Frankfurter Allgemeine Zeitung - 07.11.2019

(Greg DeLong) #1

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Jedes vierte Pflegeheim ist
defizitär. Forscher raten,
Betreiber weniger zu gängeln.

An der Spitze des
Hausgeräteherstellers Miele steht
Markus Miele.

Wegen des Streiks der
Flugbegleiter streicht die
Lufthansa viele Flüge.

PFLEGEN SAUGEN FLIEGEN


E


ine Zeitlang sah es so aus, als
könne keine noch so schlechte
Nachricht dem deutschen Ar-
beitsmarkt etwas anhaben. Die vom
amerikanischen Präsidenten Donald
Trump angezettelten Handelskonflik-
te und der ungewisse Brexit-Ausgang
setzten zwar der deutschen Wirt-
schaft ordentlich zu: Schon Ende ver-
gangenen Jahres ist sie nur knapp an
einer Rezession vorbeigeschrammt,
und auch danach hagelte es weiter Ne-
gativmeldungen. Weniger Aufträge,
weniger Produktion, weniger Wachs-
tum, so lautete der Tenor. Die Bundes-
agentur für Arbeit verkündete trotz-
dem Monat für Monat Rekordzahlen:
Die Arbeitslosigkeit sank, die Beschäf-
tigtenzahlen stiegen – es wurde schon
fast zur Gewohnheit.
Wer genau hinsah, konnte aller-
dings seit dem Frühjahr beobachten,
dass dieses Bild Risse bekam. So stieg
die Zahl der Erwerbstätigen zwar
auch in den vergangenen Monaten
weiter, jedoch nicht mehr so kräftig
wie in früheren Jahren. Zugleich sank
zwar die Zahl der Arbeitslosen im-
mer noch, doch das Polster gegen-
über dem Vorjahr schmolz kontinuier-
lich zusammen. Gerade war es dann
so weit: Erstmals seit fast sechs Jah-
ren lag die Zahl der Arbeitslosen im
Oktober nicht mehr unter dem Ni-
veau des Vorjahres. Ist das die Trend-
wende, auf die viele gewartet haben?
Muss Deutschland sich wieder auf
steigende Arbeitslosigkeit einstellen?
Viel wird wohl davon abhängen, ob
es sich tatsächlich nur um eine kon-
junkturelle Delle handelt, wovon bei-
spielsweise die Bundesregierung aus-
geht, oder wir auf einen länger anhal-
tenden Abschwung zusteuern. Klar
ist nur, dass die Rekordjagd der ver-
gangenen Jahre erst einmal zu Ende
ist. Trotzdem befindet sich der Ar-
beitsmarkt in einer außerordentlich
guten Verfassung. Die Arbeitslosen-
quote liegt unter 5 Prozent, in Teilen
Süddeutschlands herrscht sogar Voll-
beschäftigung. Selbst die Zahl der
Langzeitarbeitslosen geht weiter zu-
rück, was besonders erfreulich ist. Zu-
gleich haben in Deutschland so viele
Menschen Arbeit wie noch nie. Auch
wenn die Zahl der Arbeitslosen in
den kommenden Monaten leicht stei-
gen sollte, ist das also kein Drama.
Dennoch sollte man die Entwick-
lung nicht auf die leichte Schulter neh-
men. Es stimmt, dass sich der Arbeits-
markt sogar in der schweren Weltwirt-
schaftskrise im Jahr 2009 erstaunlich
robust präsentiert hat. Während es in
den Nachbarländern zu Massenentlas-
sungen kam, blieben diese in Deutsch-
land aus, was unter anderem an dem
klug eingesetzten Instrument der (er-
weiterten) Kurzarbeit lag. Viel spricht
dafür, dass er im Fall des Falles auch
für eine weitere Krise gut gewappnet

wäre. Doch kommt heute zur wirt-
schaftlichen Schwächephase noch et-
was anderes dazu: ein Strukturwan-
del, der die Unternehmen vor gewalti-
ge Umbrüche stellt – die Stichworte
lauten Digitalisierung und Elektromo-
bilität. Er ist für den Arbeitsmarkt die
eigentliche Herausforderung.
Vor allem die Automobilindustrie
trifft er jetzt schon mit voller Wucht.
Einige Autohersteller und Zulieferer


