Süddeutsche Zeitung - 07.11.2019

(nextflipdebug5) #1
Der Systemwechsel, der im
Herbst 1989 begann, fand
nicht nur in Deutschland
statt. Sondern auch in Polen,
in der Tschechoslowakei, in
Ungarn, im zerfallenden
Jugoslawien. Mit dem
Systemwechsel öffnete sich
der deutsche Markt für
die Literaturen Mittel- und
Südosteuropas.Seite 4

Die Münchner Bücherschau
hat sich in 60 Jahren von
einer exklusiv bayerischen
Leistungsschau zu
einem überregionalen
Kulturereignis entwickelt.
Seite 8

Raoul Schrott erzählt von
Magellans Reise zu den
Gewürzinseln und der
Erstumsegelung der Welt
an einer Nebenfigur. Ein
unbedeutender Seemann
namens Hannes aus Aachen
erlebt wenig Glamouröses
auf dieser Fahrt. Was er gerne
hätte, wäre madenfreier
Zwieback.Seite 5

Rasmus Schöll hat in Ulm
eine Buchhandlung über-
nommen, Florian L. Arnold
dort die Literaturwoche
erfunden. Gemeinsam
haben sie den Verlag
Topalian & Milani gegründet.
Dort erscheint Literatur,
die es vermag, die Welt zu
erklären – oder wie sie sein
könnte.Seite 10

Der Geschwister-Scholl-Preis
geht dieses Jahr an den
türkischen Autor Ahmet
Altan. Erst Anfang November
wurde Altan aus dem Gefäng-
nis entlassen. Was er bei
seiner Verhaftung, in der
Zelle und vor Gericht erlebt
hat, das hat er in „Ich werde
die Welt nie wiedersehen“
aufgeschrieben.Seite 9

von felix stephan

F


ür viele osteuropäische Schriftstel-
ler war das Ende der Sowjetunion
eine zwiespältige Angelegenheit.
Einerseits blickten sie einer Zu-
kunft entgegen, in der es keine staatlichen
Zensurbehörden mehr geben würde, sie
wegen ihrer Texte keine Verfolgung mehr
zu befürchten hatten und Publikationsfrei-
heit herrschte. Andererseits hatte das
Spiel mit den sozialistischen Zensurbehör-
den ganz eigene Techniken des literari-
schen Ausdrucks hervorgebracht: die
Kunst der Parabel, des Zwischentons, der
Zweideutigkeit. Es gab Schriftsteller, die
wahre Meister darin waren, mit ihren Le-
sern im Modus des Uneigentlichen zu kom-
munizieren und in harmlosen Alltagser-
zählungen politische Kritik zu verstecken.
Dieses Talent war
von einem Tag auf den
anderen nicht mehr
gefragt. Viele Schrift-
steller, die im sozia-
listischen Untergrund
Stars waren, haben in
freien Gesellschaften
nie mehr zu alter Gel-
tung gefunden. Dieses
Paradox hat einigen
Verdruss ausgelöst:
Während Autoren, die
sich nie ernsthaft mit den kommunisti-
schen Regimen ihrer Heimatländer ange-
legt hatten, in einigen Fällen auch in der
neuen Zeit ihre Karriere fortsetzen konn-
ten, waren es gerade die Dissidenten und
Widerständler, die mit dem Kommunis-
mus in der Versenkung verschwanden. Die
Zensur und die Dissidenten brauchten
einander. Als das eine verschwand, ver-
schwand auch das andere.
Wenn jetzt, dreißig Jahre nach dem Mau-
erfall, wieder Verluste abgerechnet wer-
den, stehen die Ostdeutschen wie gewohnt
im Zentrum. Jobs sind verlustig gegangen,
das Bruttoinlandsprodukt Ostdeutsch-
lands schrumpfte nach der Wiedervereini-
gung auf 27 Prozent des vorrevolutionären
Niveaus und damit stärker als in jedem an-
deren Staat des Warschauer Paktes. Es wer-
den aber auch wieder Stimmen laut, die
darauf hinweisen, dass es auch das alte
Westdeutschland nicht mehr gibt, dass die
Berliner Republik mit der alten BRD nichts

