Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1
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s ist ein kleiner Schock für Amerika und ein großer Tri-
umph für die Sowjetunion, als der Kosmonaut Alexej
Leonow am 26. Juni 1969 als erster Mensch den Mond
betritt. Vor einer halben Milliarde Fernsehzuschauer weltweit
verkündet er, für »den marxistisch-leninistischen Way of
Life« ins All geflogen zu sein. Die westlichen Fernsehreporter
reagieren frustriert: »Nichts wird mehr so sein wie früher.«
Als ein paar Wochen später mit der »Apollo 11«-Mission
auch der US-amerikanische Astronaut Neil Armstrong auf
dem Mond landet, mag sein oberster Dienstherr Richard Ni-
xon ihm nicht gratulieren. »Der Präsident ruft nicht den Sil-
bermedaillengewinner an«, verkündet einer seiner Berater.
»For All Mankind« ist eines der Groß-
projekte, mit denen der Apple-Konzern
auf seiner Anfang November eröffneten
Streamingplattform Apple TV+ ein Mas-
senpublikum erreichen will. In den
zehn Folgen der ersten Staffel malen
sich die Schöpfer der Serie genüsslich
aus, wie sich der Berufsstand der Welt-
raumeroberer, aber auch die Welt -
geschichte entwickelt hätte, wenn die
Sowjetunion das Wettrennen im All ge-
wonnen hätte.
Man sieht seelisch zermürbten Astro-
nauten beim Trinken, beim Rauchen und
beim Absingen des Trauerlieds »What
Becomes of the Brokenhearted« zu. Und
man sieht starke Astronautinnen die Plät-
ze der Kerle im Nasa-Trainingscamp ein-
nehmen, wo die Schülerinnen sogleich
von einem Ausbilder angebrüllt werden:
»Arbeiten, nicht flirten!«
Wolkentürme aus Nikotinschwaden
und blitzblank polierte Wählscheiben -
telefone, riesige bunte Limonadengläser
und extrastraffe Kleider gehören zur Aus-
stattungspracht, mit der hier der Zauber
der Sechzigerjahre beschworen wird. Zu Songs von Janis
Joplin und den Rolling Stones brettern elegante Sportwagen
durch die amerikanische Provinz. In hölzernen TV-Kästen
flimmern Schwarz-Weiß-Bilder von demonstrierenden Hip-
pies. Rotbackige Kinder spielen mit Blechflugzeugen und
stürmen ihren Eltern entgegen, wenn diese vom Tagwerk
heimkehren. Nach dem Vorbild des Serienhits »Mad Man«
huldigt »For All Mankind« einer untergegangenen Welt, die
so grandios durchgestylt nie existiert hat.
»Das hier ist kein Ort für Gefühle«, lässt der Serienerfinder
Ronald D. Moore einmal einen seiner stramm soldati -
schen Weltraumforscher sagen, und natürlich will »For All
Mankind« das Gegenteil beweisen. Die Schauspielerin
Sarah Jones spielt eine ehemalige Pilotin, die jetzt mit
einem Astronauten (Michael Dorman) verheiratet ist,
grimmig seine Seitensprünge erduldet und zwei Mus -
terkinder großzieht – bis sie selbst als Astronautin rekru-
tiert wird. Am schlimmsten angefeindet wird sie dafür
nicht von ihrem Gatten, sondern von einer stolzen Haus-

frau, die wütet, das Astronautinnenprogramm gebe den
Knochenjob der Astronautenmänner »der Lächerlichkeit
preis«.
Unter den vier angeblich extrem teuer produzierten und
manisch beworbenen Projekten, mit denen der Apple-Kon-
zern ins Streaminggeschäft einsteigt, ist »For All Mankind«
noch das originellste. In vielen Momenten entsteht der Ein-
druck, dass die Autoren Spaß daran hatten, das erzamerika-
nische Genre der Weltraumheldensage auf den Kopf zu stel-
len. Im Vergleich dazu wirken die anderen Serien auf Apple
TV+ wie schon mal da gewesen: »The Morning Show« mit
Jennifer Aniston ist eine Satire aus einer Fernsehredaktion,
»See« ein Fantasy-Gruselmärchen und »Dickinson« eine un-
gelenk auf Zeitgeist getrimmte Huldigung der Dichterin Emily
Dickinson.
Immer wieder überrascht »For All Mankind« durch fiktive
weltpolitische Wendungen. So ist der demokratische US-Se-
nator Robert F. Kennedy hier nicht ermordet worden, son-
dern der wichtigste Gegenspieler des Republikaners Richard
Nixon. Die kommunistischen Machthaber in Moskau demü-
tigen die USA ein ums andere Mal, indem sie immer neue
Raketen zum Mond schicken.

Und sogar der Vietnamkrieg findet ein vorzeitiges Ende:
Weil der Mond oberste Priorität hat, lässt Präsident Nixon
seinen Außenminister Henry Kissinger gegen Ende des Jahres
1969 verkünden, man sei kurz vor dem Abschluss erfolgrei-
cher Friedensgespräche mit Nordvietnam.
Mitunter wirkt »For All Mankind«, als wollte die Serie etliche
Fehler der jüngeren US-amerikanischen Geschichte ungesche-
hen machen. So dürfen die Chefs der Nasa nicht nur ihre Frau-
enfeindlichkeit, sondern auch ihren lang geübten Rassismus kor-
rigieren, indem sie hier schon in den Sechzigern eine afroame-
rikanische Astronautin ins Trainingsprogramm aufnehmen.
Und, anders als in der Realität, bekennt sich die Nasa zur
Nazivergangenheit ihres Mitarbeiters, des deutschen Welt-
raumpioniers Wernher von Braun: Eine ganze Folge lang geht
es um seine Arbeit an Hitlers V2-Raketen und den von ihm
mitverantworteten tausendfachen Tod von Zwangsarbeitern.
Braun muss vor dem Kongress in Washington aussagen, und
Präsident Nixon befiehlt: »Ich will, dass dieser deutsche Mist-
kerl verschwindet.«Wolfgang Höbel

Die guten Verlierer


SerienkritikWas, wenn die Sowjets zuerst auf
dem Mond gelandet wären? »For All Mankind«
erzählt die Geschichte der Weltraumfahrt neu.

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


Kultur

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Szene aus »For All Mankind«: Eine Welt, die so nie existiert hat
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