Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

A


m Ende seines Lebens blickt Frank
Sheeran auf die vielen Menschen
zurück, die er getötet hat. Der Pfar-
rer fragt ihn, ob er Reue empfinde. Shee-
ran schüttelt den Kopf. Er habe die Fami-
lien seiner Opfer ja nicht gekannt, meis-
tens jedenfalls nicht. Für Reue könne man
sich auch dann entscheiden, wenn man sie
nicht empfinde, erwidert der Pfarrer. Shee-
ran denkt nach: wirklich?
Der Mafiakiller Sheeran, der hier sie-
chend im Rollstuhl sitzt, wird von Robert
De Niro gespielt. Sheeran ist der Held
von Martin Scorseses neuem Film »The
Irishman«, ein braver Fußsoldat, der jeden
Drecksjob sauber erledigt.
Das dreieinhalb Stunden lange Epos
wurde vom Streamingdienst Netflix pro-
duziert und kommt nun kurz ins Kino, be-
vor es dann nur noch online zu sehen sein
wird. Für einige Szenen kehren der 76-jäh-
rige Regisseur und sein gleichaltriger Star
an die Stätte ihres ersten Triumphes zu-
rück: New Yorks Stadtteil Little Italy.
Hier begann die Karriere der beiden,
1973 mit dem Film »Mean Streets«, der
den deutschen Titel »Hexenkessel« trägt.
Er handelt von schäbigen kleinen Gangs-
tern, die sich durch ihr schäbiges kleines
Viertel quasselten, prügelten und schossen,
die versuchten, sich hochzubeißen in der
blutigen Nahrungskette der Mafia.
1990, in Scorseses und De Niros Meis-
terwerk »GoodFellas – Drei Jahrzehnte in
der Mafia«, brachten es die Kinogangster
mit ungeheurer Gewalt zu ungeheurem
Reichtum. Ein fiebriges Epos über Männer,
die mal im Geld baden und mal im Blut,
die Koks schaufeln, als wäre es Mehl.
Im Jahr 1995 dann »Casino« mit Sha-
ron Stone. Scorseses kriminelle Helden
waren nun in Las Vegas im Glücksspiel -
geschäft. Teure Anzüge, schöne Frauen,
Glamour statt Gosse. Doch gleich am
Anfang des Films flog der von De Niro
gespielte Held in seinem Auto in die
Luft – und überlebte nur mit knapper
Not.
Jetzt also »The Irishman«, ein elegischer
Epilog, ein letztes Hurra, das schon auf
den Lippen erstirbt. In der ersten Szene
bewegt sich die Kamera im Tempo eines


Rollators durch ein Pflegeheim und erfasst
am Ende den klapprigen Helden.
Das ist, wie vieles in »The Irishman«,
ein Zitat aus einem früheren Scorsese-
Film: In »GoodFellas« durchmaß der
Regisseur in einer ähnlichen Einstellung
einen Nachtklub. Sie wirkt wie eine Feier
der Lebenslust und des Triumphes, ein ge-
fürchteter Gangster zu sein.
In »The Irishman« muss sich der Mafia-
killer Sheeran seinen Sarg selbst aus -
suchen, weil seine Kinder nichts mehr
mit ihm zu tun haben wollen. Er sitzt in
seinem Rollstuhl und erzählt aus seinem
Leben, doch kaum jemand scheint ihm zu-
zuhören. Ein selten trostloser Gangster.
»The Irishman« basiert auf dem 2004
erschienenen Buch »I Heard You Paint
Houses«, das auf Berichten des irischstäm-
migen Mafioso Frank Sheeran beruht. Der
hatte unter anderem behauptet, den legen-

dären Gewerkschafter Jimmy Hoffa (im
Film: Al Pacino) ermordet zu haben.
Manches spricht dafür, dass Sheerans
Schilderungen großteils nicht der Wahr-
heit entsprechen, dass er sich selbst zu
einem Killer stilisierte, um seine Me-
moiren verkaufen zu können. Doch De
Niro war von dem Buch begeistert.
2008 kündigten er und Scorsese die Ver-
filmung an. Das Projekt war allerdings ex-
trem aufwendig und technisch kompliziert.
Weil viele Szenen in den Sechzigerjahren
spielen, als Sheeran in seinen Vierzigern
war, entschloss sich Scorsese, seinen Star
durch digitales Facelifting zu verjüngen.
Als 2016 einer der Investoren absprang,
stoppte das Studio Paramount das auf 100
Millionen Dollar budgetierte Projekt. Net-
flix sprang ein. Der Streamingdienst suchte
händeringend nach Stoffen und renom-
mierten Filmemachern. Bald darauf koste-
te »The Irishman« 150 Millionen. Niemand
weiß genau, wie viel Geld es am Ende war.
Es ist Scorseses teuerster, längster und
traurigster Film geworden. »The Irishman«
steht für das Ende einer Ära, die von Filme -
machern wie Scorsese und Francis Ford
Coppola geprägt wurde. Sie hatten Holly-
wood in den Sechziger- und Siebzigerjah-
ren verändert und fühlen sich dort heute
wie Randexistenzen.
Superheldenspektakel seien kein Kino,
sondern eher verfilmte Freizeitparks, taten
Scorsese und Coppola unlängst kund.
»The Irishman« ist Scorseses trotziger Ver-
such, allen zu zeigen, dass auch sein Name
eine Marke ist, die noch etwas zählt.
Er machte fast alles anders, als es heute
im Blockbusterkino üblich ist. Ruhe statt
Tempo, mäandernde Erzählweise statt
plotgetriebener Spannungsdramaturgie,
schmutzige Morde statt heroischer Action.
Es ist rührend und traurig zugleich, ei-
nen Film zu sehen, der oft wie eine Roh-

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NIKO TAVERNISE / NETFLIX
Darsteller Joe Pesci, De Niro in »The Irishman«: Trostlose Gangster

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»Casino«-Stars Stone, De Niro 1995
Aus der Gosse in die Glamourwelt

Alter, weiser


Mann


FilmeRegisseur Martin Scorsese
und sein Star Robert De
Niro haben »The Irishman«
gedreht – wohl das
letzte ihrer großen Mafia-Epen.
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