zu tun hat und dass dieser Verlust ebenso
schwer wiegt und nicht einfach übergan-
gen werden sollte. Es entstehen Bücher
und Essays, in denen kartografiert wird,
was die BRD gewesen sein soll: pazifis-
tisch, eingebettet in den demokratischen
Westen, ausgestattet mit einer sozialen
Marktwirtschaft, die ihren Namen noch
verdiente und, wenn schon nicht in der Ent-
nazifizierung nach 1945, so doch im Auf-
bau einer Erinnerungskultur, die sich den
Verbrechen der Vergangenheit stellte, so
gründlich wie kein anderes Land.
In den Verlagsprogrammen war 2019
auch das Jahr der Rückblicke auf die eige-
ne Jugend in den Siebzigerjahren in Bott-
rop oder in Schleswig-Holstein. Dass diese
Jugend so aufregend war, verdankte sie
einer besonderen Mischung aus Behaglich-
keit und Befreiung. Die Republik war
klein, der Kanzler kam
aus einer der zwei
Volksparteien und die
persönliche sexuelle
Revolution fiel zufällig
mit der gesellschaftli-
chen zusammen. Au-
ßerdem konnte man si-
cher sein, auf der richti-
gen Seite zu leben.
Es war zwar nicht al-
les perfekt, aber im-
merhin war es nicht so
wie auf der anderen Seite. Dieses Gefühl,
und das könnte alle verbinden, gab es auf
beiden Seiten, und beide haben es verlo-
ren. Heute ist Polen zugleich sozial und nati-
onalistisch, das Mutterland des Pop wen-
det sich ab von Europa, und in Deutschland
werfen sich Ost und West gegenseitig vor,
Demokratie nicht verstanden zu haben.
Fast sieht es so aus, als sei auch hier
zwei Antagonisten nicht klar gewesen, wie
sehr sie in Wahrheit einander brauchten,
und als stellten sie erst jetzt, da der jeweils
andere verschwunden ist, fest, dass sie mit
sich allein nichts anzufangen wissen. Das
würde zumindest erklären, dass sich Ost
und West auch heute noch gegenseitig pau-
schalisieren, um auf diese Weise ein Bild
von sich selbst zu bekommen. Der Osten
setzt sich vom Westen heute oft als sicher,
familienfreundlich und traditionsbewusst
ab. Der Westen versteht sich als liberaler,
inklusiver, emanzipierter und innovativer
als der Osten.

Neuer weiter Raum Lokal global


Hänschenim Sturm
Oft heißt es, die Jugend
würdenicht mehr lesen.
Weit gefehlt. Frei nach dem
bekannten Fernsehvorbild
diskutieren junge Menschen
beim Literaturfest über die
Werke die sie ausgewählt
und gelesen haben. Ein
Format, das sich offensicht-
lich bewährt. Und das
Zukunft hat.Seite 11

Durch die Wand


Den beiden
Antagonisten
war wohl
nicht klar,
wie sehr
sie einander
brauchten

Überzeugungstäter
Danny Beuerbach kriegt die
Leute zumVorlesen. Er schnei-
det derweil die Haare und wird
dabei auch im Gasteig gut
unterhalten.Seite 11

Plakat aus der Ausstellung
60 Jahre Bücherschau.
FOTO: MÜNCHNER BÜCHERSCHAU

FOTO: CATHERINA HESS

Junge Auslese Haare und Buch


Wer bin ich?


30 Jahre nach 1989 entwerfen West und Ost eifrig


Bilder voneinander, um sich selbst zu finden


Literaturfest München
Verantwortlich: Peter Fahrenholz
Redaktion: J. Pfund, I. Brunner
Gestaltung: Michaela Lehner
Anzeigen: Jürgen Maukner

Darf die Friedenstaube losfliegen? Das scheint ungewiss
zu seinan diesem Tag im Jahr 1989. Noch wachen Grenzsoldaten
am Brandenburger Tor in Berlin.FOTO: REGINA SCHMEKEN

2 LITERATURFEST MÜNCHEN Donnerstag, 7. November 2019, Nr. 257

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