Süddeutsche Zeitung - 07.11.2019

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München –In demseit fünf Jahren andau-
ernden Konflikt in Jemen könnte nun zu-
mindest an einer Front Ruhe einkehren: In
Saudi-Arabiens Hauptstadt Riad unter-
zeichnete am Dienstagabend der internati-
onal anerkannte Präsident Abed Rabbo
Mansur Hadi mit Vertretern des separatis-
tischen Südlichen Übergangsrats (STC) ein
Abkommen zur Machtteilung. Hadis Exil-
regierung und die Separatisten, die für ei-
ne neuerliche Abspaltung des bis 1990
eigenständigen Süden Jemens eintreten,
waren im Konflikt mit den schiitischen
Huthi-Rebellen aus dem Norden des Lan-
des lange als Verbündete aufgetreten.
Im August jedoch brachen in der Hafen-
stadt Aden Kämpfe zwischen Hadis Armee
und den Milizen des STC aus. Es drohte
sich ein Bürgerkrieg im Bürgerkrieg zu ent-
wickeln, der auch die beiden dominieren-
den Mächte in der in Jemen aktiven inter-
nationalen Militärkoalition entzweite: Sau-
di-Arabien unterstützte Hadi, die Vereinig-
ten Arabischen Emirate hingegen sind eng
mit dem STC verbündet. Der ohnehin
schon komplizierte Konflikt drohte voll-
kommen übersichtlich zu werden, als die
Emirate Einheiten von Hadis Armee bom-
bardierten, um STC-Kämpfer zu schützen.
Das nun unterzeichnete Abkommen
sieht vor, dass beide Gruppen aus Aden ab-
rücken, die Sicherheit dort sollen fortan
Einheiten Saudi-Arabiens garantieren. Ha-
di, der seit seiner Flucht aus der Haupt-
stadt Sanaa 2014 meist im Exil lebt, soll
nach Jemen zurückkehren und von Aden
aus regieren. Vor allem aber soll die neue Ei-
nigkeit zwischen Regierung und Separatis-
ten genutzt werden, um geschlossen gegen-
über den Huthi-Rebellen aufzutreten –
und das nicht nur auf dem Schlachtfeld:
„Diese Vereinbarung wird, so Gott will, zu
umfassenderen Gesprächen zwischen den
Konfliktparteien in Jemen führen, um eine
politische Lösung zu finden und den Krieg
zu beenden“, sagte der saudische Kron-
prinz Mohammed bin Salman nach der Un-
terzeichnung des Abkommens.
Bin Salman hatte in seiner Funktion als
Verteidigungsminister 2015 die Interventi-
on im Nachbarland begonnen – damals
war er davon ausgegangen, den Konflikt
binnen weniger Wochen militärisch ent-
scheiden zu können. Dass dies eine Fehlein-
schätzung war, ist nicht erst deutlich, seit
die Opferzahl des Konflikts nach Berech-
nungen von Analysten in diesem Jahr die
Marke von 100000 überschritten hat. So
bestätigte ein saudischer Offizieller der
Nachrichtenagentur AP am Mittwoch erst-
mals, dass das Königreich mit den Huthi-
Rebellen über inoffizielle Kanäle in Gesprä-
chen stehe, um ein Ende des Konflikts zu
erreichen. moritz baumstieger

von nadia pantel

Paris– Seit September stimmt Frank-
reichs Präsident Emmanuel Macron das
Land auf eine rigidere Einwanderungspoli-
tik ein. Am Mittwoch hat nun Premiermi-
nister Édouard Philippe die ersten greifba-
ren Maßnahmen vorgestellt. Man habe ein
„gutes Gleichgewicht“ gefunden, so Philip-
pe, die Regierung bleibe „ihren Werten
treu“ und „beruhigt gleichzeitig die Bür-
ger“, ohne „dem Populismus zu erliegen“.
Als größte Neuerung in der Einwande-
rungspolitik preist die Regierung die Ein-
führung von Quoten für Wirtschaftsmi-
granten. Eine jährlich festgelegte Zahl an
Ausländern, die für einen Job nach Frank-
reich kommen, soll helfen, die Einwande-
rung stärker auf die Bedürfnisse des Lan-
des auszurichten. Die Quoten nach kanadi-
schem Vorbild sind ein politisches Zuge-
ständnis Macrons, besonders an die kon-
servative Opposition, die so ein System seit
vielen Jahren fordert.

