Handelsblatt - 07.11.2019

(Darren Dugan) #1
Moritz Koch Berlin

D


ie digitale Ära beginnt in einer kali-
fornischen Herbstnacht. Am 29. Ok-
tober 1969 schickt ein Wissenschaft-
ler in Los Angeles das Wörtchen „log -
in“ elektronisch an einen Kollegen in
Stanford. Von den fünf Buchstaben kommen nur
zwei an, dann stürzt das System ab, doch die kryp-
tische Nachricht geht in die Geschichte ein: als ers-
te E-Mail der Welt. Aus dem Arpanet, das damals
die Rechner verbindet, entwickelt sich später das
Internet. Neugier und unerschütterlicher Fort-
schrittsglaube prägen das Denken jener Zeit. Das
Internet gilt als Tor zu einer Utopie, dem herr-
schaftsfreien Cyberspace.
50 Jahre später: Die Aufbruchseuphorie ist Zu-
kunftsangst gewichen. Wo das Internet nicht von
Großkonzernen dominiert wird, die unsere inners-
ten Geheimnisse auskundschaften, ergreifen auto-
ritäre Staaten die Kontrolle. Das Netz steht als
Werkzeug der Manipulation in der Kritik. Demo-
kratien geraten unter Druck, Diktaturen festigen ih-
re Macht.
Die Bedeutung dieser globalen Kräfteverschie-
bung und ihrer Folgen für die deutsche Außenpoli-
tik analysiert die Digitalstrategie des Auswärtigen
Amts, die das Handelsblatt exklusiv einsehen konn-
te. „Die digitale Transformation verändert sowohl
den Gegenstand als auch den Instrumentenkasten
der Außenpolitik“, stellt das Haus von SPD-Minister
Heiko Maas fest. Mehr noch: Sie werde zur Bewäh-
rungsprobe für die repräsentative Demokratie und
den Standort Deutschland.
Das Strategiepapier soll wie ein Weckruf wirken.
Wie ein Weckruf für die Gesellschaft, die das Po-
tenzial der Digitalisierung nicht ausschöpft und Ge-
fahr läuft, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren.
Und wie ein Weckruf für die Regierung, die lang-
sam erst realisiert, dass die außenpolitischen
Grundannahmen ins Wanken geraten. „Die Wettbe-
werbsfähigkeit großer Industrienationen wie
Deutschland wird durch lange Entscheidungspro-
zesse, veraltete IT-Strukturen, eine verbreitete
Skepsis gegenüber Technologie und im internatio-
nalen Vergleich unzureichende Investitionen in Zu-
kunftstechnologien beeinträchtigt“, heißt es darin.
Während die wirtschaftliche Basis und der außen-
politische Einfluss der Bundesrepublik zu erodie-
ren drohten, wüssten autoritär regierte Staaten
vom digitalen Wandel zu profitieren. Die Folge:
„Der in der analogen Welt geltende Rechtskanon
von Menschenrechten, Urheberrechten und Daten-
schutz steht im digitalen Raum unter Druck“,
schreibt das Außenministerium.

Überwachungsstaat der Zukunft
Hinrich Thölken, Digitalbotschafter des Auswärti-
gen Amts und Hauptautor des Strategiepapiers, be-
zeichnet digitale Technologien als „Doping für Dik-
taturen“. Explizit erwähnt das Strategiepapier das
Social-Credit-System, mit dem das chinesische Re-
gime das Verhalten von Bürgern und Unternehmen
benotet, die Gesellschaft auf die Normen des Ein-
parteienstaats konditioniert – und so den Überwa-
chungsstaat der Zukunft errichtet. Die Datenspu-
ren, die Chinesen im Netz hinterlassen, werden
von Sicherheitsorganen ausgewertet. Technologien
wie Big Data und KI assistieren bei der Perfektion
der Kontrolle. Zu den erfolgreichsten Firmen Chi-
nas zählen heute Unternehmen, die eng mit dem
Sicherheitsapparat kooperieren: ob Huawei, Hikvi-
sion, Megvii, Cloudwalk oder Yitu. Es bildeten sich
neue, teils intransparente „zivile-militärische Struk-
turen“, analysiert das Auswärtige Amt. Und weiter:
„Staaten nutzen die Marktmacht großer Tech-Un-
ternehmen zur Verfolgung ihrer politischen und
wirtschaftlichen Interessen, etwa im Bereich der
digitalen Infrastruktur.“
Die Spannungen zwischen China und den USA
zeigen das sehr deutlich. Chinas Staatschef Xi Jin-
ping hat das Ziel ausgegeben, die Volksrepublik in
eine „Cybersupermacht“ zu verwandeln. Das Re-
gime exportiert Repressions-Know-how – und posi-
tioniert sich damit als Systemkonkurrent des Wes-
tens. Cloudwalk stattet Simbabwe mit einem Sys-
tem zur Gesichtserkennung aus, Yitu liefert
gesichtserkennende Körperkameras an Polizeikräf-
te in Malaysia: Wenn Chinas Sicherheitsfirmen
neue Märkte erschließen, erweitern sie auch die

