja Zekri,
SZ-Feuilletonchefin, die unter anderem
als Kriegsreporterin in Syrien war. her

Anstand, Freiheit, Toleranz; Debatte, Monacensia,
Maria-Theresia-Straße 23, Eintritt frei, Anmel-
dung:[email protected]

In Jiddischland


Uwe von Seltmann stellt sein
Buch über Mordechai Gebirtig vor

München–Nirgendwo geht es dem Jazz so
gut wie im Nachwuchsbereich. Von den Mu-
sikhochschulen kommen exzellente Jaz-
zer, immer mehr Festivals nehmen Nach-
wuchs-Wettbewerbe oder -Konzerte ins
Programm, die für Höhepunkte bürgen. So
hat sich auch der bundesweit ausgeschrie-
bene junge Münchner Jazzpreis – von An-
dreas Heuck und seinem Verein Mucjazz in
Zusammenarbeit mit der Unterfahrt, BR
Klassik und der Kulturstiftung der Bayeri-
schen Versicherungskammer ausgerichtet



  • im siebten Jahr als Fixpunkt des hiesigen
    Jazz-Kalenders etabliert.
    Aus 34 Bewerbern hat die Fachjury drei
    Finalisten ausgewählt. Wie meistens sind
    nicht nur unbeschriebene Blätter darun-
    ter. Leléka beispielsweise, das Berliner
    Quartett der Sängerin Viktoria Leléka, hat
    bereits 2018 den Europäischen Nachwuchs-
    preis bei der Jazzwoche Burghausen ge-
    wonnen, seine Instrumentalisten wie der
    Bassist Thomas Kolarczyk gehören auch in
    anderen Projekten zu den erfolgreichen Ak-
    tivposten der deutschen Szene. Lelékas un-
    verwechselbares Rezept ist die Kombinati-
    on von wuchtigem Modern Jazz mit ukrai-
    nischer Volksmusik, das sie mit wandelba-
    rer, zauberhaft lyrischer Stimme, vor al-
    lem aber mit außergewöhnlicher Bühnen-
    präsenz in Szene setzt.
    Auch Mikołaj Suchanek am Piano, Jo-
    nas Mielke am Bass und Jannik Kerkhof
    am Schlagzeug haben bereits in anderen
    Bands Erfahrung und Meriten gesammelt
    und mit ihrem im vergangenen Jahr in
    Dresden gegründetenJMJ Triounlängst
    die „Blue Note Poznan Competition“ ge-
    wonnen. Bereits 2015 versammelte der Sa-
    xofonist Maximilian Shaikh-Yousef in
    Mainz den Pianisten Lukas Moriz, den Bas-
    sisten Bastian Weinig und den Drummer
    Leopold Ebert um sich, um von arabischen
    Klängen und klassischer Literatur beein-
    flussten, melodiebetonten Jazz zu spielen.
    Einer wird gewinnen, in jedem Fall aber
    das Publikum. oliver hochkeppel


Junger Münchner Jazzpreis, Freitag, 8. November,
20, 21 und 22 Uhr, Unterfahrt, Einsteinstraße 42


KURZKRITIK


München– Wahrscheinlich stammt die be-
kannteste Version des Liedes von der Band
Tears for Fears. „Mad World“ durchzieht
hier den ganzen Abend, als Melodierelikt,
zunächst gespielt von Elsie de Brauw auf
einem kleinen Keyboard. Ja, die Welt ist
wahnsinnig geworden, und dort, wo es bis
vor Kurzem ganz besonders wahnsinnig zu-
ging, hat Milo Rau Theater gemacht. Bes-
ser gesagt, einen Film gedreht, in Mossul,
wo der IS ein Kalifat errichtet hatte. Tau-
sende starben, erst unter der religiösen Ter-
rorherrschaft, dann bei der Rückerobe-
rung der Stadt. Was Milo Rau dort drehte,
ist Teil seines Theaterabends „Orest in
Mossul“, den das „Spielart“-Festival zu-
sammen mit den Münchner Kammerspie-
len im Schauspielhaus präsentierte.
Vom Dach eines ehemaligen Kaufhau-
ses, wo man in früheren Zeiten alles be-
kam, auch westlichen Luxus, geht der
Blick über eine kaum endende, menschen-
leere Trümmerlandschaft. Der IS warf von
diesem Dach Homosexuelle in den Tod.
Das sieht man im Film. Auf der Bühne er-
zählt einer der Schauspieler vom NT Gent,
dass ihm ein befreundeter Kriegsreporter
zur Vorbereitung auf den Dreh Filmmateri-
al gegeben hat. 100 Stunden Hinrichtun-
gen. Der IS tötete irakische Soldaten, ließ
Frauen öffentlich erdrosseln.

In der „Orestie“ wird Iphigenie geop-
fert, damit die Götter den Wind schicken,
der die griechische Flotte nach Troja brin-
gen soll. Damit sie die Stadt zerstören kön-
nen. Wie Mossul. Das ist der Konnex: Milo
Rau bringt, live und mittels des Films, die
„Orestie“ auf die Bühne, die antike Saga
von Rache, Mord, Zerstörung. Und er ver-
knüpft sie mit der Geschichte des Iraks
und speziell der von Mossul. Mossul ist Tro-
ja, Troja ist Mossul. Beide Städte sind zer-
stört. Der Schauspieler fragt sich: Warum
töten Menschen?