Der Arbeitsmarkt ist von einem Paradox
gekennzeichnet: Einerseits ist die Erwerbs-
losenquote mit 8,5Prozent hoch. Anderer-
seits können Hunderttausende Stellen
nicht besetzt werden. Dem steht der Zuzug
von jährlich 33000 offiziell erfassten Perso-
nen gegenüber, die zum Arbeiten nach
Frankreich kommen. Diese Form der Wirt-
schaftsmigration macht damit nur 13 Pro-
zent der regulären Einwanderung aus.
Konkret besteht die versprochene Neue-
rung nun vor allem darin, dass in Zusam-
menarbeit mit den Sozialpartnern der Be-
darf an ausländischen Arbeitskräften nach
Branchen und Regionen besser erfasst
wird. Die Nationalversammlung soll dann
jährlich beschließen, wie viele ausländi-
sche Arbeitnehmer ins Land dürfen – erst-
mals für das Jahr 2021. Frankreich fehlen
sowohl gering qualifizierte Arbeitskräfte,
etwa in der Gastronomie, als auch Fachar-
beiter am Bau oder Programmierer.
Der erleichterte Zugang zu Jobs in
Frankreich ist politisch hochsensibel. Ar-
beitsministerin Muriel Pénicaud beeilte
sich am Mittwoch zu erklären, die Aus-
und Fortbildung der vielen Arbeitslosen
im Land habe Vorrang bei der Lösung der
Sorgen am Arbeitsmarkt. Ihr zufolge soll
die absolute Zahl erteilter Arbeitsvisa gar
nicht steigen. Jenseits des politischen Be-
kenntnisses zu einem Quotensystem
bringt die Reform für Frankreichs Wirt-
schaft also keine grundlegende Verände-

rung. Andere Formen der Einwanderung –
besonders der Familiennachzug – sollen
durch die Quoten auch nicht einge-
schränkt werden, so die Regierung.
Während die Arbeitgeberverbände das
Quotensystem als Vereinfachung lobten,
stieß es bei der Opposition auf Kritik. Die
konservativen Republikaner, die eigent-
lich für Quoten sind, stuften die Reform als
Täuschungsmanöver ein, um von ver-
meintlicher Masseneinwanderung in die
Sozialsysteme abzulenken. Die linke Partei
France Insoumise geißelte die Unterschei-
dung guter und schlechter Zuwanderung,
die mit den Quoten verbunden sei.
Was er unter schlechter Einwanderung
versteht, umriss Macron im Interview mit
dem rechtsnationalen BlattValeurs Actuel-
les. Frankreich sei „zu attraktiv“ für Ein-
wanderer. Asylbewerber aus Georgien und
Albanien kämen zum „Behandlungstouris-
mus“, so der Präsident. Künftig sollen Asyl-
bewerber erst drei Monate nach ihrem An-
trag das Recht haben, sich ärztliche Unter-

suchungen finanzieren zu lassen. Im Ge-
spräch mitValeurs Actuellesnannte Ma-
cron Menschen, die Geflüchteten helfen
„Droit-de-l’hommistes“, ein bei Rechten
beliebter Neologismus, ähnlich dem Be-
griff „Gutmenschen“. In den vergangenen
zweieinhalb Jahren hat Macron einen kla-
ren Rechtsschwenk bei der Bewertung von
Migration vollzogen. Lobte er als Präsident-
schaftskandidat die vergleichsweise libera-
le Asylpolitik von Bundeskanzlerin Angela
Merkel als humanitär und vorbildlich, be-
tont er heute, Frankreich müsse sich „ge-
gen Einwanderungswellen wappnen“.
Macrons Asylvorstoß werten viele fran-
zösische Kommentatoren als frühe Phase
des Präsidentschaftswahlkampfs 2022.
Schon jetzt ist klar, dass sich Macron wie
seine Herausforderin von 2017, die rechts-
radikale Marine Le Pen, auf eine Neuaufla-
ge ihres Duells einstellen. Einwanderungs-
polemik gehört zu den Spezialgebieten Le
Pens und ihres Rassemblement National.
Macron setzte Migrationspolitik vor ei-

