Süddeutsche Zeitung - 07.11.2019

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Im Herbst 1940 bat der britische Radiosen-
der BBCden deutschen Literaturnobelpreis-
träger Thomas Mann, in seinem amerikani-
schen Exil kurze Radiovorträge zu verfas-
sen, die sie nach Nazi-Deutschland senden
würden. Erste Ansprachen schickte Mann
aus seiner Villa in den Pacific Palisades in
Los Angeles noch als Manuskripte nach Lon-
don. Ab März 1941 sprach er seine Texte im
Studio der NBC selbst ein. Die Aufnahmen
wurden auf Schallplatte nach New York ge-
schickt und von dort nach London gekabelt.
55 Ansprachen verfasste er bis Kriegsende.


Manns Villa in den Palisades blieb nach
seiner Rückkehr in die Schweiz 1952 in pri-
vaten Händen. 2016 gelang es der Bundesre-
gierung, das Anwesen zu kaufen und so vor
einem Abriss zu retten. Am 18. Juni 2018 er-
öffnete Bundespräsident Frank-Walter
Steinmeier das Haus als deutsch-amerika-
nische Begegnungsstätte. Der Trägerverein
hat nun die Idee der Radioansprachen Tho-
mas Manns wieder aufgenommen und ver-
anstaltet eine Reihe mit Ansprachen für die
Demokratie, die die SZ abdruckt und der
Deutschlandfunk sendet.
Der erste Beitrag ist von Francis Fukuya-
ma, dem amerikanischen Politologen, der
1992 mit seiner Theorie vom „Ende der Ge-
schichte“ berühmt wurde. Derzeit arbeitet
er an der Stanford University. sz


T


homas Mann hat in diesen Zeiten ei-
ne besondere Relevanz. Die Rolle,
die er während der Nazizeit im Exil
einnahm, vor allem seine im Krieg nach Na-
zideutschland ausgestrahlte Radiosen-
dung „Deutsche Hörer!“ war ein wichtiger
Vorläufer für den heutigen Dissens mit Ty-
rannenstaaten und autoritären Regimen.
Für mich persönlich hat Manns Arbeit
im Exil eine besondere Bedeutung, weil ich
Direktor eines Instituts namens „Center
on Democracy Development and the Rule
of Law“ an der Stanford-Universität bin.
Wir bieten Kurse für Menschen an, die sich
für die Demokratie einsetzen. Die meisten
von ihnen sind Aktivisten aus der Zivilge-
sellschaft, manche sind Journalisten, wie-
der andere arbeiten für Regierungen, die
sich demokratisieren wollen. Und tragi-
scherweise sehen wir uns heute der glei-
chen Art von autoritären Regierungen ge-
genüber wie seinerzeit Thomas Mann.
Ähnlich wie Thomas Mann in den Vierzi-
gerjahren nur aus dem Ausland zu seinen
deutschen Landsleuten sprechen konnte,
können auch einige der Absolventen unse-
rer Programme nur aus dem Ausland zu ih-
ren Mitbürgern sprechen und Widerstand
gegen die Regime leisten. Ein paar von ih-
nen möchte ich beim Namen nennen. Nan-
cy Okail hatte zur Zeit des Arabischen Früh-


lings für das National Democratic Institute
in Ägypten gearbeitet. Nach mehrmonati-
ger Haft ging sie nach Washington, wo sie
das Tahrir Institute of Middle East Policy
gründete und sich gegen die Diktatur un-
ter General Sisi aussprach.
Saeid Golkar schreibt seit seiner Flucht
aus seinem Heimatland Iran wissenschaft-
liche Arbeiten über die Revolutionsgarde
und die Basidsch-Miliz, das militärische
Fundament des iranischen Regimes.
Schanna Nemzowa ist die Tochter von Bo-
ris Nemzow, einem berühmten russischen
Dissidenten und Politiker, der 2015 in der
Nähe des Kreml ermordet wurde. Weil sie
nicht mehr in Russland leben kann, arbei-
tet sie als Journalistin von Deutschland

