Handelsblatt - 07.11.2019

(Darren Dugan) #1

schen Folgen ihrer Innovationen einkalkulieren,
zeigt der Fall Libra. Facebook will eine Digitalwäh-
rung schaffen, die Überweisungen über alle Gren-
zen hinweg ermöglicht, schnell und kostenlos. Weil
Facebook 2,5 Milliarden „digitale Einwohner“ hat,
hätte Libra das Potenzial, normale Währungen zu
verdrängen und das Weltfinanzsystem auf den
Kopf zu stellen. Das meint das Auswärtige Amt,
wenn es von der „globalen Gestaltungsmacht“ der
Tech-Industrie schreibt und fordert: „Wir müssen
uns mit diesen aufstrebenden nicht-staatlichen Ak-
teuren außenpolitisch auseinandersetzen.“
Europa hat der Macht der Datenriesen nur das
Gewicht des europäischen Binnenmarkts entgegen-
zusetzen. Mit der Datenschutz-Grundverordnung
(DSGVO) habe die EU zwar ein Regelwerk durchset-
zen können, das die globale Tech-Industrie zu An-
passungen im Sinne europäischer Werte zwinge,
urteilt das Auswärtige Amt. Aber: „Es ist nicht ge-
lungen, auf diesen Werten basierende Produkte an-
zubieten.“ Die Machtdemonstration, die die DSGVO
bedeutet hat, könnte sich deshalb als Momentaus-
nahme erweisen. Die abnehmende ökonomische
Bedeutung Europas bedeute, dass auch Regulie-
rungsmacht schwinde, mahnt das Papier.


USA hinken technologisch hinterher


Das Auswärtige Amt knüpft mit seiner Digitalstrate-
gie an eine Debatte um die außenpolitische Dimen-
sion von Technologie an, die US-Experten schon
länger beschäftigt. Julie Smith, Leiterin der Asien-
abteilung des German Marshall Fund, erläutert:
„Washington treibt die Sorge um, dass die USA ih-
ren technologischen Vorsprung an China verlieren,
das enorme Summen in disruptive Technologien
investiert.“ Die Beunruhigung ist in den USA auch
deshalb so groß, weil der Aufstieg des digitalen Au-
toritarismus an der Grundüberzeugung der westli-
chen Außenpolitik seit Ende des Kalten Kriegs rüt-
telt: der Überlegenheit des demokratischen Sys-
tems.
Die Diktaturen des 20. Jahrhunderts erwiesen
sich als instabil und ineffizient, da sie versuchten,
Wirtschaft und Gesellschaft zentral zu steuern, was
mit der damaligen Technologie schlicht nicht mög-
lich war. Mit Big Data und KI wendet sich das Blatt:
Algorithmen brauchen Daten, je mehr sie bekom-
men, desto klüger werden sie. Während liberale


Demokratien digitale Rohstoffe mit Datenschutzre-
geln verknappen, steht in Diktaturen der totalen
Erfassung nichts im Weg. „Das Haupthindernis au-
toritärer Regime im 20. Jahrhundert – der Drang,
alle Informationen und Kräfte an einem Ort zu
bündeln – kann im 21. Jahrhundert zu ihrem ent-
scheidenden Vorteil werden“, argumentiert der is-
raelische Historiker Yuval Harari. Das Auswärtige
Amt diagnostiziert: „Technologien basierend auf
Big Data, Smart Data, KI und Quantentechnologie
werden zu einer Machtverschiebung führen.“

Einsatz für Freiheit im Internet
Neben solchen Prognosen formuliert die Digital-
strategie auch neue außenpolitische Ziele. Die
„Stärkung der Resilienz gegen Radikalisierung und
Polarisierung“ etwa, der Kampf gegen den „Miss-
brauch digitaler Technologien zur politischen Kon-
trolle und Untergrabung von Demokratie“ und der
Einsatz für „Freiheit im Internet“. Im technologi-
schen Kalten Krieg zwischen China und den USA
schwebt dem Auswärtigen Amt eine digitale Neu-
auflage der Entspannungspolitik vor, um die „Spal-
tung der Welt in konkurrierende Technologiesphä-
ren zu mindern“. Zugleich sieht die Digitalstrategie
die „Stärkung von Europa und Deutschland als di-
gitalen Wirtschaftsstandort“ vor, zu der das Außen-

ministerium selbst beitragen will: Die Auslandsver-
tretungen sollen „Ansprechpartner und Türöffner
für Start-ups und digitale Plattformen“ werden, wie
das Strategiepapier betont.
Angesichts der enormen Herausforderungen
müsse „ein digitaler Ruck durch Deutschland“ ge-
hen, fordert Digitalbotschafter Thölken. Ein Erfolg
wäre es allerdings schon, wenn zumindest durch
das Auswärtige Amt ein Ruck gehen würde. Disrup-
tion entspricht nicht dem Naturell der Diplomaten.
Es wird nicht leicht, sie zu Agenten des Wandels
umzuerziehen. Doch genau das nimmt sich die Di-
gitalstrategie vor: „Zur Steigerung der Prognose-
und Analysefähigkeit“ sollen Diplomaten verstärkt
KI-Anwendungen nutzen. Zudem soll die interne
Kommunikation modernisiert, Verwaltungsabläufe
verbessert werden. Selbst der „Gefahr für Ver-
schlüsselung durch Quantencomputer“ widmet
sich das Papier. Lob kommt aus dem Kanzleramt:
„Ich freue mich sehr, dass sich das Auswärtige Amt
so umfassend mit der digitalen Transformation
auseinandersetzt und dabei zum Beispiel mit der
Verwaltungsdigitalisierung ein wichtiges Thema an-
packt“, sagt Digitalstaatsministerin Dorothee Bär.
Der Vorstoß des Auswärtigen Amts sei auch des-
halb so bemerkenswert, weil das Ministerium ei-
nen weltweiten Apparat koordiniere.

Staaten


nutzen die


Marktmacht


großer


Tech-Unter -


nehmen zur


Verfolgung


ihrer


politischen


und wirtschaft -


lichen


Interessen.


Strategiepapier
Auswärtiges Amt

Überwachungs-
anlagen von
Huawei: China
macht seine
Bürger kom-
plett gläsern.

REUTERS

   


 

      



     
   




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Cybersicherheit


DONNERSTAG, 7. NOVEMBER 2019, NR. 215
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