nem Monat mit der Ansage auf die Agenda,
dass man den Nationalisten dieses Feld
nicht überlassen dürfe. Vor den Abgeordne-
ten der von ihm gegründeten, regierenden
Partei La République en Marche (LREM)
sagte Macron im September: „Wir müssen
uns entscheiden, ob wir eine Partei der
Bourgeoisie sein wollen oder nicht.“ Wohl-
habende Schichten seien mit den Proble-
men, die Migration mit sich bringen
könne, nicht konfrontiert, die breite Bevöl-
kerungsschicht schon. In dieser Frage ge-
be es „nur eine Opposition: den Rassemble-
ment National“.
Die Zahl der Asylanträge ist in Frank-
reich gestiegen, (120000 Anträge 2018), ob-
wohl der Trend im EU-Durchschnitt rück-
läufig ist. Für Macron Beleg, dass Frank-
reich sich stärker abschotten müsse. Zu-
gleich verfolgte Frankreich in Jahren, als et-
wa Deutschland viele Syrer aufnahm, eine
viel restriktivere Aufnahmepolitik. 2016
wurden in Frankreich 84 000 Asylanträge
gestellt, in Deutschland 745 000. Seite 4

Moskau– Sie versteigern jetzt buchstäb-
lich ihr Erbe, der Moskauer Helsinki-Grup-
pe geht das Geld aus. Also hat sich die Di-
rektorin der Menschenrechtsorganisation
ins TV-Studio gesetzt und die letzten Reser-
ven auf den Tisch gestellt, das Porzellan
der Gründerin. Teekanne, Kerzenständer,
zwei Figuren, die Stücke stammen aus
Gschel, das Dorf nahe Moskau ist berühmt
für seine Keramik. Die sammelte Ljudmila
Alexejewa, Mutter der russischen Men-
schenrechtsbewegung, mit Leidenschaft.
Ljudmila Alexejewa ist vergangenen De-
zember in Alter von 91 Jahren gestorben,
nicht nur deswegen ist es ein besonders
schwieriges Jahr für die Moskauer Helsin-
ki-Gruppe. Sie hat erstmals seit langer Zeit
keine staatliche Förderung erhalten. Russi-
sche Menschenrechtler müssen sich im-
mer öfter selbst verteidigen, gegen juristi-
sche Vorwürfe und Verleumdungen. Jetzt,
so scheint es, haben die Behörden ein weite-
res Mittel gefunden: Sie verbauen ihnen
wichtige Finanzierungsquellen und schwä-
chen sie durch Geldstrafen empfindlich.
„Nicht nur die Moskauer Helsinki-Grup-
pe, sondern die ganze Menschenrechtsbe-
wegung ist in eine schwierige Situation, un-
ter Druck, unter Repressalien geraten“,
sagt dann auch Direktorin Swetlana Astra-
chanzewa im TV-Studio. Die Moskauer Hel-
sinki-Gruppe ist die älteste Menschen-
rechtsgruppe Russlands, Alexejewa hat sie
1976 gemeinsam mit anderen gegründet.
Sie wollten überwachen, ob sich die Sowjet-
union an die Menschenrechte hielt, wie sie
1975 in Helsinki zugesagt hatte. Jetzt kann
sich die Gruppe kaum noch finanzieren,
von Dezember an müssen alle Mitarbeiter
auf Freiwilligenbasis weitermachen. Sie
hoffen jetzt auf Spenden, und auf einen gu-
ten Preis für die Keramik.
Spenden sind eine heikle Sache. Wer
Geld aus dem Ausland annimmt, kann als
Organisation in Russland zum „ausländi-
schen Agenten“ erklärt werden. Ein Be-
griff, bei dem viele Russen an Feinde und
Verräter denken. Die Moskauer Helsinki-
Gruppe verzichtet bisher bewusst auf aus-
ländische Spenden. Andere Organisation,
beispielsweise Memorial und die Gruppe
„Für Menschenrechte“, gelten als „auslän-
discher Agent“ und müssen das auch auf je-
der ihrer Publikationen schreiben und es
bei jedem öffentlichen Auftritt erwähnen.
Der Organisation „Für Menschenrech-
te“ ist das Gesetz nun zum Verhängnis ge-
worden. Lew Ponomarjow, ein Weggefähr-
te von Ljudmila Alexejewa, hatte die Grup-
pe gegründet. Auch sie hat nun zum ersten
Mal seit Jahren kein staatliches Geld erhal-
ten. Weil sie sich an Auflagen nicht hielt,
die für „ausländische Agenten“ gelten, hat
das Oberste Gericht in Moskau die Organi-
sation vergangenen Freitag aufgelöst. Lew

