Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

D


as mit Russland sei »alles nur noch
traurig«, sagt Travis Tygart und
schüttelt den Kopf. Der Chef der
amerikanischen Anti-Doping-Agentur
(Usada) beugt sich in seinem Sessel vor
und zählt mit den Fingern seiner rechten
Hand auf: 2012, 2014, 2016, 2018 – vier
Olympische Spiele in Serie seien bereits
beschmutzt durch russisches Doping.
»Nun stehen wir kurz vor den Sommer-
spielen 2020 in Tokio«, sagt Tygart, 48,
»und wir reden immer noch über die Rus-
sen. Unglaublich.«
Ein sonniger Oktobertag in Colorado,
Tygart sitzt mit hochgekrempelten Hemds-
ärmeln in der Lobby eines Tagungshotels.
Er kommt gerade von einer Podiumsdiskus-
sion, die sich vor allem um eine Frage dreh-
te: Wie entscheidet die Welt-Anti-Doping-
Agentur (Wada) in der Russlandfrage?
Rund eine Woche zuvor war bekannt
geworden, dass die Russen den Kontrolleu-
ren einen Datensatz übermittelt hatten, der
womöglich tausendfach manipuliert wurde,
um weitere Dopingvergehen zu verheim -
lichen. Russland bestreitet das. Eigentlich
hätten die Daten der Wada dabei helfen
sollen, einen Schlussstrich zu ziehen unter
den seit Jahren köchelnden russischen Do-
pingskandal.
Wieder einmal ist die Wada nun gefor-
dert, den russischen Sport zu sanktionie-
ren. Wieder einmal würden dann mögli-


cherweise russische Athleten von interna-
tionalen Wettbewerben ausgeschlossen wie
2017 die Läuferin Marija Sawinowa. Doch
wird die Organisation auch dieses Mal hart
durchgreifen? Vermutlich nicht. Zu verfilzt
sind die Strukturen. Und das Problem wird
auch ihr neuer Präsident wohl kaum lösen.
Für den Usada-Chef Tygart steht fest,
wer die Schuld trägt an der Wada-Misere:
das Internationale Olympi-
sche Komitee (IOC) unter Prä-
sident Thomas Bach – und die
Wada selbst. »Die Verantwort-
lichen dort sind unfähig, ange-
messene Entscheidungen zu
treffen«, beklagt Tygart.
Diese Woche feiert die
Wada ihr 20-jähriges Beste-
hen, die Funktionäre kamen
dafür zu einer Konferenz im
polnischen Katowice zusam-
men. Das Jubiläum fällt für
die Institution in die Zeit ihrer größten Kri-
se. Nie war die Kritik an ihr so vehement
und nachhaltig. »Die Sportler haben das
Vertrauen in die Wada verloren«, sagt Sä-
belfechter Max Hartung, Präsident des
Vereins Athleten Deutschland.
Zu oft wurden saubere Sportler ent-
täuscht: etwa als die Wada Russland 2018
trotz jahrelanger Betrügereien begnadigte,
obwohl das Land zuvor nicht alle Wieder-
zulassungskriterien erfüllt hatte.
Oder wenn große Namen der Sportwelt
nach augenscheinlichen Dopingverstößen
ohne Sperre davonkamen. So wie der nach
eigener Aussage unschuldige Tour-de-
France-Gewinner Christopher Froome,
der auch 2018 weiter im Sattel saß, obwohl
in seinem Urin eine unerlaubt große Men-
ge eines Asthmamittels nachweisbar war.
Zwar sitzen auch Sportler in den ver-
schieden Wada-Gremien, doch ihr Einfluss
ist gering. »Wir wollen die gleichen Mitspra-
cherechte haben wie alle anderen Interes-
sengruppen«, fordert Beckie Scott, 45, Vor-

sitzende der Wada-Athleten-Kommission.
Momentan sei man davon weit entfernt.
Ein Grund: die Struktur der vermeintli-
chen Kontrollinstanz. 50 Prozent der Sitze
in den beiden wichtigsten Wada-Gremien
besetzen Sportfunktionäre, das IOC stemmt
zudem die Hälfte des Jahresbudgets von
rund 35 Millionen Dollar. Der Anti-Do-
ping-Kampf hängt somit am Tropf derer,
die Dopingfälle als Bedrohung
der eigenen Geschäftsgrund -
lage ansehen. Größer kann ein
Interessenkonflikt kaum sein.
Davon können auch PR-
Maßnahmen nicht ablenken.
In Katowice kündigte IOC-
Präsident Bach an, zehn Mil-
lionen Dollar zusätzlich in den
Anti-Doping-Kampf zu inves-
tieren. Das ist viel Geld, doch
für das IOC kein Kraftakt: Al-
lein in den Aufbau eines haus-
eigenen TV-Senders fließt das 60-Fache
dieser Summe.
Das schmale Wada-Budget, das nicht
einmal dem Jahreseinkommen des Renn-
fahrers Sebastian Vettel entspricht, soll
künftig Witold Bańka, 35, verwalten. Der
Ex-Leichtathlet übernimmt ab Januar das
Präsidentenamt. Anders als sein Vorgän-
ger Craig Reedie, 78, ist der polnische
Sportminister kein IOC-Mitglied. »Die Zu-
kunft des Kampfes gegen Doping beginnt
heute«, verkündete Bańka diese Woche
in Katowice. Seine Worte klangen nach
Aufbruchstimmung, in Wahrheit sind gro-
ße Reformen unmöglich, denn die bisheri-
gen Strukturen sollen bestehen bleiben.
Echte Veränderungen hatten sich viele
von Linda Helleland erhofft. Die Norwe-
gerin ist Vizepräsidentin der Wada, hatte
sich Ende 2018 für das Hauptamt ins Ge-
spräch gebracht. Ihre Forderungen: mehr
Unabhängigkeit und stärkere Einbindung
von Athleten. Das Exekutivkomitee und
das sogenannte Foundation Board der
Wada ignorierten Helleland jedoch und
entschieden sich für Bańka als Kandidaten.
Helleland hatte sich auch für einen härte-
ren Umgang in der Causa Russland ausge-
sprochen. »Da sieht man, was passiert,
wenn man in der Wada den Mund auf-
macht«, sagt US-Anti-Doping-Chef Ty-
gart, »da wird die Zielscheibe auf dem Rü-
cken gleich größer.«
Sollte sich nun herausstellen, dass Mos-
kau erneut betrogen hat, ist das für die
Wada die letzte Chance zu beweisen, dass
sie ihrer Aufgabe nachkommt. Anfang De-
zember soll die Entscheidung fallen.
Usada-Chef Tygart hat klare Vorstellun-
gen: »Bei einem Athleten, der in voller
Absicht betrügt, reden wir von vier Jahren
Sperre«, sagt er. »Warum sollte es einem
staatlichen Sportsystem anders ergehen?«
Thilo Neumann

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019

Sport

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Chance


DopingEin neuer Präsident
soll das miserable Image der
Welt-Anti-Doping-Agentur
aufbessern. Kann das gelingen?

STU FORSTER / GETTY IMAGES
Läuferin Sawinowa in London 2012: »Die Verantwortlichen sind unfähig«

IREK DOROZANSKI / AFP
Funktionär Bańka
Schmales Budget

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