  • Beispiel Conti – planen harte Ein-
    schnitte, prominente Namen wie
    Schaeffler oder Elring Klinger schi-
    cken Mitarbeiter in Kurzarbeit oder
    denken darüber nach. Auch in der
    Chemie- und der Kunststoffindustrie


hängen viele Stellen an der Autobran-
che. Nicht alle Unternehmen werden
aus dieser Gemengelage als Sieger
hervorgehen. Doch scheint vielen Ma-
nagern, Beschäftigten und Politikern
noch nicht klar zu sein, wie sehr Ar-
beitsplätze und damit der Wohlstand
des Landes auf dem Spiel stehen.
Abwarten ist keine Lösung, zumal
Deutschland erst noch den Beweis an-
treten muss, dass der Spagat aus
mehr Klimaschutz, Wachstum und
Beschäftigung gelingen kann. Geht
es mit der Industrie bergab, bricht
das Rückgrat der deutschen Wirt-
schaft weg, das nebenbei bemerkt die
stark ausgeweiteten Leistungsverspre-
chen des deutschen Sozialstaats zu ei-
nem großen Teil finanziert. In Berlin
will das – allen Warnungen aus der
Wirtschaft zum Trotz – leider kaum
jemand hören. Die Bundesregierung
hat es in den vergangenen Jahren ver-
schlafen, sich ernsthaft Gedanken
darüber zu machen, wie die Sozialver-
sicherungssysteme dauerhaft finan-
zierbar bleiben können.
Ihr zweites Versäumnis ist, dass sie
immer noch zu wenig tut, um den
Standort Deutschland wieder attrakti-
ver zu machen. Die Unternehmen kla-
gen zu Recht über hohe Energiekos-
ten und Abgabenlasten, über ausufern-
de Bürokratie sowie fehlende Investi-
tionen in Straßen, Brücken, Schienen,
Schulen und Glasfasernetze. Zugleich
wurde ihnen in den vergangenen Jah-
ren immer mehr Flexibilität genom-
men. Es wird höchste Zeit, dass sich
an dieser Politik etwas ändert und
Deutschland wieder mehr in die Zu-
kunft des Landes investiert. Die Ar-
beitsmarktdaten bieten zwar keinen
Anlass zu Alarmismus, sollten aber
dennoch ein Weckruf sein: Die golde-
nen Zeiten sind erst einmal vorbei.

Weckruf vom Arbeitsmarkt


Von Britta Beeger


B

undesfinanzminister Olaf Scholz
(SPD) ergreift die Initiative, um
den ins Stocken geratenen Ver-
handlungen zur Bankenunion
neuen Schwung zu geben. Sein Ziel: den
zersplitterten Markt voll zu integrieren, da-
mit die Finanzinstitute effizienter arbeiten
und Größenvorteile nutzen können – und
Unternehmen und Verbraucher bessere
Bankangebote erhalten. Letztlich will er so
den Wettbewerbsnachteil europäischer In-
stitute gegenüber ihren amerikanischen
Konkurrenten abbauen. Zentrales Ele-
ment seines Vorstoßes, den der SPD-Politi-
ker in einer Rede am Mittwoch in Frank-
furt erläuterte, ist eine Art Rückversiche-
rung für eine europäische Einlagensiche-
rung – eine Vergemeinschaftung dieser Ri-
siken ist nicht zuletzt in Deutschland stets
auf große Vorbehalte gestoßen. „Wir müs-
sen mit der Bankenunion vorankommen.
Und zwar jetzt“, sagte Scholz in Frankfurt
auf einer Finanzkonferenz von Bloomberg.
Sein Vorgänger Wolfgang Schäuble
(CDU) hatte zwar im Grundsatz eine ge-
meinsame Einlagensicherung am Ende
des Prozesses ebenfalls befürwortet, aber

