Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

U


nd was, wenn wir uns geirrt ha-
ben? Wir, die Sieger des Kalten
Krieges, die nichts anderes ken-
nen, als in Freiheit, Wohlstand
und Demokratie zu leben. Die glauben,
auf der richtigen Seite der Geschichte zu
stehen und dass der Weltengang nur eine
Richtung kennt. Die nun staunend auf
Trump und Putin schauen, auf Orbán,


Kaczyński und Erdoğan und sich vor allem
auf deren Pathologien und Irrationalitäten
konzentrieren. Und die hoffen, dass der
Illiberalismus nur ein Irrtum ist, ein Rück-
fall vielleicht in alte Zeiten, aber bald
schon wird alles wieder gut.
Ihr irrt euch. Und ahnt es nicht einmal.
Das ist der Blick, mit dem der Philosoph
und Politologe Ivan Krastev die Welt be-

trachtet. Der Westen? Tot. Die USA? Ha-
ben die Rolle als Vorreiter des liberalen
Universalismus aufgegeben. Europa? Kei-
ne Missionare mehr für eine bessere Welt,
sondern ein Kloster, das die Mauern hoch-
gezogen hat und aufpassen muss, dass im
Inneren nicht alles verrottet und sich die
Bewohner nicht gegenseitig die Köpfe ein-
schlagen.

124 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


Demonstrant mit Captain-America-Schutzschild in Hongkong 2014: »Tragischer Optimismus«

Amerikas


Geschlechtsumwandlung


ZeitgeistDie USA wollen keine Weltpolizei mehr sein und auch


keine Fackelträger der Freiheit. Der Westen, sagt der Philosoph Ivan Krastev,
sei tot. Wir wüssten es nur noch nicht. Von Lothar Gorris
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