Einflusssphäre der KP. Den Amerikanern ist der
Einsatz digitaler Technologie für strategische Zwe-
cke alles andere als fremd, siehe NSA-Affäre. Auch
deshalb treten sie dem chinesischen Machtstreben
so energisch entgegen. Die US-Regierung hat Hua-
wei, Hikvision, Yitu und Megvii auf schwarze Listen
gesetzt, die Lieferung amerikanischer Chips und
Software eingeschränkt. Das ist kein gewöhnlicher
Handelskonflikt mehr, Experten sprechen von ei-
nem technologischen Kalten Krieg.
Der Beginn der neuen Systemrivalität fällt in eine
Schwächephase der liberalen Gesellschaften. Die
Digitalstrategen des Außenministeriums widmen
sich auch ihr: „Interessengruppen, politische Be-
wegungen, Staaten oder einzelne Personen“ ver-
fälschten Informationen, sodass die „gemeinsame
Faktenlage brüchig“ werde. Ein Prozess, der sich in
Zukunft – Stichwort: Deepfakes – noch verstärken
dürfte: „Sprache und Bild können mithilfe von
neuen Technologien von jedermann manipuliert
werden“, heißt es in dem Strategiepapier. Was be-
deutet es für die Demokratie, wenn wahr und un-
wahr nicht mehr zu unterscheiden ist?
KI wird zur Schlüsseltechnologie – wirtschaftlich,
politisch und militärisch. Lernfähige Maschinen
versprechen einen Produktivitätsschub, autonome
Waffensysteme Überlegenheit auf dem Schlacht-

feld. Das Auswärtige Amt sagt den „Aufbau völlig
neuer Fähigkeiten für das Militär und den Sicher-
heitssektor“ voraus. Die menschheitsbedrohende
Roboterrebellion, die Hollywood gern inszeniert,
bleibt zwar weiter Science-Fiction. Doch schon
heute ermöglichen Algorithmen, die Horden von
Bots, die das Internet bevölkern, noch zielgerichte-
ter zu steuern und öffentliche Debatten noch wir-
kungsvoller zu verzerren. Der Skandal um Cam-
bridge Analytica im US-Wahlkampf 2016 hat eine
Vorahnung auf die Angriffe gegeben, denen Demo-
kratien künftig ausgesetzt sein werden. Das Aus-
wärtige Amt warnt vor einer „Fragmentierung des
öffentlichen Diskurses“, der Beeinflussung von
Wahlen und der Vertiefung gesellschaftlicher Spal-
tungen. Es drohe ein „geschwächtes Vertrauen in
demokratische Institutionen“ und letztlich die De-
stabilisierung ganzer Länder.
Die Weigerung der großen US-Onlinekonzerne,
Verantwortung für die medialen Botschaften auf
ihren Plattformen zu übernehmen, spielt dabei ei-
ne zentrale Rolle. Twitter hat zwar gerade erst ver-
kündet, aus dem Geschäft mit politischer Werbung
auszusteigen. Doch das reichweitenstärkste Online-
netzwerk, Facebook, ist dazu nicht bereit. Die Ver-
breitung von Desinformationen ist ein lukratives
Geschäft. Wie wenig die Unternehmen die politi-

„Doping für


Diktaturen“


Das Auswärtige Amt warnt vor dem Aufstieg von


Hightech-Autokratien und der wachsenden Macht der IT-Industrie.


Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit sei bedroht.


Staatsministerin Bär:
„Das Auswärtige Amt
packt mit der Verwal-
tungsdigitalisierung ein
wichtiges Thema an.“ obs

Titelthema


Cybersicherheit


DONNERSTAG, 7. NOVEMBER 2019, NR. 215
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