Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

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Kultur


Fernsehen

Queen für Deutschland


 Heidi Klum ist wieder auf der Suche. Statt eines Top -
models sucht sie nun eine Queen für Deutschland. Eine Drag-
queen. Zusammen mit dem Sänger Bill Kaulitz von Tokio
Hotel und dem Travestiekünstler Tom Neuwirth, der als
Conchita Wurst 2014 den Eurovision Song Contest gewann,
sitzt Klum in der Jury der neuen Castingshow »Queen of
Drags« auf ProSieben (ab 14. November, 20.15 Uhr). Die
Kostüme werden schrill sein und die Vermarktungsmöglich-
keiten so vielseitig wie die zehn Kandidaten, die gegen -

einander antreten. Klum freut sich auf »Gloss und Glitzer
und Haare und Haarspray«. Und wohl auch darauf, nun selbst
die queere Szene klumisch ausschlachten zu können. Das
preis gekrönte Vorbild aus den USA heißt »RuPaul’s Drag
Race«, seit mehr als zehn Jahren moderiert vom berühmten
Dragperformer RuPaul. Der Unterschied ist signifikant: Klum
ist ein heterosexuelles Mainstreammodel, eine Mo deratorin
und Produzentin, die bislang andere marktgängige Models
gecastet hat. In der queeren Szene stieß die Show daher schon
vor der Ausstrahlung auf heftige Kritik. Für die erste Folge hat
Klum sich immerhin Unterstützung eingeladen: Olivia Jones,
Deutschlands berühmteste Dragqueen, tritt als Gastjurorin
auf. Pinkwashing nennt sich das. RED

»Ich bin kunstdeutsch, so wie ein Japaner kunstjapanisch sein sollte.«‣S. 132

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019

Verbrechen


Ende der Normalität


 In der Nacht vom 17. auf den 18. Januar
2015 wurde Chanel Miller auf dem
Campus der Stanford University hinter
einem Müllcontainer vergewaltigt aufge-
funden. Ihr Fall wurde weltweit bekannt,
weil sie einen Brief schrieb, der sich direkt
an den überführten Vergewaltiger Brock
Turner richtete – ein erschütternder
Text, der auf BuzzFeed und später auch in
anderen Medien veröffentlicht wurde.
Nun hat Chanel Miller, die sich bislang
öffentlich mit dem Pseudonym Emily Doe
geschützt hatte, oft aber einfach als »das


Opfer« apostrophiert wurde, ein fast
500 Seiten starkes Buch geschrieben.
»Ich habe einen Namen« heißt es. Chanel
Miller schildert, was sich in jener Januar-
nacht 2015 aus ihrer Sicht zugetragen
hat – und was dies für ihr Leben in den
Stunden, Tagen, Wochen, Monaten, Jah-
ren danach bedeutet. Sie berichtet sehr
intim, sehr ehrlich sich selbst gegenüber.
Als Leser erfährt man, wie umfassend
die Zerstörung ist, die mit so einer Tat
einhergeht. Dass die nachfolgenden Unter-
suchungen eine Tortur bedeuten, hätte
man sich vorstellen können, auch dass
es einem Albtraum gleichkommt, in der
Gerichtsverhandlung dem Täter gegen-

überzusitzen, von dessen Anwalt mit Fra-
gen bedrängt zu werden. Doch Miller
zeigt, wie viel weiter die Kreise der Zer-
störung reichen. Der Schatten fällt über
ihre Beziehung, die gerade erst begonnen
hat. Jeder Mann, dem sie auf der Straße
begegnet, erscheint ihr wie ein Feind. Es
ist herausfordernd, das zu lesen und zu
wissen, dass Chanel Miller alles so erlebt
hat. Ihr Buch ist der Versuch, zu etwas
zurückzukehren, das bis Anfang Januar
2015 ihr normales Leben war. CLV

Chanel Miller: »Ich habe einen Namen«. Aus dem
Amerikanischen von Yasemin Dinçer, Hannes
Meyer und Corinna Rodewald. Ullstein; 480 Seiten;
20 Euro.

MARTIN EHLEBEN / PRO 7

Jones, Kaulitz, Klum, Neuwirth
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