aus. David Smolansky war Bürgermeister
einer Oppositionspartei in Venezuela und
befindet sich nach seiner Flucht über die
brasilianische Grenze in Washington.
Sie alle folgen der Tradition Thomas
Manns.
Dass sie und viele andere nicht gefahr-
los in ihre Heimatländer reisen können,
zeigt die Verschiebungen, die in den ver-
gangenen Jahren in der globalen Politik
stattgefunden haben. Da ist die Konsolidie-
rung der autoritären Regime in China,
Russland oder Saudi-Arabien, die sehr
selbstbewusst versuchen, ihren Einfluss in
der Welt zu stärken. Viele autoritäre Re-
gime betreiben die Einschüchterung ihrer
Gegner auch außerhalb der eigenen Gren-

zen, wie die Ermordung des saudischen
Journalisten Jamal Khashoggi in der Tür-
kei vergangenes Jahr zeigte. Vor allem
Russland hat sich zu einer Kleptokratie ent-
wickelt, die den eigenen Bürgern ihre Ver-
mögen entzieht und ins Ausland verlagert,
wo korrupte Beamte und dem Regime
wohlgesonnene Geschäftsleute gegen die

Menschen vorgehen, die ihre Tätigkeiten
aufdecken könnten.
Da ist außerdem der Aufstieg des Popu-
lismus. Angefangen mit zwei der etablier-
testen Demokratien überhaupt, den USA
und Großbritannien, lässt sich beobach-
ten, wie Politiker ihre Mandate nutzen, um
die demokratischen Normen zu untermi-

nieren, die die Säulen einer wirklich libera-
len Gesellschaft darstellen: die Rechts-
staatlichkeit, die Gewaltenteilung, die Un-
abhängigkeit der Justiz und die freie Pres-
se.
In Europa hat Ungarn die Unabhängig-
keit von Justiz, Medien und zivilgesell-
schaftlichen Organisationen wie der Cen-
tral European University, die die Fidesz-Re-
gierung zur Verantwortung ziehen könn-
ten, am stärksten unterminiert.
In den USA kam Donald Trump an die
Macht und erklärte im Stil eines klassi-
schen Demagogen, dass „er allein“ die Pro-
bleme der Nation verstehe und lösen kön-
ne und dass die Mainstream-Medien „Fein-
de des amerikanischen Volkes“ seien. Er
griff dabei alle Institutionen der Gewalten-
teilung an, die die Macht der Exekutive ein-
schränken sollen. Dabei wird er aus dem
Ausland von autoritären Mächten wie
Russland unterstützt.

Wir befinden uns in einer globalen Krise
der Demokratie, in der die offene, toleran-
te Gesellschaft unter gewaltigem Druck
steht. In diesem Kampf haben wir uns rück-
wärts bewegt. Thomas Mann litt in seiner
Laufbahn unter einer weiteren Sache, ge-
gen die wir uns wappnen müssen: seine
Vorladungen vor das House Un-American
Committee (das Komitee für unamerikani-
sche Umtriebe im Repräsentantenhaus), al-
so die Vorurteile gegen dissidentische Mei-
nungen, die auch in den etabliertesten De-
mokratien existieren. Leider taucht dieser
Trend heute in den USA, in Europa und in
anderen Ländern, die eigentlich Bastionen
der freien Gesellschaft sein sollten, wieder
auf.
Das Beispiel Thomas Manns kann all je-
nen als Inspiration dienen, die sich in dem
Kampf wiederfinden, den er in den 1940er-
Jahren bestritt. Es ist wichtig, dass wir uns
daran erinnern, dass es am Ende dieses
Prozesses Hoffnung gibt; dass Menschen
nicht unter tyrannischen Regimen leben
wollen; dass sie in ihrem Denken, Schrei-
ben und Handeln frei sein wollen.
In den vergangenen Jahren haben wir
an vielen Orten Aufstände gegen Diktatu-
ren und Kleptokratien gesehen: in der
Ukraine, im Sudan, in Armenien, Algerien,
Äthiopien, Nicaragua, Venezuela und
jüngst Hongkong. Diese Menschen verdie-
nen die Unterstützung all jener, die in de-
mokratischen Ländern leben und auch wei-
terhin ihre eigenen Freiheiten genießen
wollen – so wie die Regierungen, gegen die
sie protestieren, von autoritären Mächten
aus dem Ausland unterstützt werden.

