Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

D


ie Brücken im indischen Bundes-
staat Meghalaya sehen aus, als
stammten sie aus der Fabelwelt
vom »Herrn der Ringe«. Ein
knorriges, von Moos bedecktes Geflecht
aus den Luftwurzeln des Gummibaums Fi-
cus elastica bildet die Tragstruktur der Bau-
werke. Traditionell sind die Völker der
Khasi und Jaintia die Baumeister.
An Bächen oder den Hängen kleiner Tä-
ler pflanzen die Bewohner Meghalayas
Stecklinge des Baumes. Sobald die ersten
Luftwurzeln aus den Gewächsen sprießen,
werden sie langsam zur Brücke geformt
und fassen schließlich am gegenüberliegen-
den Ufer Fuß. Immer wieder verstärken
die Konstrukteure die Struktur mit weite-


den, wie lebende Bäume als zentrale Ele-
mente von Bauwerken genutzt werden
können.
Zusammen mit seinem Team »ver-
schmilzt« der Architekt Weiden, Platanen,
Birken oder Schwarzerlen mit Beton und
Stahl zu Hybridkonstrukten aus totem und
lebendigem Material.
Häuser, Türme, Brücken sollen auf diese
Weise entstehen – und vielleicht sogar gan-
ze Städte, die grüner und lebenswerter
sind und gleichzeitig dem Klimawandel
besser trotzen können.
»Es geht nicht darum, technische Bau-
stoffe durch lebende zu ersetzen, sondern
darum, Gebäude und Bäume zu fusionie-
ren«, erklärt Ludwig. »Für uns sind die

114 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


Wissenschaft

Lebende Häuser


BotanikEin Münchner Architekturprofessor entwirft Bauwerke der Zukunft, in denen Weiden


und Platanen auf faszinierende Weise mit Stahl und Beton verschmelzen. Könnten
die Baum-Häuser irgendwann helfen, grünere Städte zu schaffen, die der Erderwärmung trotzen?

FERDINANDO IANNONE
»Platanenkubus« in Nagold: »Fachwerkartige Strukturen« aus Hunderten Bäumen

rem Wurzelwerk. Jahrzehnte kann das
Bauen und Wachsen dauern.
»Diese Brücken können mehr als 50 Me-
ter lang werden«, schwärmt Ferdinand
Ludwig von der Technischen Universität
München. »Einige von ihnen sind Hunder-
te Jahre alt.« Der Architekt reiste jüngst
nach Meghalaya in den subtropischen
Nordosten Indiens, um die »lebenden Brü-
cken« zu studieren. Für den Gelehrten
sind die Bauwerke Inspiration und glück-
licher Zufall zugleich.
Ludwig, 39, ist Professor für »Green
Technologies in Landscape Architecture«
und Vorreiter eines neuen, innovativen
Zweiges der Architektur. »Baubotanik«
nennt er sein Fach. Ludwig will herausfin-
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