Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

Bäume ein Material wie Stahl oder Beton«,
sagt er, »ihr Wachstum ist Teil der Vision.«
Sobald seine Projekte fortgeschritten sind,
nennt er sie »erwachsen«.
Spätestens seit dem 12. Jahrhundert
bringen kreative Landschaftsgärtner Bäu-
me in dekorative Formen. Kunsthandwer-
ker lassen heute Äste zu Bänken, Frucht-
schalen oder Zäunen wachsen. Die Bau-
botaniker um Ferdinand Ludwig jedoch
wollen mehr. Bei ihnen sind Bäume inte-
graler Bestandteil von Architektur.
Vorbild sind für sie neben den lebenden
Brücken Meghalayas beispielsweise die so-
genannten Tanzlinden Oberfrankens, Thü-
ringens oder Hessens. Traditionell gibt es
dort Lindenbäume, deren Äste während
des Wachstums kunstvoll umgeleitet wer-
den, um etwa einen gleichmäßig geform-
ten, lindgrünen Baldachin für Feste und
Bräuche zu erschaffen.
Ludwig hat solche Tech -
niken immer weiter verfeinert.
Die Grundidee ist stets ähn-
lich. Noch junge, flexible
Bäume werden während des
Wachstums langsam in die
gewünschte Form gebracht.
Nach einigen Jahren können
etwaige technische Hilfsstruk-
turen entfernt werden. Zuvor
eingezogene Plattformen oder
ein Dach ruhen dann nur noch
auf den Bäumen.
Was so einfach klingt, ist
eine technische Herausforde-
rung. »Strangulation« (Lud-
wig) droht beispielsweise,
wenn Metallhalterungen den
Saftfluss behindern. »Bypäs-
se« aus Ästen haben die Ar-
chitekten schon angetackert,
um das Holz am Leben zu er-
halten. Damit es nicht zum »Totalversa-
gen« durch Bruch kommt, führen die
Baumflüsterer Langzeitversuche durch,
um die Belastbarkeit des Baummaterials
zu ergründen.
So prüfen sie die Fähigkeit von Weiden,
Stahlrohre zu »überwallen«, sprich zu um-
wachsen. Große Kunst ist auch die soge-
nannte Pflanzenaddition: Dabei verbin-
den die Experten zum Beispiel Platanen
zu »fachwerkartigen Strukturen«.
Das Team erschafft auf diese Weise Bäu-
me, die mit mehreren Stämmen aus der
Erde wachsen, sich kreuzen, sich dann
trennen und wieder treffen, als wären sie
miteinander verflochten. Pflege wie im
Ziergarten sei allerdings vonnöten, um die
Baumstrukturen in Schuss zu halten, sagt
Baubotaniker Ludwig – sonst drohe »Ver-
buschung«.
Inzwischen hat Ludwigs Forschertruppe
zahlreiche Projekte realisiert. Frühe Bau-
ten sind ein begehbarer Metallsteg, der
einzig von Weiden in der Luft gehalten


wird. Zusammen mit dem Stuttgarter Ar-
chitekten Daniel Schönle schuf Ludwig im
baden-württembergischen Nagold einen
»Platanenkubus«.
Das würfelförmige Bauwerk hat drei
eingezogene Plattformen und besteht aus
Hunderten junger Platanen, die miteinan-
der »verschweißt« wurden und seither zu
einem einzigen Organismus zusammen-
wachsen.
»Experimentelle Bauwerke« nennt Lud-
wig solche bizarren Konstruktionen – und
so sehen sie auch aus. Doch Ludwig sieht
in seinen Baum-Häusern mehr als bloße
Kunstobjekte. Er verortet seine Arbeit an
der Schnittstelle zwischen Botanik, Land-
schaftsarchitektur und Stadtplanung.
Der Architekt ist überzeugt davon, dass
sich Beton und Baum zu Gebäuden for-
men lassen, in denen es sich tatsächlich
auch wohnen und arbeiten lässt.