„Orest in Mossul“ ist zu klug, um einem
nicht nahezugehen. Natürlich, in seiner
perfekten Bauweise ist der Abend auch
höchst manipulativ. Aber muss Theater
nicht manipulativ sein, um Wirkung erzeu-
gen zu können? Wieder hört man „Mad
World“, gespielt von irakischen Musikern
vor den Trümmern einer Kunstschule.
Milo Raus Produktion ist eine der gro-
ßen, international tourenden, die bei
„Spielart“ zu sehen sind. Wie stets stellt
das Festival solche Abende neben kleine,
feine – und lässt den Zuschauer auch mal
allein. Allein mit einem Video von Mats
Staub etwa. Seit Jahren nimmt der Schwei-
zer Künstler Videos auf, in denen Men-
schen erzählen, wie ihr Leben war, als sie
21 Jahre alt waren. „Erinnerungen ans Er-
wachsenwerden“ ist aber auch eine Spiege-

lung: Im Video sieht man Menschen, die
den eigenen Aussagen, die Staub zuvor
aufgenommen hat, zuhören. Manche lau-
schen der eigenen Geschichte wie der
eines Fremden, andere lachen, weinen,
schütteln den Kopf.
Im Ägyptischen Museum sieht man
Menschen aus Afrika, Amerika, Europa.
Frau Krcunović war 1999 21 Jahre alt, sie
lebte in Belgrad, und Belgrad wurde bom-
bardiert. Sie hört zu, wie sie erzählt, dass
Bomben auf Theater fielen, dass sie lernte,
Explosionen zu unterscheiden. Sie erzählt,
dass sie es vorziehe, ein Kind zu bleiben,
muss bei ihren eigenen Worten lachen. Sie
wollte nicht erwachsen werden. Mit 21 sei
sie, trotz dem, was sie umgab, optimistisch
gewesen. Jetzt sei sie manchmal traurig.
Und halt erwachsen.

Wie bei den Zweiergesprächen über Ge-
burt und Tod, die Staub im Rahmen bei
„Spielart“ in der Lothringer 13 zeigte, ver-
blüfft die Offenheit, mit der die Menschen
berichten. Eine Frau erzählt, dass sie da-
mals, betäubt durch K.-o.-Tropfen, in Ams-
terdam vergewaltigt wurde. Einer erzählt
von LSD-Trips, von denen ein Kumpel
nicht mehr runterkam und sich umbrach-
te. Es gibt eine Liebe zum Mathe-Lehrer,
Bürgerkrieg in Kinshasa. Immer wieder
Krieg, der zieht sich durch das ganze Festi-
val. Verdammtes Jahrhundert.
Man kann sich „sein“ Jahr suchen, es
gibt mehr als 20 Videostationen mit je fünf
Filmen, die Altersspanne reicht von 1939 –
also Geburtsjahr 1918 – bis jetzt, seit 2012
zeichnet Staub auf, ein, zwei Jahre wird er
noch weitermachen; immer dort, wo er sei-
ne Arbeit präsentiert, sammelt er auch neu-
es Material. Bald werden also auch Münch-
nerinnen und Münchner dabei sein.
Zu Beginn des Festivals gab es einen klei-
nen Trick, wie man gerade die langen Wo-
chenendtage mit fünf, sechs Aufführun-
gen hintereinander gut durchhalten konn-
te: Man ging zum Teppichweben. In der
Lothringer13 saßen die unendlich freundli-
chen Mitglieder der Wiener Performance-
Truppe God’s Entertainment und woben
unter Anleitung der bosnischen Künstle-
rin Ifeta einen Teppich, einen Ćilim. Der Be-
sucher wurde eingeladen mitzuweben, auf
jeden Fall bekam man einen sensationel-
len Kaffee und der Teppich wuchs, ein Ab-
bild der deutschen Flagge. Später konnte
man dann im Bellevue die Monaco sehen,
was es mit dem Teppich auf sich hatte.
Man fuhr auf Rollen unter dem Teppich
herum und konnte da unten lesen, hören
und sehen, was gern „unter den Teppich“
gekehrt wird: der Arbeiterstrich in Mün-
chen, Nationalismus. Mal kamen unliebsa-
me Bücher in die Mülltonne, daneben sah
man den Wandel eines Münchner Hauses.
1971 lebten darin viele Ausländer und freu-
ten sich, in München Geld verdienen zu
können. Heute klagen die ausschließlich
deutschen Bewohner, dass alles so teuer ge-
worden sei. egbert tholl

Eine antike Trilogie in den Trümmern einer antiken Stadt und auf der Bühne der
Kammerspiele:Milo Raus „Orest in Mossul“. FOTO: MILO RAU

Über Anstand und


Freiheit in der Presse


So klingen Sieger


Die Finalistenkonzerte des
jungen Münchner Jazzpreises

Kriegsherren


der Künste


Eine Ausstellung zu Ehren des
Münchner Kollektivs „King Kong Kunst Kabinett“

Das Gemeinschaftswerk Freilager (oben) stammt aus dem Jahr 2016.
Als Forscherkünstler zeigen sich Walter Amann, Wolfgang Schikora und
Ulrich Zierold 1994 (unten links). Mitten am und im Werk sind sie 1984
(rechts) zu sehen.FOTOS: KING KONG KUNST KABINETT, GALERIE DER KÜNSTLER

Verdammtes Jahrhundert


Bei „Spielart“offenbaren sich Menschen, und man schaut ihnen fasziniert zu


Der Kosmos, den das Trio


in vier Jahrzehnten


geschaffen hat, ist gewaltig


Manche lauschen der eigenen
Geschichte wie der eines
Fremden, andere lachen, weinen

R18 (^) KULTUR Donnerstag, 7. November 2019, Nr. 257 DEFGH

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