Ponomarjow hat angekündigt, einen neu-
en Verein zu gründen.
Drei Tage nach dem Richterspruch
stand der 78-jährige mit einem Protest-
schild auf der Straße, er demonstrierte für
eine Gruppe Jugendlicher, die wegen frag-
würdiger Extremismusvorwürfe im Ge-
fängnis sitzen. Ein ähnlicher Protest hatte
ihn letzten Jahres für 16 Tage hinter Gitter
gebracht. Zudem schuldet Ponomarjow
dem Justizministerium umgerechnet etwa
27000 Euro. Er hatte Informationen ver-
teilt und versäumt, sich und seine Organi-
sation als Auslandsagenten auszuweisen.

Die Menschenrechtsorganisation Me-
morial, die die sowjetische Vergangenheit
aufarbeitet und an politische Repression
erinnert, wurde bereits vor drei Jahren auf
die Liste ausländischer Agenten gesetzt.
Memorial-Mitarbeiter sind mehr als ein-
mal durch fabrizierte Vorwürfe und Ver-
leumdungen hinter Gittern gebracht wor-
den. Nun soll der Leiter von Memorial in
Perm illegal Bäume gerodet haben. Robert
Latypow hatte mit anderen im August ei-
nen alten Friedhof für deportierte Litauer
und Polen von Unkraut und Gehölz befreit.
Memorial musste daraufhin mehr als 3500
Euro Strafe für die „eigenmächtige Beset-
zung eines Waldgrundstücks“ bezahlen.
Vergangene Woche hat der Geheimdienst
das Büro und Wohnräume von Latypow
durchsucht, Computer und Dokumente be-
schlagnahmt. Wobei niemand der Organi-
sation erklären konnte, warum sich der Ge-
heimdienst für unerlaubtes Bäumefällen
interessiert. Im Oktober mussten verschie-
dene Zweigstellen gemeinsam etwa 9900
Euro Strafe zahlen, unter anderem weil der
Hinweis auf „ausländischer Agent“ auf
Facebook-Posts fehlte.
Solche Summen sind nicht zu unter-
schätzen. Zum Vergleich: Die Direktorin
der Helsinki-Gruppe hofft, dass die große,
geerbte Keramik-Sammlung insgesamt
8500 Euro einbringt. Ein Video zeigt
Sammlerin Alexejewa vor einem Glas-
schrank voll Porzellan, selbst der Kron-
leuchter an der Decke stammt aus Gschel.
Sie lacht über ihre eigene Sammelleiden-
schaft, das sei eine Art Verrücktheit. Die
wird sich im Nachhinein nun wohl als sehr
nützlich erweisen. silke bigalke

London –Boris Johnson war am Mittwoch
bei der Queen. Es war mit Sicherheit sein
nettester Termin an diesem Tag, denn Eli-
sabeth II. ist bekannt dafür, dass sie ihren
Untertanen mit vornehmer Zurückhaltung
begegnet. Der Premier habe ihr mitteilen
wollen, ließ Downing Street wissen, dass es
jetzt Wahlen geben werde und das Parla-
ment deshalb aufgelöst sei. Es ist anzuneh-
men, dass die Königin das schon wusste.
Ansonsten liefen die vergangenen Tage
für den Premierminister eher schlecht.
Man könnte auch sagen: desaströs. John-
son startete den Wahlkampf der Tories offi-
ziell am Mittag in den westlichen Midlands
mit einer Rede. Aber das interessierte die
Nation nur marginal. Interessanter war da
schon, dass er den Wahlkampfauftakt mit
einem Artikel in seinem Leib- und Magen-
blatt, demDaily Telegraph, gefeiert hatte,
der ihm bis vor Kurzem 300000 Euro jähr-
lich gezahlt hatte, damit er wöchentlich ei-
ne Kolumne schrieb. In dem Text, mit dem
derTelegrapham Mittwoch aufmachte,
verglich Johnson Labour-Chef Jeremy Cor-
byn mit dem Diktator Josef Stalin, in des-
sen Ägide Millionen ermordet, in Arbeitsla-
ger gesteckt oder dem Hungertod preisge-
geben worden waren.

