Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1
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Kino


Zuckerschock


 Was für ein Jammer! Eifersüchtige Bli-
cke unterm Weihnachtsbaum und Män-
ner mit aufwendigen Föhnfrisuren gibt es
in »Last Christmas« nicht (Kinostart:



  1. November). Die Filmromanze, zu der
    Emma Thompson das Drehbuch verfasst
    hat, orientiert sich nicht am berühmten
    Video zum Wham-Song »Last Christ-
    mas«, sondern nur an dessen Text. Wie
    sehr sie das tut, bildet immerhin eine hüb-
    sche Überraschung. Der Rest ist so kal -
    kuliert wie ein Greatest-Hits-Album, das
    zur Adventszeit erscheint: »Game of
    Thrones«-Star Emilia Clarke und »Crazy
    Rich Asians«-Darsteller Henry Golding
    geben ein ansehnliches Pärchen vor
    ansehnlicher Londonkulisse ab, in der es


mächtig weihnachtet. Sie ist eine Verkäu-
ferin, die vormittags Rentierspieluhren an
den Touristen bringt und abends verge-
bens für Musicalrollen vorsingt. Meistens
landet sie dann im Bett einer Kneipen -
bekanntschaft, die sie wegen des misslun-
genen Castings tröstet – bis er auftaucht
und ihr durch sein Engagement im Ob -
dach losenheim und überhaupt grenzenlo-
se Großherzigkeit zeigt, welchen Sinn das
Leben noch haben kann. Ein wenig Bre-
xit-Lamento und ein kräftig überzogener
Auftritt von Emma Thompson als kroa -
tische Sorgenmutter von Clarke fungieren
als Magenbitter zum Süßkram der Story.
Aber wer Unwohlsein durch Zucker-
schock vermeiden will, für den gilt bei
diesem Film dasselbe wie bei Schmalz -
gebäck und gebrannten Mandeln: besser
gar nicht erst mit Naschen anfangen. HPI

Pop

Die Schönheit des


Scheiterns


 Zwei mächtige Stimmen Amerikas,
geeint in Tonfall, Gestus, Haltung:
Ende der Sechzigerjahre nahmen Bob
Dylan und Johnny Cash gemeinsam
ein paar Songs auf. Die
beiden Großmeister
ließen die Maske der
Coolness fallen, sie san-
gen Duett um Duett zum
stampfenden »Boom-Chi-
cka-Boom«-Rhythmus
von Cashs Band, sie
improvisierten Textzei-
len, sie verpassten gar
hier und da einen Ein-
satz. Damals reichte das
offenbar nicht für eine
Veröffentlichung. Dabei
sind die Aufnahmen
enorm faszinierend, wie
eine neue CD-Box zeigt,

die in Dylans »Bootleg Series« erscheint.
Titel: »Travelin’ Thru«. Die Box schlägt
musikalische Brücken zwischen Dylan,
dem jüdischen Hipster aus Hibbing
im äußersten Norden, und Cash, dem
Sohn einer Baptistenfamilie aus
Arkansas im Süden der USA. Beide
verehrten Elvis Presley, den König
des Rock ’n’ Roll, und Carl Perkins,
den Gott des Rocka -
billy. Beide begeister-
ten sich für die ein -
fachen Geschichten von
Verlust und Schicksal,
die stilprägend waren
für die Countrymusik
der alten Schule – für
den sogenannten Blues
des weißen Mannes.
Dylans und Cashs
Duette stecken voller
kleiner Fehler und
Blödeleien, aber eben
das macht sie aus. Sie
sind so schön, weil sie
nicht perfekt sind. RED

Elke SchmitterBesser weiß ich es nicht

»Ite«


An einem hellen Tag im Juli
dieses Jahres suchte eine
kleine Gruppe aus Nach-
barn, die sich auf der Straße
zu ihrer eigenen Überra-
schung zusammenfand, eine
Berliner Adresse, die es nicht
mehr gibt. Das Haus Nürnberger Stra-
ße 35/36 wurde im Krieg zerstört
und bei der neuen Bebauung die Num-
mer nicht mehr verwendet. Die einen
konsultierten Google Maps, andere
einen Stadtplan, die Teenager aus der
Gruppe liefen beide Straßenseiten auf
und ab und kamen atemlos mit der Mel-
dung zurück, die Zeremonie sei schon
im Gange, gleich da hinten, wo wir los-
gegangen waren.
Neun Personen umstanden in locke-
rem Kreis einen Mann, der mit klassi-
schem Handwerkermaterial einen Pflas-
terstein auslöste und einen kleinen
Betonquader mit Messingauflage in der
Lücke fixierte. Dann sprach ein Herr
mittleren Alters in englischer Sprache
über Ulrike und Leon Schwarzmann.
Ulrike, genannt »Ite«, war die Lieb-
lingsschwester seiner Urgroßmutter
gewesen und aus dem heutigen Polen
um die Jahrhundertwende nach Berlin
gekommen; ihr Mann Leon, geboren
in Konstantinopel, importierte Kaviar.
»Wie mein Vater sich erinnerte, war
manchmal das Geld in der Familie
knapp, aber es gab immer Kaviar zu
essen.« Ihr einziges Kind starb an
Meningitis.
Als sie den Deportationsbescheid
bekamen, nahmen sie sich das Leben.
Auf einem Familienfoto im Garten sind
sie zu sehen, der Mann in einem aufge-
krempelten weißen Hemd, die Frau in
einem langen Nachmittagskleid. Ulrike
Schwarzmanns Bruder war Soldat im
Ersten Weltkrieg gewesen, »sie fühlten
sich voll integriert und ziemlich patrio-
tisch. Sie hatten eine Tragödie in ihrem
Leben durch den Tod ihres Sohnes
erlebt, aber sie konnten sich nicht vor-
stellen, was für ein Schicksal auf sie
wartete«.
Der Initiator der Stolpersteine, Gun-
ter Demnig, hat auch diesen Stein
gesetzt; es war das dritte Mal, dass Mit-
glieder der Familie zu einem solchen
Anlass in Berlin zusammentrafen; sie
reisten aus Sydney, aus England und
Israel an. Die Nachricht vom Anschlag
in Halle erreichte die Australier,
als sie aus ihrer Synagoge kamen.

An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter und
Nils Minkmar im Wechsel.

EVERETT COLLECTION / BRIDGEMAN IMAGES
Dylan, Cash 1969

UNIVERSAL PICTURES
Golding, Clarke in »Last Christmas«
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