Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1
dervereinigung ihnen die Last der Ver-
gangenheit von den Schultern nahmen.
Die deutsche Lehre aus der Geschichte:
Wir haben fürchterliche Dinge getan,
aber uns toll entwickelt, alles wird gut.
Trump hasst den Universalismus und Mo-
ralismus und die Selbstgerechtigkeit der
Deutschen, die immer so perfekt sein wol-
len. Er hasst ihn genauso, wie ihn manche
Osteuropäer ablehnen. Sich um die Men-
schenrechte anderer kümmern, die so
weit weg sind? Alles nur Lügen und Heu-
chelei und auch naiv.
Trumps Botschaft an seine Wähler: Die
Europäer betrügen euch, wenn sie sagen,
ihr seid Gewinner, denn in Wahrheit seid
ihr Verlierer. Anders als Europa glaubt
Trump nicht an die Idee vom Win-win. Es
gibt immer nur Gewinner und Verlierer.
Und Amerikas Naivität hat das Land ver-

wundbar gemacht. Nun kehrt Amerika
dem Ganzen den Rücken zu. Es ist vorbei.
Trump habe, sagt Krastev, das Land einer
Geschlechtsumwandlung unterzogen, eine
neue Identität erschaffen.
Wenn der Anführer des liberalen Uni-
versalismus nichts mehr hält vom liberalen
Universalismus, geht die Epoche der Nach-
ahmung und der westlichen Hegemonie
zu Ende. Nicht der Liberalismus ist tot,
aber der liberale Universalismus. Der Wes-
ten ist kein Vorbild der Nachahmung mehr.
Es geht auch anders.
Ob ein Zurück möglich ist? Schon Oba-
ma hatte sich abgewendet von der Idee
des amerikanischen Exzeptionalismus.
Der Irakkrieg 2003 war der entscheidende
Wendepunkt: Der Angriff auf ein Land
mit gefälschten Argumenten, dann Guan-
tanamo und Abu Ghuraib, die moralische

Basis für den amerikanischen Exzeptiona-
lismus war zerstört. Möglicherweise war
die rote Linie, mit der Obama Syrien droh-
te, die letzte Chance. »Ein Hegemon
aber«, sagt Krastev in Frankfurt, »ist kein
Hegemon mehr, wenn er Dinge androht,
sie aber nicht ausführt.«
Gut möglich, dass auch ein neuer demo-
kratischer Präsident niemals mehr Ameri-
ka zum Weltpolizisten und Freiheitsfackel-
träger machen will.
Amerika im Rückzug, Europa im Klos-
ter. Eine neue Welt entsteht, sie wird
anders sein als die bipolare Phase des Kal-
ten Krieges, anders auch als die Welt, die
der Westen danach dominierte. Die neue
Welt wird divers sein, unübersichtlich, es
wird ein Wettkampf sein um Märkte und
Ressourcen. Aber kein Kampf der Ideo -
logien. Jeder gegen jeden. Es wird kom-
pliziert.
Was aber heißt es, wenn in Hongkong
die Demonstranten auch heute noch ame-
rikanische Flaggen tragen? Ein Relikt, sagt
Krastev, des alten Universalismus, als wür-
den sie noch in einer anderen Zeit leben.
Niemals würde Trump ihnen zu Hilfe kom-
men. »Tragischer Optimismus« nennt das
Krastev. Der Konflikt mit China sei ein an-
derer, Handelskrieg, Zölle und vor allem
die Frage, wer die Hoheit behalte über die
Informationstechnologie. Eine neue Ber-
liner Mauer wird es nicht geben, aber viel-
leicht eine Firewall, die die chinesische und
die amerikanische Digitalsphäre trennt, in
der die Technologie die Rolle der Ideologie
übernimmt. Auch das kann schwierig wer-
den, wenn Amerika von anderen fordert:
Ihr müsst euch entscheiden – entweder
Huawei oder Apple.
Und Europa? Plötzlich spricht Ivan
Krastev, der Philosoph aus Bulgarien, von
der deutschen EU-Kommissarin Ursula
von der Leyen und ihren Plänen, Europa
zum Vorreiter für Klimapolitik zu machen.
Ausgerechnet Ursula von der Leyen, wie
die Vorsteherin des Klosters, in das sich
Europa zurückgezogen hat.
Es sei, sagt Krastev, eine gute Idee, Kli-
mapolitik zum neuen Universalismus zu
erklären. Europa gebe sich so selbst einen
neuen Sinn. Zwar werde die Erderwär-
mung einige Länder stärker treffen als an-
dere, aber die Folgen würden alle spüren.
Es gibt eine universale Notwendigkeit, et-
was zu tun. Der Klimawandel wäre ein
Grund, dass sich das liberale Europa aus
seinem Kloster hinaustraut und mit den il-
liberalen Mächten der Welt an den Tisch
setzt und verhandelt. Sonst wird sich der
Migrationsdruck auf Europa erhöhen. Die
Grenzen zu militarisieren, Migranten mit
Gewalt abzuwehren oder sie im Meer
ertrinken zu lassen, das wäre der totale
Widerspruch zur liberalen Idee Europas.
Es lebe der ökologische Universalismus.

127

JP BLACK / ZUMA PRESS / IMAGO IMAGES SERGEI ILNITSKY / NYT / REDUX / LAIF


Antiliberale Politiker Trump, Kaczyński, Putin
Mehr als nur eine Abweichung von der Normalität, sondern etwas Neues

PETE MAROVICH / NYT / REDUX / LAIF
Free download pdf