Der Premierminister argumentierte,
die Linke hasse die Idee vom ökonomi-
schen Profit so sehr, dass sie die wirtschaft-
liche Basis des Königreichs zerstören wür-
den. „Sie behaupten, ihr Hass richte sich
nur gegen Milliardäre“, schreibt Johnson,
„aber sie verfolgen diese Menschen mit ei-
ner Rachsucht, wie man sie nicht mehr ge-
sehen hat, seit Stalin die Kulaken verfolgt
hat“. Als Kulaken und Klassenfeinde wur-
den während der Zwangskollektivierung
der sowjetischen Landwirtschaft Bauern
umgesiedelt oder umgebracht, die es zu
ein wenig Wohlstand oder Landbesitz ge-
bracht hatten.
Der Vergleich, den Johnson bemühte,
kam nicht überall gleich gut an – zumal die
Regierung gerade massiven Ärger wegen
einer aktuellen Causa hat, die mit Russ-
land zu tun hat. Downing Street weigert
sich, einen Bericht zu veröffentlichen, den
der Geheimdienst- und Sicherheitsaus-
schuss des Parlaments in monatelangen
Beratungen und nach Einvernahme Dut-
zender Zeugen erstellt hatte. Darin geht es
um den Einfluss Moskaus auf das Brexit-
Referendum und die Wahl 2017. Der Be-
richt müsse noch ausführlich geprüft wer-
den, bevor er freigegeben werde, heißt es
aus der Regierung. Dominic Grieve, bis zur

Auflösung des Unterhauses Vorsitzender
des Komitees, nannte die Weigerung, den
Report zu veröffentlichen, „skandalös“.
Am Mittwoch hatten alle Parteien ihre
Kampagnen gestartet. Labour-Chef Cor-
byn traf in Wolverton begeisterte Anhän-
ger und versprach, das Land fairer, sozia-
ler und gleicher zu machen. Jo Swinson
von den Liberaldemokraten betonte, sie
könne den Job der Premierministerin bes-
ser als Johnson oder Corbyn. Die Grünen
wollen Milliarden in den Umweltschutz ste-
cken. Nicola Sturgeon, Ministerpräsiden-
tin von Schottland und Vorsitzende der
Schottischen Nationalpartei, versprach ein
Unabhängigkeitsreferendum, am liebsten
schon nächstes Jahr. Und Nigel Farage von
der Brexit-Partei versuchte seine Freunde
bei den Tories mit der Zusicherung zu beru-
higen, er werde vor allem Labour schaden.
Aber so richtig interessierte das alles nie-
manden. Mediale Aufmerksamkeit zogen
weiterhin vor allem die Tories auf sich, wel-
che die Wahl am 12. Dezember schließlich
vom Zaun gebrochen hatten und auf einen
leichten Sieg sowie eine sichere Mehrheit
im nächsten Unterhaus hoffen. Den Brexit,
so Johnson, wollen sie am liebsten noch
vor Weihnachten durchpeitschen.
Aber die Pleiten und Pannen mehren
sich, und bei den Vertretern der politi-

