Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1
begreifen, was los ist, und kommen zu dem
Ergebnis, dass der Aufstand gegen den
liberalen Universalismus trotz aller Ver-
rücktheiten seiner Anführer durchaus
seine Logik hat. Und dass wir das verste-
hen müssen, um in einer neuen Welt zu-
rechtzukommen, die nach anderen Prin -
zipien funktioniert, als wir es dachten.
Denn das, was sich gerade vollzieht, sei
mehr als nur eine Rückkehr angeblich
überkommener Phänomene und Ideen,
sondern etwas grundsätzlich Neues, dem
man nicht gerecht werde, wenn wir die
alten Maßstäbe anlegten.

Ivan Krastev erinnert sich nichtmehr
genau daran, was er machte und wo er war
am Abend des 9. November 1989. Die
Tage, Wochen und Monate des Umbruchs
verschwimmen. Zu viel geschah. Er weiß
noch, so erzählte er es kürzlich dem öster-
reichischen Magazin »Profil«, dass er am
Abend danach im Restaurant der Univer-
sität von Sofia saß, zusammen mit Freun-
den. Sie diskutierten mit dem Dissidenten
und Philosophen Schelju Schelew über
Bulgariens Staatschef und KP-General -
sekretär Todor Schiwkow, der am selben
Tag zurückgetreten war. Es wurde getrun-
ken, was sonst, wenn Unfassbares ge-
schieht, und irgendwann wagte Schelew,
der damals 54 war, die Prognose, dass die
jungen Leute eines Tages das Ende des
Kommunismus erleben würden. Es sollte
kein Jahr mehr dauern, und der ehemalige
Dissident selbst wurde Bulgariens neuer
Präsident.
Krastev war da 24 Jahre alt und im letz-
ten Semester seines Philosophiestudiums.
Er hat erlebt, wie eine Welt, wie ein Staat
zusammenbrechen kann, ganz schnell und
unvermutet. Eine Welt, die dysfunktional
war und korrupt, aber in der man es sich
trotzdem hatte einrichten müssen. Plötz-
lich galt nichts mehr, was gestern galt. Was
schon damit anfing, dass man sich überle-
gen musste, wie man einander anredet.
Als Genosse? Auf keinen Fall. Aber was
stattdessen? Bürger? Herr? Doktor?
Das alles, sagt Krastev,
habe ihn geprägt: wie
rasch sich die Dinge än-
dern, wie fragil alles Poli-
tische sei, wie schnell Men-
schen ihre Meinung än-
dern, wie oft etwas, das
gestern undenkbar war,
plötzlich allgemeingültig
ist. Die Erfahrung des
totalen Zusammenbruchs
hat er Kindern des Wes-
tens und der Nachkriegs-
zeit voraus. Was ein Vor-
teil sein kann. Nur der
Außenseiter hat Abstand
genug, um Dinge anders
zu sehen als die anderen.

Krastev ging, kaum war der Kalte Krieg
Vergangenheit, nach Oxford, Sir Ralf Dah-
rendorf war dort sein Mentor. Es war eine
Reise in eine Welt, die er aus Büchern
kannte und deren Sprache er sprach. Aber
es war alles anders als in den Büchern. Er
hatte vorher nie mit einem englischen Mut-
tersprachler geredet und anfänglich keine
Ahnung, was zum Teufel die Leute wirk-
lich meinten, weil er Intonationen und An-
spielungen nicht begriff. Aber er hatte, das
sagt er bei einem Treffen während der
Frankfurter Buchmesse, »das Gefühl, Din-
ge zu wissen, die andere nicht wissen«.
Nach drei Jahren bekam er das Angebot
von Präsident Schelew, dem ehemaligen
Dissidenten, in Sofia als außenpolitischer
Berater für die Regierung zu arbeiten. Er
sprach mit seinem Vater, der wie so viele
seiner Generation als Bauernkind vom
Dorf an die Universität gekommen war
und eine klassische kommunistische Kar-
riere gemacht hatte – als Chefredakteur
einer Jugendzeitung. Nach 1989 wurde er
nie mehr politisch aktiv, weil er das Gefühl
hatte: Wir hatten unsere Chance, wir ha-
ben es vermasselt. Der Vater also fragte
den Sohn: Kannst du Auto fahren? Nein,
du weißt, dass ich das nicht kann. Ich habe
keinen Führerschein. Und dann sagte der
Vater: Aber wieso glaubst du denn, dass
du einen Staat führen kannst?
Krastevs Englisch ist perfekt und schnell,
man muss sich etwas einhören, aber es hat
diesen angenehmen slawischen Klang. Er
ist einer dieser Philosophen, die auch Ge-
schichtenerzähler sind; seine Pointen, Wit-
ze, Anekdoten sind Wegweiser, während
er von einem Gedanken zum nächsten
wandert und oft auch springt. »Paradoxer-
weise«, das sagt er oft und gern. Oder auch:
»Listen, this is an interesting story.«
Damit keine Missverständnisse aufkom-
men: Krastev ist ein Kind des modernen
Liberalismus und ein Sieger des Kalten
Krieges. Er lebt in Sofia und Wien, ist dort
Fellow am renommierten Institut für die
Wissenschaften vom Menschen, das Geis-
teswissenschaftler aus Ost und West zu-
sammenbringen will. Ein
Denker, der seine Projekte
mit Geldern westlicher Stif-
tungen finanziert, George
Soros, Bosch, Mercator.
Krastev sagt, dass man
moralisch im Recht sei, das
abzulehnen, wofür Orbán
und Kaczyński, Erdoğan
und Trump stehen. Und
dass er nicht in Gesellschaf-
ten wie der Ungarns oder
der Türkei leben möchte.
»Ich glaube auch, dass alle
diese Leute verrückt sind.
Aber der Blick auf die Per-
sönlichkeit dieser Politiker
verhindert, dass wir die

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Kultur

GUILLAUME PAYEN / NURPHOTO / REX / ACTION PRESS

MARKUS TEDESKINO / AGENTUR FOCUS
Autor Krastev
Ein Kind des Liberalismus

Ivan Krastev ist Bulgare. 1965 in Luko-
vit geboren, einer Kleinstadt im Norden
des Landes, irgendwo zwischen Sofia und
der Donau. Seine Großeltern waren Bau-
ern. Es gibt Leute, die halten Krastev für
einen der größten Denker dieses Konti-
nents. Dass er einer größeren Öffentlich-
keit kaum bekannt ist, könnte mit seiner
Herkunft aus dem Osten Europas zu tun
haben. Oder auch damit, dass er als
Außenseiter einen anderen, fremden
Blick auf die Welt hat. Zusammen mit dem
New Yorker Rechtsphilosophen Stephen
Holmes hat er gerade ein Buch veröffent-
licht mit dem Titel »Das Licht, das erlosch.
Eine Abrechnung«*. Und was für eine.
Es ist eine Erzählung der Welt der ver-
gangenen 30 Jahre aus der Perspektive der
anderen. Aus der Perspektive der Bösewich-
te und jener, die sie gewählt haben und un-
terstützen. Krastev und Holmes wollen


  • Ivan Krastev, Stephen Holmes: »Das Licht, das
    erlosch«. Aus dem Englischen von Karin Schuler.
    Ullstein; 368 Seiten; 26 Euro.

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