erst dann, wenn die Risiken in den Bank-
bilanzen abgebaut wurden. Scholz hält
dies ebenfalls für geboten, ist aber bereit,
alles gleichzeitig in Angriff zu nehmen,
um die bestehende Blockade in Europa
aufzulösen. Sein Ansatz ist in der Bundes-
regierung nicht abgesprochen worden. Er
stößt daher auf Vorbehalte, nicht nur bei
der FDP, sondern auch beim Koalitions-
partner. Um das Vertrauen in die Wider-
standsfähigkeit der europäischen Banken
zu stärken, müsse man die Risiken konse-
quent verringern, meinte Unionsfrakti-
onsvize Andreas Jung. „Das ist Vorausset-
zung für weitere Schritte zu einer europäi-
schen Einlagensicherung. So ist es verein-
bart, und daran halten wir fest.“
Scholz betonte, die Bankenunion mit ei-
ner gemeinsamen Einlagensicherung zu
vollenden sei auch im Interesse Deutsch-
lands. Sein Vorbild sind die Regeln in den
Vereinigten Staaten mit der starken Positi-
on des dortigen Einlagensicherungssys-
tems FDIC. Zugleich verwies er auf die
Notwendigkeit, dass Risiken in den Bilan-
zen der Banken abgearbeitet werden. Vor
allem italienische Institute leiden unter
faulen Krediten. Zudem halten sie viele
Anleihen des hochverschuldeten italieni-
schen Staates. Hier schlägt Scholz zusätz-
liche Eigenkapitalanforderungen vor, die
sich nach der Kreditwürdigkeit des Staa-
tes und der Konzentration der Staatsanlei-
hen in den Bilanzen richten.
Auf einer Konferenz der Europäischen
Zentralbank (EZB) bezeichnete EZB-Di-
rektor Yves Mersch die Vorschläge von
Scholz als sehr hilfreich, um mehr Dyna-
mik für die nächsten Schritte zur Banken-
union zu schaffen. Der Luxemburger, der
stellvertretender Vorsitzender der EZB-
Bankenaufsicht ist, hält es für wichtig, die
Bankenunion zu vollenden.

EU-Diplomaten sind skeptisch, ob
Scholz’ Vorstoß Bewegung in die seit Jah-
ren blockierte Diskussion bringt. Das lie-
ge nicht nur daran, dass Scholz seine In-
itiative regierungsintern nicht abge-
stimmt habe und die offizielle deutsche
Position unklar sei, hieß es in Brüssel.
Hinzu komme, dass die unverändert von
deutscher Seite vorgetragene Forderung
nach einer Risikogewichtung von Staats-
anleihen für etliche südeuropäische Staa-
ten inakzeptabel sei. Andererseits hatten
Österreich und die Niederlande die deut-
sche Ablehnung einer EU-Einlagensiche-
rung unterstützt. Es sei unwahrschein-
lich, dass Scholz’ Vorstoß deren Haltung
komplett ändere, sagte ein EU-Diplomat.
Die Euro-Finanzminister wollen über das

Thema auf ihrem Treffen an diesem Don-
nerstag in Brüssel sprechen. Angestrebt
wird, dass die Staats- und Regierungs-
chefs im Dezember der Eurogruppe ein
Mandat erteilen, über die konkrete Ausge-
staltung eines Einlagensicherungssys-
tems Gespräche aufzunehmen. Entschei-
dungen könnten frühestens in einem Jahr
fallen, hieß es in Brüssel.
Die FDP-Fraktion will den Bundestag
alsbald mit den Scholz-Plänen befassen.
Das kündigte der finanzpolitische Spre-
cher Florian Toncar an. „Egal, wie man
eine zentrale europäische Einlagensiche-
rung konkret ausgestaltet: Sie ist und
bleibt ein neuer Umverteilungsmechanis-
mus, für den die ohnehin bereits geplag-
ten Anleger zusätzlich werden bezahlen

müssen“, sagte er der F.A.Z. Unterstüt-
zung kam dagegen von den Grünen. „Die
SPD muss ernsthaft kämpfen, dass die
Union ihre Vollblockade aufgeben und
der aktuelle Vorschlag auch Regierungs-
position wird“, meinten die Abgeordne-
ten Lisa Paus und Franziska Brantner.
Die deutschen Banken sind in der Fra-
ge einer europäischen Einlagensicherung
gespalten. Die international agierenden
privaten Großbanken lehnen sie nicht ab,
weil sie Fortschritte auf dem Weg zur eu-
ropäischen Banken- und Kapitalmarktuni-
on erzielen wollen. Dann könnten sie
leichter europaweit als Kreditgeber auftre-
ten. Die Sparkassen und die Genossen-
schaftsbanken dagegen warnten davor,
die Sparer noch mehr zu verunsichern.