schen Konkurrenz stellt sich Schadenfreu-
de ein. Da ist, zum einen, Parlamentsminis-
ter Jacob Rees-Mogg, der in einem Radioin-
terview am Dienstag gesagt hatte, es sei
„gesunder Menschenverstand“, aus einem
brennenden Haus zu flüchten. Er bezog
sich damit auf den Bericht zur Brandkatas-
trophe im Grenfell-Hochhaus 2017, bei
dem 72 Menschen umgekommen waren.
Die Feuerwehr hatte den verzweifelten
Menschen, die in der Flammenhölle sa-
ßen, geraten, zu bleiben wo sie sind.
Kritiker und Familienangehörige der
Opfer werfen Rees-Mogg nun vor, abgeho-
ben zu sein und so zu tun, als sei er schlau-
er als diejenigen, die auf Rettung gehofft
hatten. Er entschuldigte sich später für sei-
ne „mangelnde Sensibilität“. Entschuldi-
gen musste sich auch Andrew Bridgen,
Hardliner in der Tory-Partei, der Rees-
Mogg keck in Schutz genommen hatte.
Schließlich wolle man ja doch, hatte er ge-
meint, dass das Land von schlauen Politi-
kern regiert werde. Und dann trat am Mitt-
woch noch der Chef der walisischen Tories
und Minister für Wales, Alun Cairns, zu-
rück. Er hatte behauptet, er wisse nichts
über die Rolle, die ein früherer Mitarbeiter
in einem Vergewaltigungsprozess gespielt
hatte. Was nicht stimmte. Kein guter Start
für die Tories. cathrin kahlweit

Washington –Am Montagabend, wenige
Stunden, bevor die Wahllokale öffneten,
stand Donald Trump noch auf der Bühne
einer Mehrzweckhalle in Lexington, Kentu-
cky. Neben ihm stand Matt Bevin, der Gou-
verneur des Bundesstaates. Trump war da,
um in letzter Minute noch etwas Wahl-
kampfhilfe zu leisten. „Wenn du verlierst,
werden sie sagen, dass Trump die größte
Niederlage in der Weltgeschichte erlitten
hat“, prophezeite der US-Präsident. Am
Dienstag verlor Bevin seine Wiederwahl
dann gegen den demokratischen Kandida-
ten Andy Beshear – zumindest sah es am
späten Abend so aus, nachdem alle Wahl-
kreise ihre Ergebnisse gemeldet hatten:
Beshear hatte 49,2 Prozent, Bevin hatte
48,9 Prozent, der Vorsprung des Demokra-
ten betrug nur 5150 Stimmen.
Und am Mittwochmorgen fragten sich
die politischen Beobachter in Washington,
ob das nun tatsächlich die größte Niederla-
ge der Weltgeschichte für Donald Trump
war. Immerhin waren die regionalen Wah-
len am Dienstag in Kentucky, Mississippi
und Virginia die letzten größeren Tests vor
der Kongress- und Präsidentschaftswahl
im November 2020. Als Antwort gab es
zwei Interpretationen.
Einerseits: Bevin ist ein hundertfünfzig-
prozentiger Trump-Anhänger, und er hat
seine Nähe zum Präsidenten im Wahl-
kampf bei jeder Gelegenheit betont. Er hat
sogar versucht, das Amtsenthebungsver-
fahren gegen Trump zu nutzen, um seine
Wähler zu mobilisieren und die Demokra-
ten zu attackieren. Insofern stand in Kentu-
cky – ein konservativer, republikanisch be-
herrschter Südstaat, den Trump 2016 mit
30Prozentpunkten Vorsprung gewonnen
hatte – in gewisser Weise auch der Präsi-
dent auf dem Wahlzettel. Und weil Bevin
verlor, verlor eben auch Trump.


Andererseits: Bevin war einer der unbe-
liebtesten Gouverneure des Landes. Selbst
seine Partei mochte ihn nicht. Im Sommer
hatte er in Umfragen zeitweise zweistellig
hinter Beshear gelegen. Es ist daher durch-
aus denkbar, dass Trumps Auftritt in Le-
xington am Montag Schlimmeres verhin-
dert und Bevins Rückstand knapp gehal-
ten hat – zumal fünf andere Republikaner
ihre Wahlen für wichtige Ämter am Diens-
tag problemlos gewonnen haben. Entspre-
chend stolz verkündete Trump am Mitt-
woch bei Twitter, dass fünf von sechs
Kandidaten, die er unterstützt habe, ge-
wonnen hätten.
In beiden Interpretationen steckt eine
Portion Wahrheit. Und auch die anderen
Wahlergebnisse ließen sich so oder so aus-
legen: Im konservativen Mississippi, wo
Trump ebenfalls mit einer Veranstaltung
Wahlkampfhilfe geleistet hatte, gewann
der republikanische Kandidat Tate Reeves
mit deutlichem Abstand das Gouverneurs-
amt. In Virginia hingegen erlitten die Repu-
blikaner eine drastische Niederlage. Die
Demokraten übernahmen in beiden Parla-
mentskammern des Bundesstaates die
Mehrheit. Der Südstaat Virginia verliert
zwar schon seit Jahren seine einst solide re-
publikanische Prägung. Aber seit Trump
regiert, hat sich der Trend beschleunigt.


