Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1
113

Verkehr

»15 Euro Bußgeld


schrecken keinen«


Siegfried Brockmann, 60,
Leiter der Unfallforschung
der Versicherer im Gesamt-
verband der Deutschen Ver-
sicherungswirtschaft, hatte
vor einer überstürzten
Zulassung der E-Scooter
gewarnt. Nun kritisiert
er die wilde Nutzung der Roller auf Fuß -
wegen und mangelnde Kontrollen.

SPIEGEL:Herr Brockmann, das Jahr der
Einführung des E-Scooters neigt sich
dem Ende zu – ein schwarzes Jahr für
die Verkehrs sicherheit?
Brockmann:Das lässt sich noch nicht
sagen, weil wir bislang nur Halbjahreszah-
len vorliegen haben. Eines lässt sich aber
schon absehen: Gerade bei schwächeren
Verkehrsteilnehmern wie den Radfahrern
steigt die Zahl der Getöteten wieder an.
Mit dem vor acht Jahren gesetzten Ziel
der Bundesregierung von minus 40 Pro-
zent Verkehrstoten bis 2020 werden wir
krachend scheitern.
SPIEGEL:Aber doch nicht wegen des
E-Scooters?
Brockmann:Nein, dafür ist der noch zu
neu. Und die dadurch verursachten Unfäl-
le werden bislang nicht gesondert erfasst.
Aber ich habe früh gesagt, dass wir hier
ein neues Verkehrsmittel bekommen, das
selbstverständlich zu zusätzlichen Unfäl-
len führen wird. Das ist auch nicht unge-
wöhnlich. Die große Frage wird sein, ob
diese zusätzlichen Unfälle in einem sinn-

vollen Verhältnis zu einem zusätzlichen
Verkehrsnutzen stehen.
SPIEGEL:Also ob die Nutzung des
E-Rollers andere Fahrten, vor allem
Autofahrten, ersetzen würde.
Brockmann:Genau. Da sind Zweifel an -
gebracht. Bisher sind die Roller fast nur in
Verleihsystemen angekommen. Sie werden
von Touristen und Passanten auf inner -
städtischen Minidistanzen genutzt, die
man gut zu Fuß zurücklegen könnte. Erst
Roller im Privatbesitz würden etwa als
regelmäßiger Zubringer zur U-Bahn einen
positiven Effekt haben, indem sie Autofahr-
ten ersetzen. Doch ich bezweifle, dass das
in nennenswerter Zahl passieren wird.
SPIEGEL:Warum?
Brockmann:Zum einen sind diese Roller
nicht billig. Und sie sind schwer. So ein
Trumm in die Bahn mitzunehmen, vor
allem wenn kein Aufzug zur Verfügung
steht, ist nicht ganz trivial.
SPIEGEL:Sie haben früh die überhastete
Zulassung der E-Scooter kritisiert. Wo
sehen Sie die größte Gefahr?

Brockmann: Eines der größten Probleme,
die ich sehe, ist die Nutzung der Roller
auf Fußgängerwegen.
SPIEGEL:Die ist doch verboten.
Brockmann:Ja, in der Praxis fahren
allerdings massenhaft Roller auf Fuß -
gängerwegen. Die Polizei ist völlig über-
fordert, das zu kontrollieren, und das
drohende Bußgeld von 15 Euro schreckt
ohnehin keinen ab.
SPIEGEL:Gehen Sie davon aus, dass die
meisten Unfälle auf Fußgängerwegen
stattfinden?
Brockmann:Jedenfalls viele, aber es wird
schwer sein, dazu verlässliche Zahlen zu
liefern. Bei Unfällen mit Fußgängern eini-
gen sich die Betroffenen oft untereinander.
Auch Alleinunfälle, die zahlreichen Stür-
ze, sind schlecht zu erfassen. Jemand, der
sich auf die Nase gelegt hat, meldet sich
danach normalerweise nicht bei der Poli-
zei. Erfasst werden hier nur die sehr
schweren Fälle.
SPIEGEL:Sie werden also nie genau wis-
sen, wie gefährlich die Roller sind?
Brockmann:Doch. Mein
Institut wird deshalb ein
eigenes Forschungsprojekt
starten und das Geschehen
vor allem in den touris -
tischen Brennpunkten
mit eigenen Mitarbeitern
beobachten.
SPIEGEL:Das klingt nach
viel Arbeit. Wann wollen
Sie brauchbare Erkennt -
nisse haben?
Brockmann:Ich rechne
nicht vor Mitte 2021
mit aussagekräftigen Er -
gebnissen. CW

Das Öko-Institut, ein anerkannter Zertifizierbetrieb in Fragen
der Nachhaltigkeit, hat sich die Mühe gemacht, eine »verglei-
chende Klimabilanz« des Verreisens mit Kleinlastwagen zu
errechnen. Es stellte dem Wohnmobil ein überraschend gutes
Zeugnis aus. Der CIVD, Lobbyverband der Caravan- und Wohn-
mobilindustrie, hatte die Studie vor Jahren in Auftrag gegeben
und wirbt gern mit den Ergebnissen, gerade zu einer Zeit, da die
ganze unheile Welt sich aufmacht, die geschundene Atmosphäre
zu päppeln – und sei es mit dem Wohnmobil. Eine Kreuzfahrt,
so der CIVD, sei bis zu 6,6-mal so schlimm fürs Klima wie die
Reise im mobilen Eigenheim.
Den Kreuzfahrer – wie der Wohnmobilist Vertreter einer
Boombranche – muss das nicht verdrießen. Ihm haben die Kom-
munikationsabteilungen der Reedereien schon vergleichbare
Rechtfertigungsschablonen zurechtgezimmert. So weist das

Unternehmen Aida Cruises darauf hin, dass auf der Fahrt im
Massendampfer nur knapp drei Liter Treibstoff pro Passagier
und 100 Kilometer verfeuert werden.
Und die Flugreise zum Hafen in der Karibik? Alles halb so
wild. Erstens bringt der ökosensible Fernreisende seinen eigenen
Trinkbecher mit an Bord, um das Meer nicht mit Plastikmüll zu
verunzieren, das er nachher blitzsauber durchkreuzen will. Und
zweitens war im Preis des herrlich billigen Flugtickets noch ein
grünes Entschuldungszertifikat enthalten zur Finanzierung eines
grünen Aufforstungsprojektes, das irgendwo armen Menschen
hilft und auch flugs die halbe Tonne Kerosin kompensiert, die
ein in die Ferne fliegender Mensch zwischen Start und Landung
verbraucht. Das Öko-Institut könnte diesen bizarren Ablass -
handel mal gründlich durchleuchten. Fehlt nur noch der Auftrag-
geber. Christian Wüst

Einwurf

Heucheln fürs Klima


Das neue Ökobewusstsein hat vor allem eines gefördert – die Akrobatik des Selbstbetrugs.

PAUL LANGROCK / ZENIT / LAIF
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