W


ollte Olaf Scholz mit sei-
nem Vorstoß zugunsten ei-
ner europäischen Einlagen-
sicherung der taumelnden großen Ko-
alition einen weiteren Sargnagel ver-
passen? Die Reaktionen des Koaliti-
onspartners und die eiligen Hinweise
aus Berlin und Brüssel, der Vorstoß
des Bundesfinanzministers sei nicht
abgestimmt, sprechen dafür. Dage-
gen spricht nicht nur, dass der mögli-
che neue SPD-Vorsitzende Scholz die
Koalition weiterführen will. Es ist
auch der Eindruck falsch, der Minis-
ter habe den jahrelangen deutschen
Widerstand gegen das Projekt eines
europaweiten Sparerschutzes kom-
plett geräumt.
Geändert hat Scholz die deutsche
Verhandlungstaktik. An der von sei-
nem Vorgänger Wolfgang Schäuble
vorgetragenen Forderung nach einer
Senkung von Risiken in Banken,
etwa durch eine Risikogewichtung
von Staatsanleihen, hält Scholz im
Grundsatz fest. Anders als Schäuble
will er aber über beides, Einlagensi-
cherung und Risikosenkung, gleich-
zeitig verhandeln. Die jahrelange Blo-
ckade des Vorhabens in der EU, die
vor allem auf Deutschland zurück-
ging, könnte so gelöst werden.

Grundsätzlich ist das aus zwei
Gründen richtig. Zum einen macht
Scholz sich und die deutsche Position
ehrlicher. Schon in den vergangenen
Jahren hat Berlin eine gemeinsame
Einlagensicherung nicht grundsätz-
lich abgelehnt, sondern an Bedingun-
gen geknüpft. Dieses „Ja, aber“ hatte
immer Hand und Fuß. Zu einem inte-
grierten Bankenmarkt gehört prinzi-
piell auch eine gemeinsame Absiche-
rung von Sparerrisiken. Die (versiche-
rungs-)theoretische Voraussetzung
dafür lautet, dass diese Risiken gleich
verteilt sein müssen – dass also alle
Banken und alle Sparer hinter einem
imaginären Schleier der Ungewiss-
heit gleichermaßen auf die Absiche-
rung ihrer Risiken vertrauen können.
Diese Voraussetzung ist weiterhin
nicht erfüllt. Der Anteil fauler Kredi-
te in italienischen, griechischen oder
portugiesischen Bankbilanzen ist viel
höher als in Deutschland. Aber – und
das ist der zweite Grund – Länder
wie Italien, die bisher bequem über
die deutsche Blockade schimpfen
konnten, müssen jetzt Farbe beken-
nen und zeigen, dass sie Schritte zur
Risikosenkung wirklich machen wol-
len. Dass Scholz so Druck von der
deutschen Seite nehmen will, kann
man ihm nicht verdenken.

Scholz prescht mit Bankenunion vor

Bundesfinanzminister Scholz Foto Hans Christian Plambeck/Laif


Flucht nach vorne


Von Werner Mussler


hw. BERLIN. Bundesjustizministerin
Christine Lambrecht (SPD) will die anste-
hende Reform des Insolvenzrechts nut-
zen, um Verbraucher früher schuldenfrei
zu stellen. „Im Zuge der Umsetzung der
europäischen Restrukturierungs- und In-
solvenzrichtlinie plane ich, die reguläre
Dauer des Restschuldbefreiungsverfah-
rens von derzeit sechs auf drei Jahre zu
verkürzen“, sagte die Ministerin der
F.A.Z. „Für unternehmerisch tätige Perso-
nen schreibt dies die Richtlinie ausdrück-
lich vor.“
Mit anderen Worten: Die Ministerin
geht mit ihren Plänen deutlich über die
Vorgaben des EU-Rechts hinaus. „Ich set-
ze mich dafür ein, dass das Gleiche auch
für Verbraucherinnen und Verbraucher
gilt“, sagte Lambrecht. Eine automatische
Befreiung der Restschuld sei damit frei-

