Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

ter war der englische Naturforscher Joseph
Banks – der dabei allerdings gelegentlich
in Erklärungsnot geriet.
»Es ist sehr schwierig, den Schädel eines
gelben Karribiers oder Ureinwohners auf-
zutreiben«, meldete der Brite am 15. Juli
1789 an seinen Auftraggeber. »Ihre Grab-
plätze«, klagte Banks, »sind nur schwer
zu finden und sie zu stören wird als das
größte Verbrechen angesehen.« Am Ende


gelangte Blumenbach über Banks doch
noch in den Besitz des Schädels eines lo-
kalen Anführers.
Zeitgenossen applaudierten, wenn wie-
der einmal eines der grausigen Liebhaber-
stücke seinen Weg nach Göttingen fand.
Der ebenfalls ortsansässige Physiker Georg
Christoph Lichtenberg etwa jubelte Blu-
menbach angesichts eines frisch eingetrof-
fenen australischen Schädels zu: »Und was
das schönste ist, jeder neue Kopf, der hinzu
kömt, giebt dem vorhergehenden einen
Werth, den er noch nicht hatte.«
Recht schnell, so hat Wilckens bei ihren
Recherchen herausgefunden, war Blumen-
bach derart gut vernetzt, dass kaum eine
größere europäische Expedition
ohne die Bestellung eines neuen To-
tenkopfes für die Göttinger Samm-
lung anlief. Auch der durch die Meu-
terei bekannte Dreimaster »Bounty«
sollte den Forscher mit neuem Ge-
bein aus dem Südpazifik versorgen.
Das Ende des berühmten Schiffes
beklagte Blumenbach (»Es war ein
Verlust für die Menschheit«) – nicht
ohne seine eigene Einbuße ausführ-
lich zu bejammern: »Es ist außer-
dem unglücklich für mein besonde-
res Interesse, werde ich dadurch
doch einiger wertvoller Neuzugänge
beraubt, mit welchen Sie meine
Sammlung bereichern wollten«,
schrieb er an seinen Förderer Banks.
Mitunter behinderten schlicht die
Zeitläufte das Anwachsen der Schä-
delsammlung. »Ich werde nicht all-
zu bald das Vergnügen haben, ihnen
Köpfe aus der Südsee zu schicken«,
meldete Lieferant Banks 1791 an
Blumenbach. Der Grund: »Die Vor-
bereitung für einen Krieg mit Spa-
nien bindet alle Schiffe, die sonst zu
Erkundungsfahrten auslaufen«, be-
richtete der Brite.
In der Regel erwartete Blumen-
bach aber wohl, dass sich seine Hel-
fer auch gegen widrige Umstände


durchsetzten. »Er hat alles in Kauf genom-
men, um seine einzigartige Sammlung auf-
zubauen«, konstatiert Historikerin Wil-
ckens. Die Quellen belegten, dass seine
Unterstützer häufig »mit großer Entschlos-
senheit vorgegangen« seien.
So schrieb der Arzt Georg Thomas von
Asch, der es bis zum Staatsrat am russi-
schen Zarenhof gebracht hatte, 1797 an
Blumenbach: »Es macht mir keine geringe
Freude, theuerster Gönner, Ihnen hiebey
eines Persischen Schädel zu übersenden,
den mein Freund aus einer Begräbniß Ca-
pelle am Flusse Kur nicht weit vom Dorfe
Rutbari erbeutet hatte, bey Gelegenheit
daß unsre Truppen selbige zerstörten.«
Der im fernen Asien umherreisende
Zeitgenosse Johannes Roesslein machte
sich im Dienste des Göttinger Professors
nicht minder skrupellos ans Werk: »Bey
meiner jetzigen sehr beschwerlichen aber
sehr unnützen Winterreise um die Gränze
hat es mir endlich geglückt, mein ergebens-
tes Versprechen zu erfüllen. Ich habe un-
vermuthet einen begrabenen und verlaße-
nen Tungusen gefunden dem ich den Kopf
mit eigenen Händen aus dem Schutt wo-
runter er begraben war abgenommen
habe, und den ich die Ehre habe Ihnen zu-
zusenden«, schrieb er 1794.
Auch der niederländische Gouverneur
der indischen Malabar-Küste, Johan Ge-
rard van Angelbeek, stellte seinen Dienst
bereitwillig in Blumenbachs Sache. Offen-
bar war der Kolonialbeamte sogar willens,

sich in Gefahr zu bringen, um »Ihrem
Verlangen nach Schädeln von Malabaren
und anderen achten Indianern genügen zu
leisten«.
Nach einer öffentlichen Hinrichtung ließ
Angelbeek die Leichname dreier Exeku-
tierter schänden, um Blumenbach »im
beygefügten Kästchen die Schädel eines
Malabaren und zweyer Malayen zuzu -
schiken«.
Woher nur rührte der Eifer von Blu-
menbachs Handlangern, die selbst fast
allesamt hochgestellte Persönlichkeiten
waren? Außer wissenschaftlichen Werken,
die damals freilich einen hohen Wert be-
saßen, habe der Gelehrte seinen Helfern
kaum eine materielle Vergütung angebo-
ten, berichtet Wilckens. Ihre Erklärung:
Offenbar habe alle Förderer der blumen-
bachschen Sammlung die Überzeugung
geeint, »an einem großen, einzigartigen
Projekt beteiligt zu sein«.
Aus diesem Grund musste Blumenbach,
der selbst kaum je weiter gereist ist als
bis nach London, offenbar nicht viel
Mühe darauf verwenden, Unterstützer zu
finden. Sie drängten sich ihm geradezu
auf. Einer von ihnen war der frisch beru-
fene Medizinprofessor Heinrich Maria
von Leveling aus Ingolstadt, der Blumen-
bachs Schädelbeschreibungen begeistert
gelesen hatte.
Als Anatom konnte Leveling einen
Nachschub an frischen Köpfen in Aussicht
stellen. Allerdings trieb ihn die Frage um,
wie hoch wohl die Transportkosten
für die heikle Fracht ausfallen wür-
den. Zudem interessierte ihn, »ob
Sie die Köpfe mit Haut, Fleich und
Knochen zu erhalten wünschten, ob
von allen weichen Theilen, was ich
mir eher vorstellen kann, ent-
blößt?« – und auch, »ob nicht allen-
falls die Ohren und Nasenknorpeln
daran gelassen seyn sollten«.
Am 22. Februar 1797 meldete Le-
veling schließlich Vollzug: »Da wir
hier auch eine Menge Französischer
Kriegsgefangene haben, so war ich
so frei einen derlei beizulegen; und
erfreue mich, wenn es Ihnen ange-
nehm seyn soll.«
Wenn auch vergleichsweise reise-
faul und mit Leichen im beruflichen
Alltag nicht befasst, bot sogar der
humorbegabte Physiker Lichten-
berg an, die Sammlung Blumenbach
mit einer exotischen Schädelvarian-
te zu bereichern.
»Àpropos können Sie meinen
Kopf brauchen?«, fragte er 1793
seinen Freund. »Ich bin ein Otten-
wälder, die am Rhein auf der Stu -
fenleiter der Civilisation mit den
Saxenhäußern rangiren.«
Frank Thadeusz

120 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


Wissenschaft

PROF. MICHAEL SCHULTZ
Blumenbach-Schädelsammlung in Göttingen
»Jeder neue Kopf giebt dem vorhergehenden einen Werth«

»Da wir hier Französi-
sche Kriegsgefangene
haben, so war ich so frei
einen derlei beizulegen.«
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