Wie sich der Professor so etwas vorstellt,
haben er und Schönle in einem Wett be -
werbsentwurf für das »Haus der Zukunft«
in Berlin präsentiert. Sie verloren knapp:
Das »Futurium« genannte Museum,
das im September eröffnet wurde, ent-
stand doch wieder als ein glänzender Glas-
fassadenbau, an den Seiten bedeckt mit
8000 rautenförmigen Gussglaselementen.
Ludwigs und Schönles Projekt dagegen
hätte wahrhaft futuristisch ausgesehen,
grüner, organischer. In dem Entwurf der
Baubotaniker ragen mächtige Äste aus der
Fassade heraus, als wäre das Haus direkt
in ein Wäldchen gebaut. Zur Stadt hin soll-
te sich das Gebäude »als großer, künstlich
gebildeter Baum« präsentieren, erklärt
Ludwig. Sowohl der Außen- als auch der
Innenraum hätte von der »mikroklimati-
schen Wirkung der Baumstruktur« profi-
tiert.

* Konzeptzeichnung für das »Haus der Zukunft« in
Berlin.

»Wir wollten ein Haus bauen, von dem
wir auch nicht genau wussten, wie es aus-
sehen würde«, sagt Ludwig – ein kontro-
verses Projekt für die Juroren des Archi-
tekturwettbewerbs: Städtebaulich entstehe
eine »wohltuende, grüne Lücke«, lobten
sie den Entwurf zwar und vergaben einen
dritten Preis an Schönle und Ludwig. Doch
eher wie ein »Baumhain«, ein »Nichthaus«
wirke das Gebäude, das zwar »Neugier«
auslöse, doch auch »insbesondere den Bau-
herrn und Betreiber unsicher zurücklässt«.
Tatsächlich ist schwer vorstellbar, dass
sich Baubehörden auf lebende Häuser ein-
lassen könnten. Was etwa, wenn das Wur-
zelwerk die Fundamente hochdrückt oder
plötzlich die Wohnzimmerscheibe birst,
weil die Platane in der Fassade in die fal-
sche Richtung wächst?
Ludwig weiß um die Unberechenbar-
keit des Grünzeugs. »Ein Haus ist für
die meisten Architekten erst
mal ein Objekt, das fertig
wird und an dem dann nichts
mehr getan werden muss«,
sagt er. »Wenn sich hinterher
noch etwas verändert, fürch-
ten die Bauherren Kontroll-
verlust und bekommen wei-
che Knie.«
Doch als Architekt sieht er
die Veränderung als Chance.
»Das Interessante ist ja gera-
de, sich auch bei Gebäuden
auf Wachstum einzulassen«,
sagt Ludwig – zumal seine
Ideen helfen könnten, einige
der drängendsten Probleme
moderner Stadtarchitektur
zu lösen. Denn mit dem Kli-
mawandel drohen gerade
Städte in vielen Weltregionen
zu quälerischen Hitzeinseln
zu werden, in denen Wasser und Kühle
fehlen.
Hinzu kommt, dass immer mehr
Menschen in den Ballungszentren auf klei-
nem Raum leben. Der Boden wird zuneh-
mend versiegelt, sodass Wasser entweder
gar nicht oder viel zu schnell abläuft. Im-
mer weniger Platz steht für Grünflächen
bereit.
Ein Fehler: Pflanzen sind lebende Kli-
maanlagen. Wer an einem heißen Som-
mertag durch einen Laubwald spaziert,
spürt den kühlenden Effekt.
»Stadtplaner fragen sich häufig, soll ich
an einem Ort Bäume pflanzen oder ein
Haus bauen?«, sagt Ludwig. »Wir sagen:
Es geht doch beides gleichzeitig.« Der Bau-
botaniker will Natur und Stadt nicht länger
gegeneinander ausspielen, sondern mit -
einander verbinden.
»Stellen Sie sich eine Straße aus bau -
botanischen Häusern vor«, sagt Ludwig,
»dann sind die Häuser ja auch die Bäume;
dann kann es selbst in einer dicht bebauten

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ENTWURF UND VISUALISIERUNG: LUDWIG.SCHÖNLE
Innenansicht eines Baum-Hauses*:»Wie im Park«
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