lich nicht verbunden. „Auch weiterhin
werden sich alle Schuldnerinnen und
Schuldner die Restschuldbefreiung da-
durch verdienen müssen, dass sie ihren
Pflichten im Restschuldbefreiungsverfah-
ren hinreichend nachkommen“, erläuter-
te Lambrecht. Um einen abrupten Über-
gang von der sechsjährigen zur dreijähri-
gen Entschuldungsfrist zu verhindern, pla-
ne sie eine Übergangsregelung. So solle
diese nach und nach verkürzt werden. Das
soll auch verhindern, dass Schuldner ein
Verfahren verzögern, um die Schulden
dann in der Hälfte der Zeit loszuwerden.
Nach geltendem Recht können Schuld-
ner Restschuldbefreiung zwar auch nach
drei Jahren erlangen. Dafür müssen aller-
dings nicht nur die Verfahrenskosten, son-
dern auch 35 Prozent der Insolvenzforde-
rungen gedeckt sein. Das ist kaum einmal

der Fall: Eine Evaluierung des Ministeri-
ums hatte ergeben, dass nur 2 Prozent der
Schuldner diese Vorgaben tatsächlich er-
füllen können. Deshalb und wegen Vorga-
ben der EU-Richtlinie sollen diese Hür-
den kippen – Restschuldbefreiung auch
ohne Mindestbefriedigungsquote. Be-
fürchtungen, die Insolvenz könne durch
so einen Schritt ihren Schrecken verlieren
und Schuldner zu Sorglosigkeit anreizen,
teilt man im Ministerium nicht. Die meis-
ten Studien zählten unverschuldete und
unvorhergesehene Ereignisse wie Krank-
heit, Scheidung und Arbeitslosigkeit zu
den Hauptursachen von Überschuldung,
darauf habe die Dauer des Restschuldbe-
freiungsverfahrens keinen Einfluss.
Deutschland muss die Restrukturie-
rungsrichtlinie bis zum Jahr 2021 umset-
zen. Die EU will mit der Richtlinie unter

anderem verhindern, dass notleidende
Unternehmen den Standort danach aussu-
chen, wo sie am schnellsten ihre Schul-
den loswerden können. Sie gilt nur für Un-
ternehmer, allerdings können die Mit-
gliedstaaten darüber hinausgehen. In den
Erwägungsgründen legt der europäische
Richtliniengeber selbst den EU-Staaten
nahe, die Anwendung auf Verbraucher
auszuweiten. Denn diese seien von Unter-
nehmern – etwa im Fall von Freiberuf-
lern – oft nicht leicht unterscheidbar.
Der Bundesverband der Inkassounter-
nehmen hatte kürzlich in einem Positions-
papier vor einer Ausweitung der EU-Vor-
gaben auf Verbraucher gewarnt: Studien
hätten gezeigt, dass private Schuldner oft
in den letzten drei Jahren der in Deutsch-
land oft angesetzten sechs Jahre für die
Restschuldbefreiung zahlten.

Insolvente Verbraucher schneller entschulden


Drei Jahre statt sechs: Justizministerin Lambrecht will die Zeit bis zur Schuldenfreiheit halbieren


Größte Herausforderung
für Arbeitsplätze und
Wohlstand ist nicht die
Konjunkturflaute.

Der Finanzminister will


gleichzeitig über die


Einlagensicherung und


den Abbau von Risiken


verhandeln. Lassen sich


damit die Blockaden


aufbrechen?


