Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

Phänomene betrachten, durch die sie an
die Macht kamen. Wenn etwas geschieht,
was wir nicht erwarten, neigen wir dazu,
das nur als Abweichung von der Normali-
tät zu begreifen. Aber wir müssen versu-
chen, sie zu verstehen, weil es diesmal
mehr ist als eine Abweichung. Und das
vergessen wir.«
Das Buch beginnt mit einer Anekdote,
die der damalige Obama-Berater Ben
Rhodes über seine Zeit im Weißen Haus
erzählt hat. Sie spielt im November 2016,
Trump ist gewählt und Obama auf seiner
letzten Auslandsreise. Im Auto auf dem
Weg zum Flughafen in Lima berichtet der
Präsident von einem Kommentar in der
»New York Times«, der den Demokraten
vorwirft, dass sie mit ihrem hohlen, kos-
mopolitischen Globalismus die Leute nicht
mehr erreichten.
Der Präsident ist melancholisch ge-
stimmt, zweifelnd, die letzte Reise, die letz-
ten Tage, keine Ahnung, was nun werden
soll mit diesem Land. Er fragt: »Und was,
wenn wir uns geirrt haben?«


Die eigentliche These von Krastev und
Holmes klingt erst mal etwas steil und
schräg. Es ist ein Spiel, ein politisches Glas-
perlenspiel, ohne Anspruch auf Vollstän-
digkeit und, wie sie selbst zugeben, nicht
gänzlich durch Empirie belegt. Die These
lautet: Die Ursprünge der weltweiten anti -
liberalen Revolte liegen darin, dass nach
1989 das Zeitalter der Nachahmung, der
Imitation begann. Der westliche Liberalis-
mus hatte den Kommunismus besiegt und
war, so schien es, alternativlos geworden.
Und die, die besiegt wurden, wollten und
sollten nun das kopieren, was der Westen
ihnen vorgemacht hat.
Diese Idee der Nachahmung beruft sich
auf den französischen Philosophen René
Girard. Wer nachahmt, will haben, was der
andere besitzt, weil er seine Wünsche und
Sehnsüchte befriedigen will. Gleichzeitig
beginnt er, an sich selbst zu zweifeln, seine
Selbstachtung leidet genauso wie seine
Selbstverwirklichung. Er ist ja nicht das Ori-
ginal, sondern nur die Kopie. Nach ahmung
produziert also auch Rivalität, Feindselig-
keit und Bedrohung. Je mehr Vertrauen die
Nachahmer in das Vorbild haben, desto
weniger Vertrauen haben sie in sich selbst.
Aus Nachahmung entsteht Verbitterung.
Zuerst untersuchen die beiden Autoren
den Fall osteuropäischer Staaten wie Un-
garn und Polen. In beiden Ländern gab es
eine liberale Elite, die die westlichen Vor-
bilder nachahmte, wirtschaftlich und poli-
tisch. Beide Staaten wurden Mitglied der
Europäischen Union und unterwarfen sich
den Bedingungen, die man ihnen stellte.
Weil dies der schnellste Weg zu Freiheit
und Wohlstand zu sein schien.
Das allerdings führte zu der Erkenntnis,
dass man zwar in der Auseinandersetzung

mit der Sowjetunion seine eigene nationa-
le Unabhängigkeit erreicht hatte, diese
aber sofort wieder abgab an die EU, eine
supranationale Organisation, die nicht nur
eingriff in die Politik dieser Länder, son-
dern wie ein übergeordneter Richter den
Fortschritt der Verwestlichung bewertete.
Wer von Fremden beurteilt wird, ob er al-
les gut und richtig macht, hat keine gute
Laune und fragt sich, ob diejenigen, die
über ihnen urteilen, wirklich besser sind,
ehrlicher, liberaler, freier, oder sich viel-
leicht doch verhalten wie Besatzer. Der
Sowjetkommunismus war alternativlos,
nun hatte man den Eindruck, dass der
westliche Liberalismus genauso alternativ-
los war. Und das erzeugt Trotz. Zumal
viele aus den Eliten der osteuropäischen
Länder die neue Freiheit dazu nutzten,
ihre Heimat zu verlassen.
Die zweite Station des Buches ist Russ-
land. Russland, schreiben Holmes und Kras-
tev, sei ein Beispiel für die Nach ahmung
durch Simulation. Quasi über Nacht war
aus einer Supermacht ein Problemfall ge-
worden, der Unterstützung brauchte und
Dankbarkeit heucheln musste.
Die Sowjetunion ist einfach nur kolla-
biert, keine fremden Truppen in Moskau,

