Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

G


ästen in seinem Göttinger Wohn-
haus zeigte er gern seine Sammlung
exotischer Kostbarkeiten, zusam-
mengetragen aus allen Winkeln der Erde.
Darunter befanden sich Fossilien, Teile
von Meteoriten, Mammutzähne oder die
Rasselstacheln eines Südafrikanischen Sta-
chelschweins. Prunkstücke der Kollektion
jedoch waren menschliche Schädel von al-
len Kontinenten, die der 1752 geborene
Forscher in extra gezimmerten Schränken
hortete.
Bis zu seinem Tod im Jahr 1840 häufte
der Anthropologe Johann Friedrich Blu-
menbach rund 240 solcher Totenköpfe an –


die damals weltweit umfangreichste be-
kannte Sammlung menschlicher Schädel.
Aufgrund seiner Studien glaubte Blu-
menbach, die Spezies Mensch in fünf un-
terschiedliche »Varietäten« einteilen zu
können; dazu zählten Europäer, Asiaten,
Afrikaner, Amerikaner und Australasiaten.
Besonders hob er dabei die von ihm defi-
nierte »Kaukasische Rasse« hervor. Die
Georgier bezeichnete er gar als »schönsten
Menschenstamme«.
Wegen solcher obskuren Ansichten ge-
riet Blumenbach bei späteren Forscher -
generationen unter Rassismusverdacht –
auch weil er einer der ersten Wissenschaft-

ler war, die eine Rassentheorie mittels mor-
phologischer Untersuchungen untermau-
erten, und weil er seine Schädelsammlung
als Beweis für seine Theorie heranzog.
Dennoch lässt sich der Göttinger Ge-
lehrte schwerlich mit dem Rassenwahn der
folgenden Jahrhunderte in Verbindung
bringen. Blumenbach bezog nicht nur klar
Stellung gegen die Sklaverei; er betonte
auch, dass sich die von ihm identifizierten
»Varietäten« allenfalls durch Äußerlich -
keiten unterschieden. Wie andere For scher
seiner Zeit auch suchte Blumenbach unter
anderem nach Belegen, die eine klare
Unter scheidung des Menschen vom Tier
ermöglichen sollten. Heute gilt sein Ruf
deshalb als untadelig.
Seine Sammlung befindet sich noch im-
mer im Besitz der Universität Göttingen,
wo sie sorgsam gehegt wird. Mit seinem
Sammelsurium exotischer Objekte steht
er in einer Reihe mit Pionieren wie Ale-
xander von Humboldt.
Jetzt aber hat eine Forscherin die Schat-
tenseiten des Schädelsammelns erkundet.
Die Historikerin Malin Sonja Wilckens
von der Universität Bielefeld ging dabei
einer naheliegenden Frage nach: »Wie ist
Blumenbach denn überhaupt an seine
Schädel gekommen?«
Durch Auswertung seiner umfänglichen
Korrespondenz hat Wilckens in den ver-
gangenen drei Jahren erstmals die Wege
rekonstruiert, auf denen die Fundstücke
in den Besitz des Gelehrten gelangten.
Demnach waren seine Zulieferer wenig
zimperlich; häufig plünderten Blumen-
bachs Boten bei Nacht und Nebel die Grä-
ber versteckt lebender Völker und Stäm-
me. »Es war oft ein kolonialer Übergriff«,
urteilt Wilckens.
Viele der Ausgräber waren sich offenbar
sogar darüber im Klaren, was sie anrichte-
ten. Einer von ihnen war beispielsweise
der Naturforscher Alexander von Hum-
boldt, der am 31. Mai 1800 mit einem Be-
gleiter in einer Höhle am Ufer des Orinoko
einen Begräbnisplatz der Atures-Indianer
aushob und darüber in seinem Reisetage-
buch berichtete: »Die Nacht brach ein, in-
dem wir noch unter den Knochen wühlten.
Die Mienen unserer indianischen Führer
sagten uns, dass wir diese Grabstätte ge-
nug entheiligt hätten und den Frevel end-
lich endigen sollten.«
Blumenbach hat derlei Schändungen of-
fenkundig skrupellos in Kauf genommen.
Der Beginn seiner aktiven Sammelwut
lässt sich auf den 24. September 1784
datieren, als er den holländischen Anato-
men Pieter Camper in einem Brief bat,
ihm den Schädel eines »Hottentotten« zu
beschaffen.
Immer wieder bedrängte er Kollegen
und ehemalige Schüler, ihm neue Fundstü-
cke für seine stetig wachsende Sammlung
zu liefern. Einer seiner treuesten Mitstrei-

118 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


Wissenschaft

»Nachts wühlten wir


unter den Knochen«


GeschichteVor gut 200 Jahren baute der Anthropologe Johann
Friedrich Blumenbach die damals bedeutendste Sammlung
menschlicher Schädel auf. Nur wie kam er an seine Fundstücke?

AKG-IMAGES / NATIONAL LIBRARY OF MEDICINE / SPL
Naturforscher Blumenbach (zeitgenössische Illustration, 1823): Obskure Ansichten
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