Aus dem Englischen von Cornelius Dieckmann

Die Summe haut einen erst einmal um:
Mehrals eine Milliarde Euro könnte die Sa-
nierung der Staatsoper in Stuttgart kosten



  • deutlich mehr als der Problemfall Elb-
    philharmonie in Hamburg. Niemand be-
    zweifelt, dass das mehr als hundert Jahre
    alte Opernhaus, die Heimat des legendä-
    ren Stuttgarter Balletts, generalüberholt
    und modernen Ansprüchen angepasst wer-
    den muss. Doch dieser Betrag, so viel ist
    jetzt schon klar, wird in Baden-Württem-
    berg in den nächsten Monaten zum Gegen-
    stand heftiger Debatten werden. Am Diens-
    tagabend haben die Stadt Stuttgart und die
    zuständigen Ministerien des Landes ihre
    Kostenschätzung vorgestellt. Nun wird
    spannend, ob sich dafür politische Mehr-
    heiten finden. Stadt und Land müssen sich
    die Kosten teilen.
    Die Stuttgarter haben sich in der Vergan-
    genheit ja in mehrerlei Hinsicht sensibel
    gezeigt: zum einen, wenn Großbauprojek-
    te wie die Bahnhofsrenovierung kostenmä-
    ßig aus dem Ruder laufen. Zum anderen,
    auch dafür sind die Proteste gegen „Stutt-
    gart 21“ der Beleg, können sich die Bürger
    vehement für den Erhalt der wenigen histo-
    rischen Bausubstanz einsetzen, die es in
    der vom Krieg zerstörten Stadt noch gibt.
    Und dass die von Max Littmann gebaute
    Staatsoper wertvoller ist als der 1922 eröff-
    nete Kopfbahnhof von Paul Bonatz, dessen
    Seitenflügel dem umstrittenen Tiefbahn-
    hof geopfert wurden, dürfte unzweifelhaft
    sein. Max Reinhardt soll die Stuttgarter
    Staatsoper mal als „schönstes Opernhaus
    der Welt“ bezeichnet haben.


Oberbürgermeister Fritz Kuhn und
Kunstministerin Theresia Bauer – beide
von den Grünen – hoffen, dass die Bedeu-
tung des Theaters letztlich über den Milli-
ardenschock hinweghilft. Man habe sich
bewusst entschieden, mit einer realisti-
sche Rechnung in die Diskussion zu gehen,
sagte Bauer am Dienstag. „Wir hören auf
mit der Politik früherer Jahre, sich billig in
so ein Großprojekt einzuschleichen, mit
schöngerechneten Zahlen.“ Die bei öffentli-
chen Bauten immer wieder praktizierte
Methode, erst mal den ersten Spatenstich


zu setzen und dann die Kosten schrittwei-
se nach oben zu korrigieren, soll es bei der
Stuttgarter Staatsoper nicht geben. Es soll
anders laufen als in München, wo die
Kosten für die Sanierung des staatlichen
Gärtnerplatztheaters von anfangs kalku-
lierten 71 Millionen auf 122 Millionen Euro
kletterten. Anders als in Köln, wo die noch
laufende Opernsanierung nach heutigem
Stand 570 Millionen statt der ursprünglich
geplanten 253 Millionen kosten wird.
Wie aber kommt es zu der Summe von
gut einer Milliarde Euro? Hauptgrund ist,
dass der Gebäudekomplex des Dreispar-
tenhauses zu klein ist für die 1400 Men-
schen, die dort heute arbeiten. Gutachter
haben den Flächenbedarf nach den heuti-
gen Vorschriften, etwa für Brandschutz
und Arbeitsschutz, ermittelt und festge-
stellt: Es fehlen 10000 Quadratmeter Nutz-
fläche. Die sollen nun angebaut werden.
Zweiter Grund: Die Milliarde verteilt
sich im Prinzip auf vier einzelne Bauprojek-
te, von denen das historische Opernhaus
nur das teuerste ist. Der 1912 eröffnete
Tempel der Hochkultur muss nicht nur
baulich saniert werden, auch die Technik
ist völlig veraltet und soll komplett ausge-
tauscht werden. Zudem gibt es hinter der
Bühne keinen Platz, einen Kulissenwech-
sel vorzubereiten, weshalb sich die Inten-
danten schon lange eine moderne Kreuz-
bühne wünschen. Zweiter großer Posten
sind Abriss und Neubau des sogenannten
Kulissengebäudes – ein enormer sieben-
geschossiger Betonriegel, der die Oper mit
dem benachbarten kleinen Schauspiel-
haus verbindet. Weitere gut 100 Millionen
Euro sind für Umbauten am Verwaltungs-
gebäude und dem kleinen Schauspielhaus
vorgesehen.