kein Angriff, nichts, und trotz Partei, Mili-
tär und nuklearen Arsenals war plötzlich
alles aus. Es fühlte sich an wie ein geheim-
nisvoller Coup. Das Ende der Sowjetunion
ist für viele bis heute noch ein Mysterium,
hinter dem dunkle Mächte stehen müssen.
Was erklären könnte, warum man in Mos-
kau zu Verschwörungstheorien greift, um
sich einen Reim zu machen auf den Lauf
der Welt.
Die erste Reaktion damals auf den Sieg
des Liberalismus: Russland tat so, als ob
es von nun an das gleiche Spiel spiele. Man
errichtete eine potemkinsche Fassade, die
aussah wie Demokratie, um in der schwie-
rigen Übergangszeit den Druck zu vermin-
dern, mit dem der Westen politische Re-
formen forderte, die eine Gefahr gewesen
wären für die durch und durch korrupte
Privatisierung der Gesellschaft.
Aber seit Ende der Nullerjahre gesche-
hen erstaunliche Dinge: der Einmarsch in
Georgien, die Besetzung der Krim, die
Giftanschläge, die Intervention in Syrien.
Russland schien sich zu benehmen, als
wäre ein neuer Kalter Krieg ausgebrochen.
Krastev und Holmes aber deuten das
als Wechsel der Nachahmungsstrategie:
Statt ein idealisiertes Bild des Westens zu

simulieren, habe man beschlossen, den
amerikanischen Hegemon mit den eige-
nen Waffen zu schlagen, ihm die Maske
vom Gesicht zu reißen, indem man dessen
zweifelhaftes, niederträchtiges außen -
politisches Gebaren kopierte. Es sei, sagen
Holmes und Krastev, eine Art Rache
für alles. Strategisch nicht immer sinnvoll
und erfolgreich, durchaus auch sich selbst
schadend.
Auch die Einmischung Russlands in die
amerikanischen Präsidentschaftswahlen
2016 erklären sich die Autoren als »höh-
nisch-ironisches Spiegeln« amerikanischer
und westlicher Verhaltensweisen. Es sei
nicht darum gegangen, einen russland-
freundlichen Kandidaten ins Weiße Haus
zu bringen, sondern darum, den Amerika-
nern zu zeigen, wie sich ausländische Ein-
mischung anfühlt. Und auch: dass ein ar-
rogantens demokratisches Regime zer-
brechlich ist und verwundbar. Ein Versuch
der Demütigung.
Die Verbitterung über die Amerikani-
sierung und Verwestlichung der Welt ist
ein starkes Motiv für den Illiberalismus
Polens und Ungarns sowie für die erratisch
wirkende russische Angriffslust. Warum
aber, fragen Krastev und Holmes, ist aus-
gerechnet Amerika, der Hegemon des
Westens, das allseits kopierte Vorbild, nun
selbst dem Illiberalismus verfallen?
Amerika, wenn es nach Donald Trump
geht, soll kein Vorbild mehr sein. Es täte
gut daran, Orbáns Ungarn und Putins
Russland nachzuahmen. Und sich von sei-
nen westlichen Bündnispartnern zu lösen.
Folgt man Holmes und Krastev, fühlt
sich Amerika, das Vorbild der Nachah-
mung, selbst als das größte Opfer dieser
Nachahmung. Die Nachahmer seien zur
Bedrohung geworden, weil sie das Vorbild
ersetzen, verdrängen, zerstören wollten.
America first meint nicht, dass Amerika
seine alte Führungsstärke wiedergewinnen
will. America first heißt: Wir kümmern
uns jetzt nur noch um uns selbst. Weil wir
ausgenutzt und betrogen werden. Macht,
was ihr wollt, und die Zölle erhöhen wir
sowieso.
Eine These, die ein paar Dinge erklären
würde. Den Handelskrieg mit China bei-
spielsweise. Aber auch das geradezu ob-
sessiv angespannte Verhältnis Trumps zu
Deutschland, das aus der Sicht des Trump-
Amerika eine Erfindung Amerikas ist. Da
hat man ein Land aufgepäppelt, und das
Ergebnis? Deutschland heute ist als Ex-
portnation einer der größten Konkurren-
ten der USA, obwohl es so viel kleiner ist.
Und dann noch diese verdammten Autos.
Deutschland, sagen Holmes und Kras-
tev, sei das Land, das besonders an die
Idee vom Ende der Geschichte geglaubt
habe. Für die Deutschen sei es sogar mehr
als nur eine Idee, sondern Realität. Weil
das Ende des Kalten Krieges und die Wie-

126 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019

Kultur

America first heißt: Wir
kümmern uns nur noch
um uns selbst. Macht ihr
doch, was ihr wollt!
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