Süddeutsche Zeitung - 07.11.2019

(nextflipdebug5) #1
von johanna pfund

D


er Geschwister-Scholl-Preis feiert
ein Jubiläum. Bereits zum 40. Mal
verleihen die Landeshauptstadt
München und der Börsenverein des Deut-
schen Buchhandels, Landesverband Bay-
ern, den Preis an einen mutigen Autor oder
eine mutige Autorin. Im Jubiläumsjahr ist
es ein Schriftsteller, der bis vor wenigen Ta-
gen noch im Gefängnis saß und erst An-
fang November unter Auflagen freigelas-
sen wurde.
Ahmet Altan war im Juli 2016 verhaftet
worden. Die türkische Regierung warf
dem Journalisten und Schriftsteller vor, an
dem Putschversuch gegen die türkische
Regierung im Juli 2016 teilgenommen zu
haben, und zwar mittels der „Verbreitung
einer unterschwelligen Botschaft“. Im
Februar 2018 wurde Altan gemeinsam mit
weiteren Journalisten zu lebenslanger


Haft verurteilt, in der Zwischenzeit wurde
das Urteil abgemildert, aber nicht aufgeho-
ben. Anfang Oktober entschied ein Ge-
richt, dass Altan weiter ein Gefangener
bleibt. Jetzt, Anfang November, die Nach-
richt, dass Altan zwar zu einer Haftstrafe
verurteilt ist, jedoch auf freien Fuß kommt
und die Türkei nicht verlassen darf.
Der Geschwister-Scholl-Preis ist in den
vergangenen Jahren oft an Autoren verlie-
hen worden, die Sprachrohr mutiger
Menschen sind. Glenn Greenwald hat die
Geschichte des Whistleblowers Edward
Snowden erzählt und wurde 2014 dafür ge-
würdigt, die französische Journalistin
Garance Le Caisne erhielt den Preis 2016
für ihre Dokumentation der syrischen
Todesmaschinerie. Altan ist nun ein Preis-
träger, der selbst in Gefahr geraten ist.


Was Altan in diesen Tagen, Monaten
und Jahren, in denen sein Leben auf eine
winzige Gefängniszelle reduziert war,
durch den Kopf gegangen ist, das hat er in
einem Buch aufgezeichnet. „Ich werde die
Welt nie wiedersehen“ lautet der Titel
(S. Fischer, 2018). Wie hoffnungslos. Ein
abendlicher Restaurantbesuch, Tagun-
gen, die Familie, die Frau – all diese In-
gredienzien eines westlich-bürgerlichen
Alltags gehören von einem Tag auf den an-
deren der Vergangenheit an. Nicht einer
lange vergangenen Zeit, an die sich besten-
falls Eltern oder Großeltern erinnern, son-
dern dem Hier und Jetzt, während man
das Buch liest, während manche wohl nur
wenige Stunden entfernt vom Ort dieses
Gefängnisses ihren Urlaub verbringen.
Altan könnte verzweifeln. In manchen
Passagen kommt dies zum Ausdruck.
„Ich werde die Welt nie wiedersehen. Nie
wieder werde ich einen Himmel sehen,
der nicht von den Mauern des Gefängnis-
hofs eingegrenzt ist. Ich steige in den Ha-
des hinab.“ Hat er sein Schicksal nicht
schon früher beschrieben, in einem sei-
ner Bücher? Hat er das Schicksal heraus-
gefordert? Der Verzweiflung setzt der Au-
tor trotzig seine Hoffnung entgegen.
Nämlich die Hoffnung auf die Freiheit
im Kopf. Wie in dem alten Volkslied „Die
Gedanken sind frei“ sinniert der heute
69-Jährige über die Möglichkeiten, sei-
ner Zelle zu entfliehen. Niemand kann
Herrschaft über seine Gedanken gewin-
nen. Altan zehrt in der Einzelhaft von sei-
nem Wissen über Literatur. Gustave Flau-
bert, Leo Tolstoi, Doris Lessing besuchen
ihn in seinem Gehirn. Altan überlegt, wel-
chen Part Intuition für Schriftsteller
spielt, ob das Geniale doch eher aus Intui-
tion denn aus Wissen entsteht. Es er-
scheint als Luxus, sich in einer ausweglo-
sen Situation Gedanken über die Rolle
der Intuition zu machen. Oder ist dies not-
wendig für das Überleben? „Die mich hier
eingesperrt haben, mögen die Macht da-
zu besitzen. Doch mich im Gefängnis fest-
zuhalten, dazu reicht ihre Macht nicht...
Weil ich die Zaubermacht besitze, die al-
len Schriftstellern eigen ist. Ich kann mü-
helos durch Wände gehen.“ In der Tat.

Lesung, Dienstag, 26.11., 20 Uhr, Lehmkuhl

Seiner
Verzweiflung
setzt der Autor
immer wieder
trotzig
seine Hoffnung
entgegen

Ahmet Altan
wurde als
Journalist und
Schriftsteller
in der Türkei
bekannt.
FOTO: ACTION PRESS

Durch die Wand


Der Geschwister-Scholl-Preis geht an den


türkischen Autor Ahmet Altan


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Alexej von Jawlensky, Spanierin (Detail), 1913 Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, Foto: Lenbachhaus

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