Das wird im Bemühen um realistische
Kalkulation mit der zu erwartenden jährli-
chen Baukostensteigerung multipliziert.
So landet man bei einem Kostenrahmen
von 740 Millionen bis 960 Millionen – je
nachdem, wie die Justierung nach dem ge-
planten Architektenwettbewerb aussehen
wird. Und zu guter Letzt müssen noch etwa
100 Millionen für eine Interimsspielstätte
im Norden der Stadt einkalkuliert werden.
Ein stattlicher Betrag. Doch wenn man
die Größe der Bauwerke betrachtet, kein
unrealistischer, wie ein weltweiter Ver-
gleich von Opernbauprojekten des Deut-
schen Architekturmuseums Frankfurt
zeigt. Es hat damit auf eine ähnliche Debat-
te in Frankfurt reagiert, wo auch seit Jah-
ren um eine Entscheidung zur Sanierung
von Schauspiel und Oper gerungen wird,
wobei die Schätzungen zwischen 500 und
900 Millionen Euro liegen. Die Elbphilhar-
monie, darauf macht das Architekturmuse-
um ebenfalls aufmerksam, wäre heute üb-
rigens auch nicht mehr für 866 Millionen
Euro zu haben. claudia henzler

DEFGH Nr. 257, Donnerstag, 7. November 2019 9


Die Aufstände gegen Diktaturen
und Kleptokratien verdienen die
Unterstütung aller Demokraten

Sieht nicht sanierungsbedürftig aus, ist
sie aber: die Oper in Stuttgart. FOTO: DPA

Stimmen für die Demokratie


Thomas Manns „Deutsche Hörer!“-Radioansprachen aus Kalifornien waren ein frühes Experiment


mit neuen Medien in der Politik. Eine Veranstaltungsreihe in seinem Exilhaus schließt nun daran an


Eine Programmreihe des
Villa Aurora & Thomas Mann e.V. mit
Süddeutscher Zeitung, Deutschlandfunk
und Los Angeles Review of Books.
Teil 1: Francis Fukuyama

Schönste Oper für eine Milliarde


Stuttgart muss seine Staatsoper sanieren, die angekündigten Kosten schocken


Film
Expeditionen in eine magische
Kinowelt – das „Rumänische
Filmfestival“ in München 10

Feuilleton
Diskursflirt mit dem Zeitgeist –
Andreas Kriegenburg inszeniert
in Nürnberg Ibsens „Nora“ 11

Literatur
Dagmar Leupold setzt in „Lavinia“
alles daran, ein Ich zum
Verschwinden zu bringen 12

Wissen
Premiere im Weltall:
Vor 50 Jahren startete „Azur“,
der erste deutsche Satellit 14

www.sz.de/kultur

Man wolle sich nicht mehr


„billig in so ein


Großprojekt einschleichen“


FEUILLETON


Thomas Mann 1938 im Studio des New Yorker Radiosenders WQXR, wo er einen Vorläufer seiner BBC-Ansprachen vortrug. FOTO: ERIC SCHAAL/WEIDLE VERLAG

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DAS BUCH ZUM FILM ERSCHIENEN BEI

ISABELLE
NANTY

GÉRARD
DEPARDIEU

ASSAD
AHMED

MIZANUR
RAHAMAN

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„Eine wahre Geschichte (...)


wie gemacht fürs Kino!“ epd Film

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