Von Markus Frühauf,
Werner Mussler, Hanno
Mußler, Manfred Schäfers,
Frankfurt/Brüssel/Berlin

Befürworter einer gemeinsamen europäi-
schen Einlagensicherung sehen diese als
logische Vervollständigung der Wäh-
rungsunion. Ihr Argument: Die Aufsicht
der Europäischen Zentralbank über Groß-
banken, flankiert vom zentralen Brüsse-
ler Mechanismus zur Abwicklung geschei-
terter Geldhäuser, erfordere auch ein eu-
ropäisches System für den Schutz der Spa-
rer vor Bankenpleiten. Ist dieser Drei-
klang wirklich so harmonisch? Der Öko-
nom Jan Pieter Krahnen von der Frankfur-
ter Goethe-Universität jedenfalls begrüßt
den Vorstoß des Bundesfinanzministers.
Krahnen ist Professor für Kreditwirt-
schaft und Finanzierung und leitet das
Forschungszentrum SAFE.
„Der gemeinsame Bankenmarkt in Eu-
ropa braucht auch eine gemeinsame Si-
cherung der Spareinlagen, deren Schutz
bisher noch in nationaler Verantwortung
liegt“, sagte Krahnen der F.A.Z. Diese
Zersplitterung verhindere, dass vor allem
kleinere Länder eine glaubwürdige Einla-
gensicherung aufbauen. Hier sei etwa an
Staaten wie Luxemburg, die Niederlande,
Zypern oder Griechenland zu denken, de-
ren Banken gemessen an ihrer jeweiligen
nationalen Volkswirtschaft sehr groß und
damit entsprechend riskant seien. Im Kri-

senfall könne daher wegen der gemeinsa-
men Währung schnell eine Kapitalflucht
aus Ländern einsetzen, deren Einlagensi-
cherung als schwächer angesehen werde.
Bisher haben nationale Alleingänge laut
Krahnen verhindert, dass Banken tatsäch-
lich abgewickelt werden. Denn die Regie-
rungen retten Institute, um Sparer und da-
mit ihre Wähler zu schützen. „Mit einer
funktionierenden und glaubwürdigen Ein-
lagensicherung im Rücken müssten sie
das nicht mehr tun“, so Krahnen. Folglich
stiege auch der Druck auf die Banken,
ihre Geschäfte verantwortungsvoller zu
führen.
Kleinere Banken, die nicht direkt von
der Europäischen Zentralbank beaufsich-
tigt werden, waren bisher faktisch nicht ab-
wickelbar, weil sie unter nationaler Verant-
wortung blieben. Zu Scholz’ Vorstoß ge-
hört auch die Abwicklung kleinerer Ban-
ken nach dem Vorbild der amerikanischen
„Federal Deposit Insurance Corporation
(FDIC)“. Wenn die Aufseher zum Ergeb-
nis kommen, dass eine Bank ihren Ver-
pflichtungen nicht mehr nachkommen
kann, kommen die FDIC-Beamten, um
das Institut zu übernehmen und schnell an
einen gesunden Konkurrenten zu verkau-
fen – das trifft auch kleinere Banken. Die

Einlagenversicherung finanziert sich aus
den Beiträgen der überwachten Banken,
die 1,35 Prozent der versicherten Einla-
gen abführen. Dazu kommt eine Kreditli-
nie vom amerikanischen Finanzministeri-
um in Höhe von 100 Milliarden Dollar.
Doch selbst das reicht manchmal nicht.
Im Jahr 2009 gingen rund 140 Banken in-
solvent. Daraufhin wies der Einlagenver-
sicherer die Banken an, die Beiträge für
die nächsten drei Jahre vorab zu zahlen.
Die Behörde muss bei der Abwicklung
oder Überführung der Bank jene Methode
wählen, die am kostengünstigsten für die
Einlagenversicherung ist. Während der Fi-
nanzkrise haben die Amerikaner aber
auch Ausnahmen von den FDIC-Regeln
zugelassen. In Deutschland sieht Ökonom
Krahnen da noch Handlungsbedarf. „Mit
Blick auf die oft gerühmte Institutssiche-
rung der Sparkassen und Genossenschafts-
banken ist zu sagen, dass diese Finanzver-
bünde ökonomisch auch als Konzerne be-
trachtet werden können“, gibt Krahnen zu
bedenken. Die einzelnen Unternehmen
dieser Gruppen stützten sich zwar gegen-
seitig, jedoch fehle ein Haftungsmechanis-
mus für den „Konzern“. „Bei einer Groß-
bank würden wir ein solches Konzept mit
einem Fragezeichen versehen.“ mfe./wvp.

Der Sinn einer Einlagensicherung für die Währungsunion


FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Wirtschaft DONNERSTAG, 7. NOVEMBER 2019·NR. 259·SEITE 17

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