Das hat vor allem damit zu tun, dass
Trump unabhängige Wähler sowie modera-
te Republikaner in den Vororten zuneh-
mend abstößt. Das war schon bei der Kon-
gresswahl 2018 der Fall, bei der die Demo-
kraten das US-Abgeordnetenhaus zurück-
eroberten. Und auch die Wahlen in Kentu-
cky und Virginia haben diese Entwicklung
bestätigt: Die Republikaner sind auf dem
Land stark, die Demokraten in den Städten



  • das ist ein bekanntes Muster, und die
    Wahlen am Dienstag haben diese Spaltung
    vertieft. Aber da inzwischen auch gut gebil-
    dete, gut verdienende, unideologische Vor-
    ortwähler – und vor allem Wählerinnen –,
    die früher Kernwähler der Republikaner
    waren, aus Protest gegen Trumps harten
    Rechtskurs die Demokraten wählen, kip-
    pen die Mehrheiten.
    In Virginia gewannen die Demokraten
    in den Vororten von Washington und Rich-
    mond Parlamentssitze hinzu. In Kentucky
    gingen unter anderem die südlichen Sub-
    urbs von Cincinnati zu Beshear über. Dort
    hatte vor vier Jahren noch Bevin gewon-
    nen. Selbst in Mississippi stimmten mehr
    Vorortwähler als früher für die Demokra-
    ten, auch wenn es insgesamt für einen Sieg
    nicht reichte. Für die Demokraten ist das
    ein erfreulicher Trend. Allerdings wurde
    am Dienstag auch klar, dass in diesem rela-
    tiv konservativen politischen Umfeld nur
    Kandidaten gewinnen, die nicht zu weit
    links stehen. hubert wetzel


Macrons Agenda 2022


Frankreichs Präsident schwenkt in der Migrationspolitik nach rechts, Beobachter sehen darin eine Strategie für die
Wahl in drei Jahren. Das Land führt Quoten für Einwanderer ein und erschwert Asylbewerbern den Gang zum Arzt

Der Staat langt zu


Russischen Menschenrechtlern geht das Geld aus


Lew Ponomarjow,
78, hat nach Auffas-
sung der Justiz gegen
Auflagen verstoßen,
die für „ausländi-
sche Agenten“ gelten.
Seine Organisation
„Für Menschenrech-
te“ wurde deshalb
aufgelöst. FOTO: DPA

DEFGH Nr. 257, Donnerstag, 7. November 2019 (^) POLITIK 1MG 7
Schön nur bei der Queen
Johnsonund seine Tories verpatzen den Start in den Wahlkampf – die Konkurrenz hofft
Trend gegen
Trump
Bei Wahlen in US-Bundesstaaten
schneiden die Demokraten gut ab
Eine Front
weniger in Jemen
Separatisten und Präsidentenlager
verbünden sich gegen die Huthis
Ein Abschiebehaft-Zentrum in Vincennes. Frankreich sei „zu attraktiv“, sagt Macron. FOTO: STEPHANE DE SAKUTIN/AFP
Die Regierung blockiert einen
Bericht über Russlands Einfluss
auf das Brexit-Referendum
Sieger bei der Gouverneurswahl in Kentu-
cky: Andy Beshear. FOTO: JOHN SOMMERS II/AFP
Wenige Wochen vor der Parlamentswahl am 12. Dezember demonstrieren diese Bri-
ten, was sie wollen: den Verbleib in der Europäischen Union. FOTO: TOLGA AKMEN/AFP
Für Frankreichs Wirtschaft
bringt die Reform keine
grundlegende Veränderung
Viele bisherige Republikaner
sind gegen den harten Kurs

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